INFORM - 25 Jahre Forschung, Information und Beratung zu neureligiösen Bewegungen
Bericht von einer Tagung in London
Der Konferenztitel fiel allgemein und etwas blass aus: „Minority Religions: Contemplating the Past and Anticipating the Future“. Aber das Treffen selbst war alles andere als dies: Neuheidnische Religionswissenschaftler aus den USA, aus England und Israel, Deutsche, die über französisches und Französinnen, die über deutsches Religionsrecht forschen, anglikanische Bischöfe und katholische Pfarrer, „Freezone“-Scientologen (Hubbard-Anhänger, die die Church of Scientology ablehnen), Sikhs, Anti-Cult-Aktivisten, kirchliche Berater, „Aussteiger“, Hare-Krishna-Vertreter, Juristen sowie Erforscher und Anhänger einer Reihe dem Verfasser bislang völlig unbekannter Neureligionen – es war fürwahr ein bunter Strauß von ca. 120 Menschen, die sich vom 31. Januar bis 2. Februar 2014 an der renommierten London School of Economics (LSE) versammelten, um das 25-jährige Bestehen des „Information Network Focus on Religious Movements“ (INFORM) zu feiern. Journalisten waren keine unter den Teilnehmern. Das wurde bedauert und damit erklärt, dass Zeitungsjournalismus heutzutage so wenig wirtschaftlich sei, dass der ständige Produktionsdruck vertiefte Recherchen oder gar den Erwerb von Grundlagenwissen wie auf einer solchen Tagung geradezu unmöglich mache.
Die Arbeit von INFORM
INFORM ist eine gemeinnützige Organisation, die sich der Erforschung neureligiöser Bewegungen widmet. Finanziert wird sie von den Kirchen, von verschiedenen staatlichen Stellen und Stiftungen sowie durch Spenden und Buchverkäufe. Trotz der räumlichen Ansiedelung in der London School of Economics ist sie formal unabhängig, also keine Abteilung der Universität, arbeitet allerdings in großer sachlicher Nähe und mit personellen Überschneidungen vor allem zum Fachbereich Soziologie. Die Nähe zur Universität hat unter anderem den praktischen Vorteil, dass der kleine Stab von vier Mitarbeitern – alle zusammen in einem etwa 25 Quadratmeter messenden „Großraum“-Büro untergebracht – ständig durch studentische Langzeitpraktikanten unterstützt wird.
Themen und Arbeitsweisen ähneln denen von Weltanschauungsberatungsstellen im deutschsprachigen Raum. Die religiöse Gegenwartskultur wird erforscht, und die gewonnenen Erkenntnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die meisten Anfragen kommen laut Jahresbericht von Medien, staatlichen Stellen und privaten Ratsuchenden (Häufigkeit in dieser Reihenfolge).
Es ist bemerkenswert, dass die Initiative für eine solche Beratungs- und Auskunftseinrichtung nicht von kirchlicher oder staatlicher Seite, sondern von einer akademischen Einrichtung ausging – und zwar zu einer Zeit, als die Beschäftigung mit neureligiösen Phänomenen der Moderne oder auch nur mit gegenwärtigen Lebensformen alter Religionen in der universitären Religionswissenschaft als nicht ganz seriös galt.
Gegründet wurde INFORM 1988 durch die schottische Religionssoziologin Eileen Barker, heute emeritierte Professorin der London School of Economics. Ihr Buch „The Making of a Moonie: Choice or Brainwashing?“ (1984) war methodisch und inhaltlich richtungsweisend für die religionssoziologische Erforschung neureligiöser Bewegungen – zum einen, weil die Forscherin sich inmitten des damals herrschenden aufgeheizten Sektendiskurses über Jahre hinweg in die „Höhle des Löwen“ wagte, zum anderen, weil sich die Autorin darin selbstkritisch mit den Auswirkungen der Methode teilnehmender Beobachtung auf sich und ihre Rolle auseinandersetzt.
Barkers Vortrag auf der Konferenz war eine Reise durch Jahrzehnte der Forschung und brachte unter anderem die heute kaum noch vorstellbaren „cult wars“ (Sektenkriege) der 1970er und 1980er Jahre ins Gedächtnis, als das „Anti-Cult-Movement“, Elterninitiativen, Justizbehörden, „Aussteigergruppen“ und andere Warner die öffentliche Wahrnehmung neureligiöser Bewegungen als „persönlichkeitsgefährdende Kulte“ bestimmten und jede gemäßigte Stimme als Sektenapologetik angriffen.
International, multireligiös, interdisziplinär
Auf der Tagung war spürbar, wie sehr sich die Zeiten verändert hatten. Hier saßen Kirchen- und Behördenvertreter mit Aussteigern, Vertretern von Anti-Cult-Organisationen, Mitgliedern neureligiöser Bewegungen und akademischen Forschern zusammen – viele davon sind mehreres in einer Person. Dabei besteht natürlich immer die Gefahr, dass „unvoreingenommene“ Forschung unversehens zur Identifikation und zur undistanzierten Apologetik des Forschers für seinen Gegenstand mutiert. Dass dies kein Thema der Vergangenheit ist, darauf hat vor einigen Jahren wieder der Religionswissenschaftler Russell T. McCutcheon in seinem programmatischen Werk „Critics Not Caretakers. Redescribing the Public Study of Religion“ (2001) hingewiesen und damit die alte Debatte neu entfacht. Auf der Konferenz war man entspannt. Als ein ehemaliges Hare-Krishna-Mitglied den britischen Leiter der Gruppe nach dessen Plenumsvortrag angriff und seine Darstellung um einige interessante, wenig bekannte Aspekte zu seiner Vergangenheit bereicherte, hatte dies ebenso Platz wie ein Scientologe als Redner, was einen anderen dazu ermunterte, dieses Rederecht zu verteidigen und im gleichen Atemzug seine Ablehnung dieser Gruppe zu betonen.
Das INFORM-Tagungskonzept sieht eine Kombination aus Doktoranden, engagierten Nachwuchswissenschaftlern, etablierten Professoren und erfahrungsgesättigten Emeriti vor, was eine exzellente Mischung ergab. Das Programm nutzte diese Vielfalt optimal aus. Neben Plenumsveranstaltungen gab es 20 Arbeitsgruppeneinheiten, von denen immer vier parallel verliefen. In jeder Arbeitsgruppe präsentierten drei bis vier Leute in Kürze ihre jeweiligen Forschungsprojekte. Dabei konnte man zwar nicht in die Tiefe gehen, aber man gewann einen Eindruck davon, an welchen Themen wer arbeitet, es ergaben sich optimale Vernetzungsmöglichkeiten. Für einen deutschen Weltanschauungsbeauftragten waren besonders die internationale Dimension und die religionssoziologische Sicht erfrischend – es herrschte allerorten eine Atmosphäre der unängstlichen Neugier gegenüber neureligiösen Bewegungen. Interessant war das Gespräch mit Religionswissenschaftlern, die selbst zu neuheidnischen oder anderen neureligiösen Gruppen gehören. Der damit einhergehende gelegentliche methodische Spagat ist natürlich bei christlichen Forschern nicht anders, fällt aber weniger auf.
Thematisches Panoptikum
Entsprechend dem Tagungstitel gab es kein thematisches Band, sondern eine breite Übersicht darüber, woran derzeit international gearbeitet wird.
In den Arbeitsgruppen konnte man manche Kuriosität bestaunen, so z. B. die Arbeit zur „Church of the SubGenius“ an der Universität Amsterdam, welche die Zuhörer zum Leidwesen des Redners geneigt waren, bei den Spaßreligionen einzuordnen, direkt neben das Bekenntnis zum „Fliegenden Spaghettimonster“ und die „Jedi-Ritter“.
Aber die meisten Beiträge behandelten Klassiker unter den neureligiösen Bewegungen; mehrere befassten sich z. B. mit dem britischen Paganismus. Melissa Harrington (University of Cumbria) beobachtete einen Mitgliederrückgang bei der Pagan Federation. Das ist erstaunlich, nachdem die Volkszählung von 2011 gerade erst eine unerwartet hohe Zahl von Heiden (85 000) zutage gefördert und die Pagan Federation manche Verbesserungen ihrer Rechtsstellung erreicht hatte (Eheschließungen, Feiertage). Die typisch neuheidnische Institutionenfeindschaft und ein Traditionsabbruch innerhalb der losen Strukturen zur Lehrweitergabe (Neuheidentum bleibt eine Religion von Konvertiten der ersten Generation) wurden als Gründe für den Rückgang der Mitgliederzahlen genannt. Ein israelischer Neuheide berichtete von den massiven rechtlichen Einschränkungen für jüdischstämmige Angehörige kleiner Religionen im Land. So können z. B. Neuheiden in Israel nicht legal heiraten und Jugendarbeit wird durch ein Gesetz, das Konversion für Minderjährige verbietet, unmöglich gemacht.
Melissa Goodwin (Elon University, Nord Carolina) betrachtete unter dem Titel „American Sexual Exceptionalism“ das Beispiel der Fundamentalist Church of Latter Day Saints, einer mormonischen Splittergruppe, welche die Polygamie pflegt. Ausgelöst durch ein Buch des Journalisten Jon Kracauer, der Polygamie per se als gewalttätig und unterdrückerisch betrachtet, wurden der Gruppe 2008 fast 400 Kinder wegen Kindeswohlgefährdung weggenommen und der Führer später wegen Vergewaltigung und Kindesmissbrauchs verurteilt. Goodwin beobachtete, dass gegenüber neureligiösen Bewegungen mit sexuell von der Mehrheit abweichendem Verhalten besonders häufig der Vorwurf sexueller Viktimisierung erhoben wird, selbst dann, wenn die „Opfer“ sich selbst nicht als solche sehen.
Der Amerikaner David Baer (Texas Lutheran University) untersuchte das neue ungarische Religionsrecht von 2011, mit dem sich Dutzende kleiner Religionen und Kirchen quasi über Nacht ohne legale Existenzgrundlage wiederfanden und nun jederzeit die Konfiszierung ihrer Besitztümer befürchten müssen. Stephanie Berry (School of Law, Sussex) betrachtete das europäische Religionsrecht und verglich die eher restriktive Herangehensweise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (ECHR) mit den meist liberaleren Stellungnahmen des EU-Komitees für Religionsfreiheit. Die Tatsache, dass Frankreich in den letzten zwei Jahren allein vier Rechtsfälle vor dem ECHR verloren hat, bestätigt den aus vielen Facetten bestehenden Eindruck, dass die aktuelle Gestaltung der „Laïcité“ bisweilen weniger eine Trennung von Kirche und Staat als vielmehr eine grundsätzliche Religionsskepsis, ja womöglich Religionsfeindschaft des Staates darstellt.
Besonders interessant ist natürlich der Blick Außenstehender auf eine vertraute deutsche Situation. Ein Beispiel: Vor einigen Monaten ging die in Bayern beheimatete christlich-fundamentalistische Kommune „Die Zwölf Stämme“ durch die deutsche Presse. Aufgrund geheimer Filmaufnahmen eines Journalisten, die Prügelstrafen dokumentierten, wurden im Morgengrauen bei einem massiven Einsatz der bayerischen Polizei über zwei Dutzend Kinder in Gewahrsam genommen. Die Hälfte dieser Kinder befindet sich fast ohne Elternkontakt bis heute dort, die deutschen Medien haben mangels neuer Nachrichten aufgehört zu berichten. Eine schwedische und eine kanadische Professorin (Liselotte Frisk, Dalarna, und Susan Palmer, Montreal) hatten sich kurz vor der Londoner Konferenz eine Woche bei den „Zwölf Stämmen“ aufgehalten und mit den Betroffenen gesprochen. Dabei entstand ein differenzierteres Bild des Falles, als man es hierzulande von außen gewinnen konnte. So stellten die beiden Professorinnen die Grundfrage, ob dem Kindeswohl durch die lange Isolation der Kinder von ihren Eltern und teilweise den Geschwistern nicht mehr geschadet werde als durch die vorherigen Schläge. Und sie fragen, ob sich der Gesetzesbruch der Eltern nicht auch durch weniger drastische Maßnahmen, wie sie Jugendämter in anderen Fällen durchaus anwenden, hätte verhindern lassen. Denn Kindesentzug schafft Fakten: Befinden sich Kinder lange genug bei Pflegeeltern, können sie u. U. auch dann dort bleiben, wenn sich die Eltern am Ende als unschuldig erweisen – dann nämlich, wenn das Jugendamt zu dem Schluss kommt, dass durch die lange Abwesenheit dem Kindeswohl durch die Rückführung zu den Eltern mehr geschadet werde als durch den Verbleib bei den Pflegeltern. Zudem drängte sich den beiden Wissenschaftlerinnen der Eindruck auf, das staatliche Eingreifen bei einer religiösen Kleingruppe falle unverhältnismäßig gravierender aus, als wenn es sich um „normale“ Elterngewalt in anderen sozialen Milieus handelt. Man muss solchen externen Analysen nicht in allen Details zustimmen, um sie als Denkanstöße zu schätzen.
Insofern ist es erfreulich, dass INFORM zweimal jährlich Tagesseminare veranstaltet, die man aufgrund der Erfahrung mit dieser Konferenz nur empfehlen kann. Anmelden kann sich jeder, der sich für die wissenschaftliche Beschäftigung mit neureligiösen Bewegungen interessiert. Das nächste Seminar findet am 6. Dezember 2014 zum Thema „Minderheitsreligionen und Schule“ in London statt. Weitere Informationen auf www.inform.ac.
Kai Funkschmidt