Hinduismus

Indiens Mutter auf Umarmungstournee. Amma, ihre Devotees und Helfer und Jan Kounens Film „Darshan“

Seit etlichen Jahren besucht Mata Amritanandamayi Devi (Mutter der unsterblichen Seligkeit, Göttin), bekannt als Amma (Mama) auf ihren Welttourneen auch Deutschland. Die inzwischen 52-jährige Gründerin von MA Math, einer internationalen Hilfsorganisation, machte so vom 9. bis 11. Oktober 2005 in der Münchner Event-Arena und vom 13. bis 15. Oktober in der Mannheimer Maimarkthalle Station. Mehr als dreißig Amma-Satsang-Gruppen existieren in Deutschland, die es zu den Ritualen zieht. In München, wo an den Sonntagnachmittagen reihum an vier Orten Gruppen zusammenkommen, um lobpreisend „die tausend Namen der göttlichen Mutter“ zu rezitieren, über die Liebe zu meditieren und Bhajans (religiöse Lieder) zu singen, arbeitet ein besonders aktiver Kreis.

Amma stammt aus einem Fischerdorf im südindischen Bundesstaat Kerala. Mit 15 Jahren begann sie, Menschen unabhängig von Kaste, Religion, Rasse oder Geschlecht zu umarmen, um ihnen Trost und Nähe zu spenden. Eine ebenso schlichte wie wirksame Methode, die sie zur Hindu-Heiligen avancieren ließ. In Indien ist sie eine Frau von großem Einfluss. Ihr Wort hat Gewicht. Politiker, vor allem wohl Traditionalisten, suchen nicht nur in Wahlkampfzeiten ihre Nähe. Amma wird als Verkörperung von Gottes Liebe und Mitgefühl verehrt, als Inkarnation der großen Mutter oder Kalis, scheint aber persönlich bescheiden geblieben zu sein. Die Devi, deren Überzeugungen in einem volkstümlichen Hinduismus und im Bhakti-Yoga wurzeln, erklärt ihrerseits die Menschen zu Göttern: „Ich glaube nicht an einen Gott, der im Himmel hoch über den Wolken sitzt. Mein Gott sind die Leute hier“ (Frankfurter Allgemeine v. 17.10.2005, 11). Menschen zu umarmen ist bis heute Ammas Markenzeichen. Abgesehen von kurzen Ansprachen in ihrer Muttersprache Malayalam zu Beginn, besteht eine Amma-Veranstaltung darin, dass man sich eine Nummer zieht, Schlange steht oder kniet, bis man an der Reihe ist und sich von der Göttin, die nach Vanille duften soll, in die Arme nehmen lässt. Weltweit dürften inzwischen 20 bis 25 Millionen solcher Ritualumarmungen stattgefunden haben.

Wie ich in München beobachtete, herrschte bereits am Tag vor Ammas Darshan (Sehen und sich von einem Guru, einer Devi sehen lassen, Begegnung mit einer Mahatma, großen Seele) rege Betriebsamkeit. Mehrere Busse aus Italien trafen ein, ehrenamtliche Helfer bauten Info- und Devotionalienstände auf, beschilderten den Weg von der Arena zur nahen Olympiaschwimmhalle, die der Hygiene der vielen auswärtigen Gäste diente, welche in Nebenräumen der Arena übernachteten. Vielerlei Pfadfindertugenden sind hier gefragt, um jedem, der kommen möchte, den freien Eintritt zu ermöglichen. Von Sonntag bis Dienstag wimmelte es dann von Amma-Verehrern und Neugierigen deutscher und internationaler Herkunft, von Rentnern über Esoterik geschulte Damen bis zu Punkern. Dabei hatte – im Gegensatz zur aufdringlichen Sri-Chinmoy-Plakatierung (vgl. MD 11/2005) – kaum Werbung stattgefunden. Ammas Termine sind im Internet zu finden (www.amma.de; www.amma.com), vieles basiert auf Mundpropaganda. Aber auch die vier Zeremonien mit Weltfriedensgebet, die die Amma-Gemeinde während der BUGA 2005 am Ort der Weltreligionen durchführte, erhöhten den Bekanntheitsgrad der Gruppe als quasi offiziell für seriös erachtete Hinduisten.

In München treffe ich einen Bekannten, der im Verlagssektor tätig ist. Der Mittvierziger versäumt seit Jahren keinen deutschen Amma-Auftritt und bringt nun seinen Bruder und eine Kollegin mit. Er sagt: „Wenn sie mich umarmt, habe ich das Gefühl, dass sie mehr ist als ein Mensch.“ Eine Woche Urlaub ist es ihm wert, sich von der indischen Mutter ans Herz drücken zu lassen, er folgt ihr von München nach Mannheim. Früher konnte man das Glückserlebnis der Umarmung bei einer Veranstaltung wiederholen, nun wird gefragt, ob man schon bei der Mutter gewesen sei am selben Tag. Mehr als einmal pro Veranstaltung kann Amma ihre Gunst bei dem regen Andrang nicht gewähren. Selbst eine Devi, die 20 Stunden Darshans gewöhnt ist, hat physische Grenzen. Das sieht auch mein Bekannter ein und empfiehlt mir die Teilnahme, wenn Amma 2006 wiederkommt. – Für Ammas Devotees (Verehrer) scheint das Göttliche zum Greifen nah, sie erleben, wie sie einmal bedingungslos angenommen werden, fühlen sich geborgen und inspiriert. Dabei begreifen sich nicht alle Veranstaltungsbesucher als Hinduisten. Mein evangelisch getaufter Bekannter liest auch Bücher des Benediktiners Anselm Grün. Amma verlangt, ähnlich wie der Dalai Lama, keine Konversion: „Es gibt keinen Grund, dass die Menschen ihre Religion wechseln; denn alle Religionen haben einen wesentlichen Kern: Mitgefühl und Liebe.“

Unabhängig von der Faszination durch eine fremdartige Religion und eine „lebende Göttin“ interessieren sich viele für Amma vorrangig wegen ihrer sozialen Projekte, die ihren Lehren Glaubwürdigkeit verleihen. MA Math, ihre Organisation, baut Wohnhäuser für Arme und Katastrophenopfer, umsorgt Witwen, Waisen und Alte, leitet mehrere Krankenhäuser und an die 60 Bildungseinrichtungen von Grundschulen bis zur Universität. Sogar in Kalifornien versorgen Amma-Anhänger Obdachlose mit Essen und sauberer Kleidung. Der Devi-Status erwies sich in Ammas Heimat, wo Frauen immer noch einen schweren Stand haben, als nützlich bei der Realisation zahlreicher caritativer Projekte. Für dieses Engagement erhielt Amma unter anderem 1993 den Hindu-Renaissance-Preis und 2002 den Gandhi-King-Preis der UNO für Gewaltlosigkeit. Die deutsche Presse von Bild der Frau bis zur Süddeutschen (vgl. z.B. SZ v. 4.11.2002, 18) kommentierte Ammas Besuche bislang wohlwollend. In Bild der Frau wird sie gar mit Mutter Theresa verglichen.

Nachdem Ammas Heimat Kerala zum Jahreswechsel 2004/05 vom Tsunami verheert wurde und der indische Staat behauptete, man werde ohne ausländische Hilfe fertig, bleibt der Wiederaufbau dort zu großen Teilen privaten Initiativen überlassen. Mitglieder von Ammas MA Math und der internationalen Amrita e.V. – Indienhilfe spenden nicht nur erhebliche Summen, sondern arbeiten als Helfer im Krisengebiet.

Allein die Amma-Jünger Münchens sammelten 2005 bei Waffel-Back-Aktionen in der Fußgängerzone einige Tausend Euro. Am 19. November 2005, einem Samstag, an dem die Kaufhäuser bereits weihnachtlich dekoriert waren, standen vier Frauen und ein Mann, alle um die dreißig und zivil gekleidet, hinter den Waffeleisen und Spendenbüchsen. Info-Tafeln links und rechts des Tisches zeigten bereits Fotos von Ammas Tsunami-Hilfsprogramm: Boote wurden repariert oder neu beschafft, so dass mit einem Boot bis zu zehn Familien ihr Auskommen finden. Häuser wurden vom Schlamm gereinigt oder neu errichtet. Kinder erhielten Schwimmunterricht, um ihr Tsunami-Trauma abzubauen. Doch viel bleibt noch zu tun. Die fünf Waffelbäcker beantworteten Fragen zu MA Math, erzählten von ihrem Indienaufenthalt im Sommer und verbürgten sich dafür, dass jeder Cent zu den Katastrophenopfern gelange. Der Meinung einer Passantin, als Inder würden Amma und ihre Helfer die wirklichen Bedürfnisse in Kerala besser kennen als westliche Organisationen, was eine effektivere Hilfsleistung ermögliche, stimmten andere Besucher des Standes zu. Eine Mission für die hinduistische Devi fand nebenher auch statt, aber man musste schon genauer hinschauen, um die Prospekte am Tisch zu finden, musste tiefer nachfragen, wer Ma Math sei. Im Vordergrund stand die Hilfsaktion. So mag man Amma als Katalysatorin für die Umsetzung von Mitgefühl in Taten charakterisieren.

Schließlich startete Anfang Dezember vorigen Jahres in Deutschland und in der Schweiz der Dokumentarfilm „Darshan – Die Umarmung“, der beim letzten Filmfestival in Cannes im Mai 2005 Premiere hatte. Darin porträtiert der junge niederländisch-französische Regisseur Jan Kounen Amma. Kounen begleitete sie bei Auftritten im südindischen Ashram und filmte Darshans in Benares, Jaipur oder Delhi, wo das Umarmungsritual abrollt wie am Fließband und dennoch immer wieder Zeit bleibt für einen persönlichen Dialog zu Familien- oder Gesundheitsproblemen. Helfer wischen den Devotees zwar mit einem Lappen das Gesicht ab, aber man sieht, wie sich der weiße Sari Ammas zunehmend mit Make-Up einfärbt. Ansonsten schneidet Kounen tropische Landschaften, Bilder bunter Armut, Markt-, Verkehrs- und Tempelszenen zusammen mit Aussagen von Anhängern und historischen Amma-Aufnahmen, ohne irgendwelche Erläuterungen abzugeben. Das ist für ihn bequem, aber Zuschauer, die Amma und den Hinduismus nicht wirklich gut kennen, werden im Stich gelassen. Das Werk erregte zwar nicht allzu viel Aufmerksamkeit und läuft nur in wenigen Programmkinos großer Städte wie Berlin, München, Nürnberg oder Zürich, doch seien einige Kommentare angeführt:

Die Hindustan Times (v. 18.5.2005) bedauert den Mangel an indischen Filmen in Cannes, erfährt aber durch Kounen eine gewisse Genugtuung. Kounen wird ausführlich zitiert, etwa mit dem Bekenntnis, Amma habe ihm geholfen, eine andere Dimension der Existenz zu sehen. Der Film wird als Bekehrungsgeschichte eines Europäers interpretiert (www.hindustantimes.com). Le Monde (v. 29.11.2005) bemerkt nicht ohne Ironie, wenn Amma katholisch wäre, würde auf die Mischung aus Frömmigkeit und Spektakel nur ein Wort passen: „sulpicien“, wie im Orden des hl. Sulpice (www.lemonde.fr). Le Figaro (v. 30.11.2005) stellt Amma als „hohe Gestalt der hinduistischen Spiritualität“ vor. Obwohl sie „à l’améicaine“ von einer Entourage von Assistenten, Leibwächtern, Übersetzern und Managern umgeben sei, habe sie sich ihr einfaches Lächeln bewahrt (www.lefigaro.fr). Auf Leute, die bislang nichts von Amma wussten, könnten die „oft unterwürfig wirkenden Zeremonien befremdlich“ wirken, vermuten die Stuttgarter Nachrichten (v. 1.12.2005), sie könnten aber auch neugierig machen. Der Dokumentarfilm gilt als „zu vage“, da er weder den Subkontinent Indien noch den Lebensweg der Hauptfigur eingehend beleuchte (www.stuttgarter-nachrichten.de). Die Stuttgarter Zeitung (v. 1.12.2005) entdeckt „im Fluss der Bilder wachsende Skepsis“, doch sei „Kounen so sehr in Andacht versunken, dass ihm das kritische Potenzial mancher Szenen gar nicht mehr“ auffalle (www.stuttgarter-zeitung.de). Auch der Berliner Tagesspiegel (v. 1.12.2005) mahnt Skepsis an, doch ließen „Kounens verträumte Bilder den Kitsch vergessen und versetzen einen in schaukelnde Trance“ (archiv.tagesspiegel.de). Ammas soziale Leistungen hebt hingegen die Berliner Zeitung (v. 1.12.2005) hervor, doch wird auch hier der Mangel an „Information im nachrichtlichen Sinne“ kritisiert. Kounen versetze den Zuschauer in einen „Zustand der Hingabe“, wobei er sich zum Teil der „Erhabenheitsrhetorik des klassischen Propagandafilms“ bediene (www.berlinonline.de/berliner-zeitung/serie_kultur/505297.html).

Als Film-Zuschauerin konnte ich einiges nachvollziehen, was die Rezensenten thematisieren. Amma erscheint als sympathische Helferin und unermüdliche Priesterin der Barmherzigkeit, deren persönliche Integrität man eigentlich nicht anzweifeln möchte, auch wenn sie manchmal etwas naiv wirkt. Man möchte ihre Person nicht mit Sektenexzessen in Zusammenhang bringen. Im Film und real bei ihren Auftritten schrecken einen Körperkontakte bei Massenritualen und die totale Verzücktheit mancher Devotees, besonders europäischer und amerikanischer, aber eher ab. Kounen widmet der Devi eine filmische Hymne, keine sachliche Analyse. Wer etwas nüchtern zusieht, fragt sich, was Amma macht, wenn sie nicht Leute umarmt oder den Ashram-Bewohnern Essen und Gebetsanweisungen austeilt. Wer sind die orange gewandeten Assistenten, gibt es im Ashram Graue Eminenzen und Hierarchien? Wann erfolgte der Sprung von der kleinen Urgemeinde zur Großorganisation? Wie weit nehmen Parteien Einfluss? Wie verlaufen die Geldströme? Für Amma-Jünger, Indien-Liebhaber und Religionswissenschaftler wird der Film unentbehrlich sein, für das breite Publikum erweist er sich, wie die Zuschauerzahlen zeigen, als weniger interessant.


Angelika Koller, München