Impfskepsis im Vereinigten Königreich
Beobachtungen und Überlegungen einer britischen Weltanschauungsbeauftragten
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Impfgegner im Zusammenhang mit der Pandemie sind Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – entschieden haben, das Impfangebot gegen Covid-19 nicht anzunehmen. Obwohl die Mehrheit der Briten sich hat impfen lassen, ist es nötig, sich anzuhören, was Impfgegner sagen, und von ihnen zu erfahren, wie eine Entscheidung für oder gegen die Impfung zustande kommt. Impfgegner werfen legitime Fragen auf in Bezug darauf, wie über öffentliche Gesundheit kommuniziert wird, zur die Rolle der Kirchen und des individuellen Glaubens, und sie sind eine Herausforderung eigentlich für all diejenigen von uns, die sich haben impfen lassen.
Die in diesen Artikel eingeflossenen Informationen über Impfgegner stammen aus den Tausenden von Zuschriften zum Thema „Spiritualität in Zeiten von Corona“, die mich seit Beginn der Pandemie über die sozialen Medien erreicht haben und die weiterhin eingehen. Zuletzt aber hatten sehr viele etwas mit Impfstoffen zu tun.
Aus all den verschiedenen Meldungen können wir schließen, dass Impfgegner keine einheitliche Gruppe darstellen. Sie haben vielfältige Hintergründe und unterschiedliche Überzeugungen, die wir begreifen müssen. Man kann das Feld in fünf Hauptthemen unterteilen: 1. Sorge um den Körper; 2. Verschwörungstheorien; 3. die Rolle religiöser Überzeugungen; 4. Wahlfreiheit; 5. Impfskepsis als eine sich entwickelnde Subkultur.
Sorge um den Körper – woher kommt sie, und ist sie berechtigt?
Damals, im März 2020, noch bevor es überhaupt einen Impfstoff gab, wurde die Bevölkerung zunächst von den Gesundheitsbehörden darüber informiert, dass ein gefährliches Virus kursiere, das sehr krankmachend oder gar tödlich sei. Der Kern der immer wiederholten Botschaft bestand also darin, dass man das Virus nicht in den Körper hineinlassen solle. So lange Hände waschen, bis man zweimal „Happy Birthday“ gesungen hat, Desinfektionsmittel benutzen, sich nicht ins Gesicht fassen, andere nicht berühren: So lauteten die Anweisungen. Wenn man das Virus in sich trage, könne man für andere gefährlich sein. So solle man sich nicht umarmen oder küssen, sich von gesundheitlich gefährdeten Menschen fernhalten und sich sofort und vollständig isolieren, wenn man sich angesteckt habe. Das war eine machtvolle Botschaft, die sich auf den Körper bezog, darauf, wie man versuchen sollte, seinen verletzlichen Körper zu schützen und dieses unbekannte Ding nicht einzulassen, weil man sterben könnte, auf schreckliche Art und Weise sterben. Geschichten in den Medien über Covid-Patienten, die im Krankenhaus um Atem rangen, verbreiteten Angst und Schrecken. Die Botschaft lautete: Halte das Virus draußen, koste es, was es wolle.
Infolgedessen gibt es Impfgegner, die diese ständig wiederholte Botschaft in Bezug auf den Körper nun auch auf den Impfstoff anwenden. Das Gefühl, dass man überhaupt nichts in den Körper einlassen solle, ist so übermächtig, dass man meint, es sei besser, den Impfstoff, der für die meisten medizinischen Laien Virus enthält oder irgendetwas mit dem Virus zu tun hat, ebenfalls nicht in den Körper zu lassen. Diese Angst ist sogar bei Menschen verbreitet, die gegen andere Krankheiten geimpft sind.
Ähnlich gelagert sind Menschen, die tiefe Ängste in Bezug auf die Sicherheit der Impfstoffe haben, vor Nebenwirkungen und vor unvermeidlicherweise noch unbekannten Langzeitfolgen. Das sind legitime Fragen, denn es ist sinnvoll, sich über jegliche Art vorbeugender Behandlung, der man sich unterzieht, kundig zu machen und zu wissen, was man davon zu erwarten hat. Eines der Probleme ist, dass viele nicht verstehen oder nicht wissen, wie die Sicherheit von Impfstoffen geprüft oder wie darüber publiziert wird. So stürzen sie sich auf die Formulierungen in den Versuchsdokumentationen, die immer auch die Risiken diskutieren. Bei keiner einzigen medizinischen Behandlung kann man jedes Risiko ausschließen, und das wird bei der Beschreibung einer jeden Behandlung berücksichtigt. Diese Praxis wird nun durch Wiederholung in den sozialen Medien aufgebauscht und mit dem Etikett „Was sie uns nicht sagen“ versehen. So verdichten sich für einige die Art und Weise, wie Risiken bewertet werden, und weitere Punkte – Geschwindigkeit der Entwicklung, Sorge um Auswirkungen auf Schwangerschaften, Berichte über Nebenwirkungen usw. – zu der Botschaft, dass hier etwas geheim gehalten werde bzw. dass sie (die Mediziner) etwas geheim halten. Es ist keine gleich starke Gegendarstellung im Umlauf, die besorgten und fragenden Menschen erklärt, wie Impfstoffe entwickelt und getestet, wie Risiken bewertet werden und wie man mit Nebenwirkungen umgehen kann, obwohl einige Social-Media-Plattformen ihre Nutzer ermutigen, auf Internetseiten zu gehen, wo sich solche Informationen finden.
Die Angst davor, was eine Impfung auslösen könnte, wird teilweise durch eigene Erfahrung gespeist. So muss man nach der Impfung eine Viertelstunde im Impfzentrum warten, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Das allein kann die Angst beflügeln – offenbar wissen „sie“, dass etwas passieren könnte. Andere, tief verwurzelte Ängste beziehen sich auf das eigentliche Impfverfahren, die Injektion des Impfstoffs in den Körper. Dabei handelt es sich – wenn man es so sehen will – um eine mit Zustimmung geschehende leichte Körperverletzung. Manche sorgen sich, dass mit der Spritze etwas in den Körper gebracht werden könnte, das die Menschen kontrolliert. Hier spielen Science-Fiction-Vorstellungen von Nanobots oder Mikrochips eine Rolle, die ohne das Wissen der Betroffenen im Körper zirkulieren, schlimmstenfalls mit dem Ziel zu verletzen oder gar zu töten. Verschwörungstheorien, bei denen es um Kontrolle geht, können sehr schnell Fahrt aufnehmen, weil es dabei um starke Ängste geht, die teilweise durch Science-Fiction- oder Fantasy-Literatur und -Filme noch verstärkt werden. Man denke z. B. nur an „The Matrix“. Wie sollen wir wissen, ob uns nicht tatsächlich irgendeine externe Macht ausmerzen oder Marionetten aus uns machen will, um ihre eigenen geheimen Ziele zu erreichen? Ein neuer Impfstoff im Zusammenhang einer Pandemie erscheint einigen als perfekter Deckmantel für solche Machenschaften, der bewirkt, dass wir unseren Körper ohne Murren darbieten.
So könnte eine Herausforderung für uns als Christen darin bestehen, darüber nachzudenken, wie wir unseren Körper sehen sollen – als etwas Wertvolles, von Gott Geschenktes, aber dem Risiko ausgesetzt, infizierbar und infektiös zu sein –, und welche Entscheidungen wir in Bezug auf Behandlungen treffen, denen wir uns unterwerfen, und darauf, wie wir für uns selbst und unsere Nachbarn sorgen. Impfgegner führen uns vor Augen, dass wir Klarheit im Nachdenken über eine Theologie des Leibes und klare Vorstellungen vom Gemeinwohl brauchen.
Verschwörungstheorien
Hinter der Entscheidung zahlreicher Impfgegner stehen angstmachende Verschwörungstheorien. Einige verweigern die Impfung, weil sie glauben, dass es gar kein Virus gibt: Viruslüge, chinesische Verschwörung oder „Plandemie“. Verschwörungsgläubige fürchten, Corona sei ein Fake, in die Welt gesetzt, um uns zu unterdrücken und uns Angst einzujagen, während eine nebulöse Geld- und Machtelite in die Wege leitet, was man den „Great Reset“ nennt – um die globalen Finanzmärkte und auch Regierungen und Bevölkerungen unter ihre Kontrolle zu bringen. Es wird argumentiert, dass Lockdowns, die uns zu Hause fest- und von der wirklichen Welt fernhalten, die Umsetzung der „Plandemie“ erheblich erleichtern. Solche Gedanken haben in der britischen Bevölkerung kürzlich explosionsartig zugenommen – nach dem Corona-Party-Skandal in der Downing Street, über den seit November 2021 fortwährend berichtet wird. Einige Verschwörungstheoretiker und Impfgegner sehen darin den Beweis für die Beteiligung der britischen Regierung an der „Plandemie“. Sie habe gewusst, dass die per Gesetz verordneten Regelungen Teil des ganzen Corona-Schwindels gewesen seien.
Viele Impfgegner, die solche Verschwörungstheorien plausibel finden, sind Menschen, die dringend nach Sinn suchen, und für viele hat das Ganze auch eine spirituelle Komponente – mein Körper ist heilig, Gottes Geschenk an mich, deshalb muss ich Entscheidungen, bei denen es um meinen Körper geht, sehr sorgfältig bedenken, denn ich bin geschaffen als Bild Gottes. Auffällig ist, dass viele Verfechter von Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Impfung als Mediziner ausgegeben werden, sich ihre Qualifikation aber auf Nachfrage hin durchaus als fragwürdig erweisen kann.
Eine neue Entwicklung ist, dass einige derjenigen, die glauben, das Virus sei ein Fake, jetzt auch glauben, dass die Invasion der Ukraine ebenfalls nicht wahr sei. Leute, für die das Virus zu schrecklich ist, um es als weltweite Gesundheitsgefahr ins Auge zu fassen, scheinen in der Lage zu sein, eine solche Informationsverweigerung auf andere gefährliche und verstörende Nachrichten zu übertragen.
Uns ist hier aufgegeben zu fragen, wie wir alle die Mächtigen wahrnehmen, wie wir uns ein gutes Regieren zum Besten aller vorstellen und wo der Argwohn gegenüber Wohlstand und Macht und die Erwartung von Größenwahn herkommen. Warum ist die Suche nach Sinn und Erklärungen so sehr von Sorge und Angst erfüllt? Wo finden wir diejenigen, die Erklärungen liefern (und auch beschreiben, was wir nicht wissen)? Wo ist die Stimme der christlichen Kirchen?
Religiöser Glaube
Allerdings treibt ein starker Glaube eine andere Art von Impfgegnern an. Schon früh in der Pandemie waren einige Angehörige ethnischer Minderheiten durch Berichte beunruhigt, dass Menschen ihrer ethnischen Zugehörigkeit überdurchschnittlich von Corona betroffen waren und im Krankenhaus häufiger starben als andere. In einigen ethnischen Gruppen führte das zu dem Gefühl, dass sie entweder in Bezug auf die Behandlung hinten runterfielen oder – schlimmer – bewusst ignoriert oder gar selektiv getötet würden. Ein rauer Ton beim Thema Einwanderung, der Brexit und die Wahrnehmung von Fremdenfeindlichkeit spielen hier ebenfalls hinein. So verbreitete sich in einigen dieser Gemeinschaften der Ratschlag, sich nicht an den staatlichen Gesundheitsdienst zu wenden und nicht ins Krankenhaus zu gehen, sondern sich nur auf das eigene vertrauenswürdiges Netzwerk zu verlassen und auf die Überlebenshilfe der eigenen Gruppe. Dazu kam, dass eine Reihe von Kirchen und andere religiöse Gruppen behaupteten, dass der Glaube und traditionelle Heilverfahren in einer Kirche oder einem anderen spirituellen Umfeld die beste Vorbeugung seien. Man solle sich auf nichts verlassen außer auf Gott, und wenn der Glaube stark genug sei, sei man geschützt. In einigen Fällen hatte dies wirklich tragische Folgen: Gemeindegruppen kamen weiter zusammen, und ihre Treffen wurden manchmal zu Superspreading-Events, mit Krankheit und Tod im Gefolge. Besonders bemerkenswert war ein Fall in Südkorea.2
Religiöser Glaube hat sich auch mit Verschwörungstheorien verknüpft, was wir bei QAnon fortwährend sehen sowie bei der Vorstellung, der frühere US-Präsident Trump sei ein Werkzeug Gottes, sei tatsächlich immer noch an der Macht und kämpfe gegen die Mächte Satans, die die Regierung übernommen hätten. Einige Impfgegner glauben, die Impfverweigerung sei eine Art Abzeichen, mit dem sie ihren Glauben zeigen: an Gott, an religiös-politische Führer und an Gottes Plan (oder Urteil) für die Welt. Wenn Corona eine Prüfung ist und die Gerechten gerettet werden, dann hat man die Wahl: menschlichem Rat zu folgen, dass die Impfung die beste Vorbeugung ist, oder der Herrschaft Gottes zu vertrauen, der über allem steht und der einen Plan für das Leben eines jeden Menschen hat. Impfskepsis kann ein Kennzeichen dieses Vertrauens und dieses Glaubens sein. Einige weisen darauf hin, dass sich auch Geimpfte mit Corona anstecken und einen schweren Verlauf haben oder sterben können. Das wird als Beweis gesehen, dass es besser sei, auf Gott zu vertrauen, der uns nie enttäusche.
Darüber hinaus gibt es Menschen – darunter vor allem jüngere –, die wirklich glauben, dass ihnen Krankheit nichts anhaben kann, dass sie jung, gesund und stark sind und dass Corona tatsächlich nur für vulnerable Gruppen, Kranke und Schwache gefährlich ist. Weil es nicht zu ihrem Selbstbild passt zuzugeben, dass sie verletzlich sind, erscheint es ihnen sinnlos, sich „nur für den Fall der Fälle“ impfen zu lassen, obwohl sie womöglich durchaus gegen die üblichen Kinderkrankheiten geimpft sind. Die Einführung von Altersgruppen bei der Impfreihenfolge, je nach dem Grad der Gefährdung, beginnend mit den Ältesten, am meisten Gefährdeten, hat diese Denkweise wohl noch verstärkt. Das britische Amt für Statistik hat eine Umfrage unter Jüngeren veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass einige auf ihre Jugend setzen, um eine „Wait-and-see“-Taktik zu verfolgen – besonders im Hinblick auf das Thema Fruchtbarkeit. Sie sagen also nicht „nie“, sondern nur „noch nicht“. Übrigens ergab dieselbe Umfrage, dass schwarze Befragte am ehesten Misstrauen zum Ausdruck brachten. Damit sind wir wieder bei dem, was oben über die bei einigen ethnischen Minderheiten verbreitete Besorgnis bezüglich ihrer medizinischen Behandlung gesagt wurde. Hier tauchen nun auch Begriffe wie „Entvölkerung“ und „Genozid“ aus Verschwörungstheorien auf.3
Dazu kommt, dass es jetzt neuere Studien gibt, die zeigen, dass von Covid-19 Genesene eine genauso hohe Immunität aufweisen wie mit derzeitigen Vakzinen Geimpfte.4 Das hat die Auffassung von Impfgegnern befeuert, dass es besser sei, die Infektion durchzumachen, als sich einer „unnötigen“ Impfung zu unterziehen.
Medienberichte über den ungeimpften Tennis-Superstar Novak Djokovic haben – ungeachtet seiner Beteuerung, er sei kein Impfgegner – einige in ihrer Entschlossenheit bestärkt. Wenn eine so in der Öffentlichkeit stehende Person, bei der man davon ausgeht, dass sie sich sehr um ihren Körper und ihre Fitness bemüht, diese Entscheidung getroffen hat, sogar um den Preis, Wettkämpfe zu verpassen, dann kann das das Gefühl unterstützen, die Entscheidung gegen die Impfung sei berechtigt und sinnvoll.
Die ganze Problematik stellt uns vor die Aufgabe, uns darüber klar zu werden, was wir über die Theodizee-Frage und über die Herrschaft Gottes denken sowie darüber, ob die Kirche in die Diskurse über das, was in der Welt geschieht, eingebunden sein und mit den Gesundheitsbehörden zusammenarbeiten sollte oder ob sie aufgerufen ist, eine gegenkulturelle Position einzunehmen und eine andere Denkweise über Krankheit, Gesundheit und die Widerstandkraft des Glaubens einzubringen. Darum ging es in Diskussionen um Kirchenschließungen (per Gesetz) während der Pandemie. Selbst Geistliche durften ihre eigenen Kirchen nicht betreten. Es gab unterschiedliche Meinungen dazu, was es heißt, für seinen Nachbarn zu sorgen, sodass niemand stirbt, und auf welches Verhalten im Alltag es hinausläuft, wenn man keine Angst vor dem Tod hat und in der Hoffnung auf die Ewigkeit lebt.
Freiheit und Protest
Es gibt auch eine Impfskepsis, die eher politisch motiviert ist: Von oben gesagt zu bekommen, was man zu tun und zu lassen habe – Selbstisolation, Lockdown, sich impfen lassen –, sei eine Form von Unterdrückung, gegen die man aktiv Widerstand leisten müsse. Hier handelt es sich um Protest aufgrund einer bestimmten Überzeugung vom Wert menschlicher Freiheit. Meldungen seitens der Regierung über Impfpflicht und Impf-„Ausweise“5 haben zur Steigerung vieler solcher Ängste beigetragen. An manchen Orten trugen Leute T-Shirts mit Aufschriften wie „unmaskiert“, „ohne Maulkorb“, „ungeimpft“ oder „ohne Angst“. All das spielt hier hinein, und in den Diskussionen geht es um all diese Bedenken in Bezug auf Vorschriften wie die Maskenpflicht im öffentlichen Raum oder bei Menschenansammlungen. Maskengegner argumentieren, Masken würden die Persönlichkeit verbergen, Lippenleser entrechten, die Kommunikation einschränken, Menschen gefügiger machen, einen Schäfchengehorsam fördern, sodass die Menschen mit geringerer Wahrscheinlichkeit gegen das Regierungshandeln protestierten. Diese Art von Impfgegnern sind entsprechend besorgt in Bezug auf die Impfpflicht für medizinisches Personal oder für Reisende und befürchten Nachteile für Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht impfen lassen wollen: dass ihnen z. B. eine lebensrettende medizinische Behandlung verweigert werden könnte oder sie ihren Job verlieren.
Impfskepsis ist somit nur der Katalysator, der das Thema Selbstbestimmung in Bezug auf Gesundheit, Wohlbefinden und den Umgang mit dem Körper in den Vordergrund gebracht hat. Der Entzug der Selbstbestimmung ist eine große Sache. Wenig hilfreich ist es, wenn gegen die Impfung gerichtete Posts von Social-Media-Plattformen entfernt werden – das wirkt auf Impfgegner wie ein bewusstes Unterdrücken der Meinungsfreiheit und ein Verhindern der legitimen Artikulation von Bedenken. Ein prominenter Impfgegner, der auch Lockdown-Gegner und Leugner des Klimawandels ist, erklärte, sich der Impfung zu unterwerfen sei dasselbe wie sich der Nazi-Herrschaft zu unterwerfen.
Über eine etwas bizarre Geschichte hat die BBC berichtet: Eine Gruppe „souveräner Bürger“ hat sich auf ein uraltes, nicht mehr gültiges Gesetz berufen, um Verordnungen anzufechten. Laut BBC haben die Impfgegner Fake-Dokumente hergestellt, diese vor Schulen und Krankenhäusern verteilt und sogar versucht, Patienten im Namen eines von ihnen selbst so bezeichneten „common law“ aus dem Krankenhaus zu holen, um sie zu retten. Die BBC berichtete außerdem, hierbei handle es sich nicht um irgendeine zufällig aufgegriffene Idee, das Ganze sei vielmehr durchorganisiert inklusive Trainings in „direkter Aktion“, um die Bevölkerung vor einem Impf-Genozid zu bewahren. Die Hauptgruppe, die sich „Alpha Men Assemble“ nennt, hat anscheinend eine eigene Sprache mit kriminologischen und juristischen Termini geschaffen, um Befugnisse und Rechte zu beanspruchen, die es gar nicht gibt – um zu protestieren, sich beim Thema öffentliche Gesundheit, Corona-Ratschläge einzumischen und das Impfprogramm zu stören. Als „souveräne Bürger“, wie sie sich selbst nennen, haben sie gefälschte „offizielle“ Schriftstücke erstellt und versuchen damit, medizinisches Personal am Impfen zu hindern.6
Was immer wir über so etwas denken: Hier stellen sich wichtige Fragen bezüglich Regierungsführung, Inanspruchnahme von Rechten und individueller Freiheit. Die Mehrheit der Briten fügte sich den Anweisungen, zu Hause zu bleiben, akzeptierte Beurlaubungen im Beruf, trug Masken, desinfizierte die Hände und Oberflächen und akzeptierte sogar leere Regale im Supermarkt sowie die Anweisung, sich von engen Angehörigen fernzuhalten, sogar wenn diese im Sterben lagen. Die Menschen taten das, obwohl es Härten und Schwierigkeiten im Beruf, in der Familie und im Wohnviertel mit sich brachte. Das war bemerkenswert angesichts einer hoch individualisierten, von Egoismus bestimmten Kultur. Warum also löste dann das Thema Impfen plötzlich neuerliche Probleme rund um die Themen Autonomie und Wahlfreiheit aus?
Die Impfgegner-Subkultur
Die vielleicht spannendste neue Entwicklung bei der Impfgegner-Thematik sind soziologische Anzeichen für die bewusste Bildung einer Impfverweigerer-Subkultur. Darin suchen Impfgegner Kontakt zu anderen Impfgegnern und pflegen nur mit ihnen Umgang.7 Daher gibt es Internet-Foren und geschlossene Gruppen in den sozialen Medien, die Dating-Gelegenheiten, Gruppentreffen, „sichere“ Restaurants oder Kindergruppen arrangieren, zu denen Geimpfte keinen Zugang haben. Was hier geschieht, speist sich teilweise aus einer Verschwörungstheorie, die besagt, dass Geimpfte tatsächlich gefährlich für andere seien, indem sie unbemerkt Impfstoffpartikel ausscheiden, die in andere eindringen und Menstruationsstörungen oder sogar Fehlgeburten verursachen. Geimpfte sind daher zu meiden, und nur Gleichgesinnte und deshalb sichere Personen sollten zum Freundes- und Bekanntenkreis zählen. Das ist eine spannende Entwicklung, denn die Frage ist, wie weit so etwas gehen kann – bis zur Errichtung einer tatsächlichen Gegenkultur oder einer sektenähnlichen Organisation, in der die gefährliche Außenwelt gemieden und man von dieser gereinigt werden muss? Die Herausforderung für solche Gemeinschaften gleichgesinnter Individuen besteht darin, eine zentrale Botschaft hervorzubringen, wie die Welt ist und wo ihr Platz darin ist, diese am Laufen zu halten, zu sichern und festzuschreiben.
Fazit
Auseinandersetzungen um Impfverweigerung können uns alle anregen, über wichtige Fragen nachzudenken und darüber, wie wir im Alltag mit anderen über das ganze Thema sprechen. Und vielleicht lassen sie uns entschlossener die beschützen, die am bedürftigsten sind, die Schwächsten, diejenigen, die in Armut leben und nur begrenzten Zugang zu Gesundheitsdiensten haben, deren soziale Situation (Pflege von Angehörigen, Arbeitsbelastung) es ihnen nahezu unmöglich macht, rauszukommen und das Impfangebot anzunehmen. Denjenigen von uns, die zum Ausdruck bringen möchten, dass Corona-Impfstoffe in der Pandemie ein unglaubliches Geschenk für die Bevölkerung sind, sei gesagt: Es ist von Bedeutung, wie wir die Gabe empfangen und wie wir über sie sprechen. Und für viele, viele Menschen ist diese Gabe – egal wie sie darüber denken – sowieso unerreichbar, und sie müssen auf andere Art und Weise damit umgehen, dass das Virus da ist.
Anne Richards, 13.05.2022
Anmerkungen
1 Anne Richards arbeitet für die Church of England. Ihr Artikel wurde von Ulrike Liebau aus dem Englischen übersetzt.
2 Vgl. The Centre for Evidence-Based Medicine: Transmission of COVID-19 in South Korea, 16.6.2020, www.cebm.net/study/covid-19-transmission-of-covid-19-in-south-korea (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 4.5.2022).
3 Vgl. Office for National Statistics: Coronavirus vaccine hesitancy in younger adults: June 2021,https://tinyurl.com/2mwxv6bc.
4 Vgl. Sheena Meredith: COVID-19: Why Are We Ignoring Infection-Acquired Immunity?, Medscape UK, 28.2.2022, https://tinyurl.com/ypthmejk.
5 In Britannien gelten Ausweisdokumente für den Gebrauch im Inland (I.D.) seit langem als Anzeichen einer unzulässigen, potenziell demokratiegefährdenden staatlichen Kontrollwut. Die öffentliche Diskussion darüber kocht alle paar Jahre hoch (Anm. der Red.).
6 Vgl. Alistair Coleman / Shayan Sardarizadeh: Anti-vax protests: „Sovereign citizens“ fight UK Covid vaccine rollout, BBC News, 18.1.2022, https://tinyurl.com/5akhn6z8.
7 Vgl. Christopher Giles / Marianna Spring: How anti-vaxxers are living and loving in a Covid world, BBC News, 13.8.2021, www.bbc.co.uk/news/blogs-trending-58146525.