Indigokinder
Entstehung eines esoterischen Trends
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts verbreitete sich ausgehend von den USA die Vorstellung von sog. „Indigokindern“ oder „Indigos“ als einer neuen Generation von Menschen mit indigoblauer Aura, die spirituell besonders begabt sein sollten und deren Auftreten ab den 1960er und 1970er Jahren den Anbruch eines neuen Zeitalters (New Age) anzeigen und bewirken sollte. Das Konzept ist mit zahlreichen esoterischen Elementen wie Auralehre, Reinkarnation, Telepathie, Astrologie und Channeling verknüpft. Durch die Vielfalt der Anknüpfungspunkte erfreute es sich großer Beliebtheit. Spätere Erweiterungen bzw. Fortführungen des Themas wie „Kristall-“, „Licht-“, und „Regenbogenkinder“ waren unklar abgegrenzt und wurden von den „Entdeckern“ der Indigokinder zum Teil abgelehnt.
Begriff und Konzept wurden erstmals 1982 von der amerikanischen New-Age-Autorin Nancy Ann Tappe (1931 – 2012) in die Debatte eingeführt. Zum Massenphänomen wurde die Idee 1999 mit der Publikation des Buches „Die Indigo-Kinder … Die Kinder von morgen sind da!“ des Kryon-Channels Lee Carroll und seiner Frau Jan Tober. Bald wurde das Konzept von zahlreichen etablierten Anbietern wie Doreen Virtue und Bärbel Mohr, aber auch dem völkisch-esoterisch ausgerichteten Autor Jan Udo Holey aufgegriffen.
Tappe erkannte bei Menschen sogenannte „Lebensfarben“. Nach verschiedenen Angaben sah sie diese im „elektromagnetischen Energiefeld“ oder aufgrund ihrer Synästhesie. Dies ist die (wissenschaftlich belegte) Fähigkeit, Sinneseindrücke verknüpft wahrzunehmen, sodass etwa bestimmte Klänge bestimmte Farben haben. Tappe entwickelte ein System der Persönlichkeitsanalyse und Lebensberatung durch Farben („Colorology“). Ab ca. 1970 habe sie plötzlich Kinder mit der neuen Lebensfarbe indigoblau gesehen, die sie für eine „neue Generation“, Menschen mit einer besonderen Aufgabe, hielt. Die meisten Autoren knüpfen an die theosophisch-anthroposophische Auravorstellung an, die von einem unsichtbaren „feinstofflichen“ Schwingungsfeld ausgeht, das Mensch und Kosmos im ständigen Energieaustausch verbindet. Indigos zeichneten sich laut Tappe durch Begabung im Umgang mit neuen Technologien, entspannte Lebenshaltung, Sozialgruppenorientierung, Ablenkbarkeit und Androgynität aus. Alle späteren Autoren ergänzten diese Merkmalspalette mit ihren eigenen Ideen. Carroll/Tober beschrieben Indigos so: Sie „kommen mit dem Gefühl auf die Welt, königliche Hoheiten zu sein“, haben ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, ordnen sich schlecht Autoritäten unter, fügen sich schlecht in Regeln („fällt ihnen schwer, Schlange zu stehen“), „wirken unsozial, es sei denn, sie bewegen sich unter ihresgleichen … verkriechen sich oft in sich selbst und haben das Gefühl, von niemandem verstanden zu werden. Schule ist für sie sozial gesehen oft außerordentlich schwierig“. Kritiker wiesen darauf hin, dass diese Merkmale so allgemein gehalten seien, dass man fast jedes Kind darin erkennen könne (sog. „Forer-Effekt“). Die beschriebenen Charakterzüge deuten auf tendenziell problematische narzisstische Wesensmerkmale hin. Esoterikkritiker spotteten: „Ein Haufen verzogener Blagen“ (Mendez-Acosta 2006).
Zeitenwende durch Bewusstseinsevolution oder ADHS?
Der Indigo-Trend war von Beginn an mit der Erwartung einer millenialistischen Zeitenwende durch ein erneuertes Bewusstsein der Menschheit verbunden. Dies greift eine esoterische Standardidee auf, der zufolge in unserer Zeit die geistige Evolution der Menschheit kulminiere. Aufgabe der Indigos sei es, ein neues spirituelles Zeitalter weltweiten Friedens einzuläuten. Für manche Autoren waren Indigos dabei eher Vorreiter und Anführer, also eine elitäre Minderheit, für andere waren sie selbst schon die Erneuerung, indem sie massenhaft die Welt bevölkerten – laut Nancy Tappe waren zu Beginn des Jahrtausends bis zu 95 % der Neugeborenen Indigos. Carroll/Tober behaupteten, Indigos seien kein westliches Phänomen, sondern träten in verschiedenen Kulturräumen auf, blieben aber den Beweis schuldig.
Die Aufmerksamkeit für Indigokinder nahm ab, als sich das mediale und esoterische Interesse ab 2011 auf den Mayakalender und die damit verbundene für 2012 erwartete Zeitenwende verlagerte. Doch werden bis heute im entsprechenden Milieu Einrichtungen für Indigokinder unterhalten und gegründet.
Der breite Erfolg des Konzepts wurde durch die kurz zuvor ebenfalls in den USA entstandenen Krankheitsdiagnosen ADS und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-[Hyperaktivitäts-]Syndrom, fortan „ADHS“) ermöglicht. Seit ca. 1970 nimmt man an, dass die einst als „Zappelphilipp“ und „Tagträumer“, heute als „verhaltensauffällig“ bezeichneten Kinder psychisch krank seien. In der Folge vermehrten sich die ADHS-Diagnosen rasant, derzeit sollen in Deutschland fast 10 % der Jungen ADHS haben. Die Krankheitssymptome sind medikamentös behandelbar (das Medikament „Ritalin“ wurde als pars pro toto zum Symbol). Für die oft überforderten Eltern war diese Erklärung und Therapie zunächst eine Entlastung, aber die Aussicht einer potenziell chronischen psychischen Krankheit der Kinder ihrerseits wenig attraktiv.
Esoterisch Aufgeschlossenen stand nun mit dem Indigo-Konzept eine weitere Deutung der Verhaltensauffälligkeit zur Verfügung. Indem man ADHS zur Fehldiagnose und das Kind zum Indigo erklärte, wurde dieses vom chronisch Kranken zum Ausnahmetalent aufgewertet, an dessen Problemen die Umwelt schuld war. Es verlangte nur einen besonders geschulten Umgang, um seine irdische Mission erfüllen zu können. Typisch wurden Ratgeber wie „ADHS als Geschenk. Wie die Probleme Ihres Kindes zu Stärken werden“ (Honos-Webb 2007). Alternative Krankheitsursachen (Medikamente, Elektrosmog) und Behandlungsmethoden wurden propagiert. Während Psychologen und Ärzte vor der Gefahr warnten, dass die Indigo-Interpretation die Diagnose und Behandlung von ADHS-Kindern verzögern und langfristig schädlich sein könnte, sah die Gegenseite die Gefahr eben gerade in der medikamentösen Behandlung. Studien zeigten zumindest, dass die Deutung von ADHS-Kindern als Indigos deren Eltern tatsächlich bei der Stressbewältigung hilft (Lench 2011).
Indigo als esoterische Version wissenschaftlicher ADHS-Kritik
Es gibt auch wissenschaftlich fundierte Kritik an den ADHS-Grundannahmen. Zwar steht die Medikamentenwirkung außer Frage, aber schon die daraus abgeleitete biochemische Ursachentheorie (neurologische Stoffwechselstörung, Mangel an Botenstoffen) steht auf logisch unsicheren Füßen, da ADHS nur vage durch das Verhalten, nicht physiologisch diagnostizierbar ist. Für das plötzlich epidemische Auftreten einer neurologischen Krankheit fehlt jede medizinische Erklärung. Die ADHS-Welle fällt außerdem mit einem rasanten Anstieg anderer psychologischer und psychiatrischer Diagnosen zusammen: Bekannte Störungen nehmen an Häufigkeit zu, und immer neue Krankheitsbilder werden „gefunden“. Wie kommt es, dass plötzlich so viele Menschen psychisch krank sein sollen? Die Zahl amerikanischer Kinder, die wegen psychischer Krankheiten staatliche Hilfe bekommen, ist zwischen 1987 und 2007 auf das 35-Fache gestiegen, 2015 waren 14,1 % aller Jungen mit ADHS diagnostiziert. Der Psychiater Allen Frances, Mitarbeiter an der „Diagnose-Bibel“ der Psychiatrie DSM-4 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), erklärt selbstkritisch: „Durch unsere Arbeit haben wir Epidemien wie das ADHS erschaffen“ (vgl. Angell 2011; Conrad/Schneider 1992).
Sarah Whedon sieht im Indigokinder-Trend eine Reaktion auf eine „Krise im amerikanischen Bild von Kindheit“ und die zunehmende Pathologisierung kindlichen Verhaltens (Whedon 2009). In der öffentlichen Wahrnehmung von Kindern hatte in den 1990er Jahren eine Inversion stattgefunden: Man war von der neuzeitlichen Idealisierung der „unschuldigen Kindlein in idyllischer Kleinfamilie“ zur Sicht der Kinder als „kleinen Monstern und unheilbar Kranken“ übergegangen (u. a. wegen zunehmender Jugendgewalt). Auf diese Umwertung, so Whedon, ist das Indigo-Phänomen eine esoterische Antwort, der zufolge die ADHS-Welle keine physiologische Krankheit, sondern v. a. das Ergebnis einer sozialen Konstruktion und eines kulturellen Irrtums sei.
Unbeachtet bleibt in Whedons Perspektive ebenso wie in der psychiatrischen und esoterischen, dass die ADHS-Welle zeitlich mit anderen sozialen Veränderungen im späten 20. Jahrhundert zusammenfällt: Erziehungsstile, die mehr Wert auf Entfaltung und Entgrenzung als auf (Selbst-)Disziplin legen, Veränderung der schulischen Pädagogik, eine Neubewertung von Geschlechterrollen, die „typisches Jungenverhalten“ negativ konnotiert (Rollenunklarheit), herabgesetzte Definitionsschwelle für deviantes Verhalten (Raufereien werden Körperverletzung, Hänseln wird „Mobbing“), Zunahme von Unterhaltungsmedien, der Zahl von Einzelkindern sowie von Kindern, die bei Alleinerziehenden leben (positiv mit ADHS korreliert). Die Ursachenforschung in dieser Richtung gilt trotz ihrer Plausibilität als rückwärtsgewandt, weil sie Ursachen bei Eltern und kaum kritisierbaren gesellschaftlichen Entwicklungen sucht.
Vom Indigo-Phänomen zu Verschwörungstheorien: Nachwirkung und Einschätzung
Das Indigothema verlagert sich derzeit in den Bereich eines anderen esoterikaffinen Problems, nämlich die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Die englische Religionswissenschaftlerin Beth Singler beschreibt, wie aus nachgewiesen dubiosen und illegalen Aktivitäten der psychopharmazeutischen Industrie im Verbund mit dem Anstieg psychiatrischer Diagnosen im Indigo-Trägermilieu verschiedene verschwörungstheoretische Theorien entstanden bzw. Zulauf erhielten. Diesen zufolge gilt: a) ADHS ist eine von der Pharmaindustrie nicht nur aus Gewinnstreben geförderte, sondern überhaupt erst vorsätzlich geschaffene und durch Medikamente hervorgerufene Krankheit. In einer milderen Variante geht man davon aus, dass zumindest die Diagnosen mehrheitlich falsch und die Kinder besser mit Nahrungsveränderung, holistischen und metaphysischen Therapien zu behandeln seien. b) Genetisch modifizierte Organismen im Essen und in Medikamenten schaden dem Indigokind. Dies wird v. a. von Eltern vertreten, die glauben, dass Indigokinder eine modifizierte DNA bzw. einen unsichtbaren dritten „kristallinen“ oder „ätherischen“ DNA-Strang haben, der durch die nicht spirituell, sondern gentechnisch modifizierte DNA verschmutzt werde.
Es gibt keine Untersuchungen zum weiteren Ergehen von Menschen, denen ihr Kindheitsumfeld vermittelte, „Indigokinder“ zu sein. Daher ist unbekannt, ob und inwieweit die Umdeutung von Verhaltensauffälligkeit zu Sonderbegabung, die Vorenthaltung medikamentöser Therapien und die Bestärkung narzisstischer Tendenzen dem Kind langfristig schaden.
Das Indigo-Thema steht heute weniger im Fokus, aber seine Erklärungsmuster haben eine Parallele im Zusammenhang mit Autismus und dem Asperger-Syndrom – Diagnosen, die gegenwärtig zunehmen („Kristallkinder“). Und auch hier kommen Verschwörungstheoretiker ins Spiel: Die 1998 in einer fachwissenschaftlichen Publikation verbreitete (später widerlegte) Theorie, dass Impfungen Autismus auslösen, führte in Britannien und den USA zu öffentlichen Kampagnen gegen die MMR-Impfung (Mumps, Masern, Röteln), zu einem Rückgang der Impfrate und später zu lokalen Masernepidemien in beiden Ländern.
Die Verknüpfung mit ADHS macht Indigos zu einer Besonderheit im esoterischen Themenfeld. Die Theorie kann als Bewältigungsstrategie einer gesellschaftlichen Krise des sozialen Konstrukts „Kindheit“ verstanden werden. Obwohl die metaphysischen Annahmen und die pseudowissenschaftlichen Erklärungen und Therapien keine Plausibilität haben, sind die ihnen zugrunde liegenden Problemanzeigen auch in nicht-esoterischer Perspektive ernst zu nehmen. Aus christlicher Sicht ist allerdings die Apotheose des Kindes als „Lichtarbeiter“ und „Künder einer neuen Zeit“ Ausdruck menschlicher Hybris. Sie verstärkt den menschlichen Narzissmus, gefährdet die Entwicklung sozialer Kompetenz und überlastet im Extremfall das Kind mit elterlicher Erwartung. Die esoterische Behauptung der Entstehung des neuen Menschen, der seine und der Welt Probleme aus sich selbst heraus mit Spiritualität und höherem Wissen lösen kann, widerspricht der christlichen Anthropologie des von Gott geliebten, jedoch sündhaften und erlösungsbedürftigen Menschen. Die romantische, aber unbiblische Projektion, der Mensch sei „im Kern gut“, ist allerdings gerade in Bezug auf Kinder gesellschaftlich und kirchlich zum Normalfall geworden.
Quellen
Atwater, P. M. H.: Indigo-Kinder und die neue Zeit ab 2012, Stuttgart 2007
Carroll, Lee / Tober, Jan: Die Indigo-Kinder. Eltern aufgepasst… Die Kinder von morgen sind da!, Burgrain42001
Holey, Jan Udo: Die Kinder des neuen Jahrtausends. Mediale Kinder verändern die Welt, Fichtenau 2001
Honos-Webb, Lara: ADHS als Geschenk. Wie die Probleme Ihres Kindes zu Stärken werden können, Paderborn 2007
Tappe, Nancy Ann: Metaphysical Concepts in Color. Enhancing Your Life thru Color, San Diego 1982
Sekundärliteratur
Angell, Marcia: The Epidemic of Mental Illness: Why?, in: The New York Review of Books 23.6.2011, 20-22
Angell, Marcia: The Illusions of Psychiatry, in: The New York Review of Books 14.7.2011, 20-22
Conrad, Peter / Schneider, Joseph W.: Deviance and Medicalization. From Badness to Sickness, Philadelphia 1992
Lench, Heather C. et al.: Exasperating or Exceptional? Parents’ Interpretations of Their Child’s ADHD Behavior, in: Journal of Attention Disorders 17 (2013), 141-151
Mendez-Acosta, Mario: Auras and Indigo Children, Mexican Skeptical Research Society 2006, www.csicop.org/specialarticles/show/auras_and_indigo_children
Pöhlmann, Matthias: „Indigo-Kinder“ – Künder eines neuen Zeitalters?, in: MD 65/12 (2002) 355-369
Schnack, Dieter / Neutzling, Rainer: Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit, Reinbek 1991
Singler, Beth: Big Bad Pharma. The Indigo Child Concept and Biomedical Conspiracy Theories, in: NR 19 (2015) 17-29
Waltz, Mitzi: From Changelings to Crystal Children. An Examination of „New Age“ Ideas about Autism, in: Journal of Religion, Disability and Health 13 (2009) 114-128
Whedon, Sarah W.: The Wisdom of Indigo Children. An Emphatic Restatement of the Value of American Children, in: NR 12 (2009) 60-76
Kai Funkschmidt