Inszenierte Loyalitäten? Die Neuapostolische Kirche in der NS-Zeit
Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Berlin 2020, 466 Seiten, 39,95 Euro.
Die vorliegende Publikation schließt eine große Lücke. Abgesehen von einigen kleineren Veröffentlichungen gab es bisher keine überzeugende Untersuchung zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK) in der NS-Zeit. Dafür lassen sich Gründe nennen: Viele Jahrzehnte war die NAK an einer Erforschung ihrer Geschichte nicht interessiert; Außenstehende hätten bis in die späten 1990er Jahre kaum Zugang zu kircheneigenen Archiven bekommen – sofern es denn überhaupt geordnete Unterlagen gab. In einem Schreiben vom Sommer 1963 brachte der damalige Stammapostel Walter Schmidt diese Haltung etwas holprig auf den Punkt: „Wir leben in der Endzeit-Erwartung, wo bei unseren Geschwistern, die ihren echten, neuapostolischen Glauben unter Beweis stellen, für eine Geschichtsschreibung über die N.A.K. wohl kaum noch das notwendige Interesse sein dürfte“ (24). Damit überließ man in gewisser Weise den Kritikern und der apologetischen Literatur die Deutungshoheit über die eigene Geschichte, wie Krauss zu Recht konstatiert.
In seiner Einführung geht der Verf. ausführlich darauf ein, dass in der Fachliteratur oftmals Pauschalurteile, die wissenschaftlicher Überprüfung nicht standhalten, über die Nähe der NAK zum NS-Staat bzw. über ein nennenswertes Mitgliederwachstum in jener Zeit gefällt wurden (20ff). Auch der Rezensent muss sich diesen Vorwurf gefallen lassen – es wurde (und wird?) in der Konfessionskunde bei Publikationen oft zu unkritisch untereinander Bezug genommen. Wobei auch hier wieder festzuhalten wäre, dass weitergehendes Quellenstudium aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft seitens der NAK nicht möglich bzw. nicht einfach war.
Mit größtem Interesse habe ich das zweite Kapitel („Panik: Das Jahr 1933“) gelesen (27 – 75). Die NAK war, so schreibt Krauss, „denkbar schlecht“ auf die politischen Ereignisse vorbereitet. In der kleinen, politisch abstinenten Kirche brach nach der Machtergreifung Hitlers eine gewisse Panik aus. Rundschreiben wurden verfasst, neu gedeutet und umgedeutet. Es ist ausgesprochen erfreulich und ein großes Verdienst der vorliegenden Publikation, dass diese Dokumente nun leicht zugänglich sind. So kann sich der Leser ein eigenes Bild machen, auch von Texten bzw. Textstellen, die in der apologetischen Literatur der großen Kirchen häufig als Beleg für die Nähe der NAK zum NS-Staat herangezogen wurden und werden (28). Wie verworren die Lage war, kann man im dritten Kapitel (77 – 86) nachlesen. Das Narrativ vom signifikanten Mitgliederzuwachs der NAK in der NS-Zeit dürfte auf einen „offiziösen“ Text von Bezirksapostel Gottfried Rockenfelder zurückgehen, der Anfang der 1950er Jahre konstatierte, die Zahl der NAK-Gemeindeglieder habe in den 1930er Jahren ständig zugenommen. Ein irritierender Befund, wie Krauss schreibt, da eben jener Bezirksapostel einige Jahre zuvor (1935) noch das Gegenteil schrieb (79). Die Details kann man bei Krauss nachlesen.1 Um hier die Diskussion abzukürzen: Die NAK erlebte im NS-Staat kein Wachstum, sondern vielmehr eine nennenswerte Austrittswelle (82ff). Der Verf. blickt an dieser Stelle erneut kritisch auf die NAK und konstatiert, dass es vor dem Jahr 2015 (!) gar keine Gesamtstatistik über die Mitgliederentwicklung gab – Außenstehende hätten die Zahlen also gar nicht verifizieren können. Die Ambivalenz vieler Akteure in der NS-Zeit zeigt der Verf. an der Person Friedrich Bischoffs (1909 – 1987). Der Sohn des Stammapostels Johann Gottfried Bischoff machte in der NAK eine steile Karriere. Er trat bereits am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein und wurde zeitgleich Anwärter der SA. Im Sommer 1933 hielt er eine „flammende“ und, wie Krauss schreibt, „heute völlig verstörende Rede“ (126) auf den NS-Staat. Trotz dieses „Lippenbekenntnisses“ setzte sich Bischoff diskret für die Jüdin Heda Fackenheim und den Kommunisten Franz Series ein (158).
Weitgehend auf der NS-Parteilinie mit explizit judenfeindlichen und kriegsverherrlichenden Beiträgen gerierte sich in jenen Jahren die NAK-Hauszeitschrift „Unsere Familie“. Schriftleiter war ab 1936 Erich Meyer-Geweke (189 – 197). Es ist unklar, inwieweit die NS-Propaganda solche Artikel verlangt oder erwartet hat. Krauss verweist zu Recht darauf, dass sämtliche Äußerungen von den NS-Überwachungsorganen beobachtet wurden. Die interessante Frage, wie die Leitung der NAK wirklich zur sog. „Judenfrage“ gestanden haben könnte, kann auch Krauss nicht beantworten. Es liegen ihm keine Selbstzeugnisse des Stammapostels in dieser Sache vor – lediglich eine knappe Äußerung, die man als Lichtblick deuten könnte (246). Festzuhalten ist jedoch, dass 1940 von 13 in Deutschland amtierenden Aposteln lediglich zwei der NSDAP angehörten (113). Die evangelischen Pfarrer der württembergischen Landeskirche erreichten eine doppelt so hohe NSDAP-Mitgliedschaftsquote (374). Nun ist mit der reinen Mitgliedschaft noch nicht alles gesagt: Mitglied der NSDAP war seinerzeit auch der später in schwere Konflikte geratene Apostel Peter Kuhlen. Über ihn ist in der vorliegenden Studie zu lesen, dass in seinem Verantwortungsbereich ein neuapostolischer Christ jüdischer Herkunft über mehrere Monate versteckt wurde. Es ist, so schreibt Krauss, davon auszugehen, dass Kuhlen davon Kenntnis hatte und den Vorgang gedeckt hat (113f).
Ein eigenes Kapitel (229 – 360) widmet der Verf. dem Schicksal neuapostolischer Christen jüdischer Herkunft. So dokumentiert er unter anderem die bedrückende Geschichte von Simon Leinmann, der neuapostolischer Christ war, jedoch eine jüdische Mutter hatte (321 – 343). Nach den NS-Rassengesetzen galt er demnach – entgegen seinem Selbstverständnis – als Jude. Er wurde im Oktober 1938 nach Polen deportiert, seine Frau sah sich zur Scheidung gezwungen. Er war unter den Juden des Lagers kein Jude und unter den Polen kein Pole. In verzweifelten Briefen wandte er sich an seinen Apostel und den Stammapostel. Doch er erhielt keinerlei Antwort. Seine Spuren verlieren sich in einem der vielen NS-Todeslager – ein Schicksal unendlicher Verlassenheit.
Der Verf. entwirft das Bild einer kleinen Kirche, die in einer starken Naherwartung lebt und im Kern unpolitisch ist bzw. sein möchte. Daher ist sie auf die Herausforderung durch den totalen Staat nicht oder nicht gut vorbereitet. Wie andere Kirchen auch versucht sie durch Anpassung, Lavieren und „inszenierte Loyalitäten“ die finsteren Zeiten zu überstehen. Dass es in den eigenen Reihen auch manche gegeben haben mag, die den neuen Ungeist begrüßt haben, wundert nicht. Dennoch war die Wirklichkeit sehr viel komplizierter, als manch forsche Kritiker meinen. Ohnehin ist die Vorstellung absurd, die NAK hätte sich dem totalen Staat verweigern oder gar „dem Rad in die Speichen fallen“ können. Völlig zu Recht fragt der Verf. daher immer wieder, wie sich denn die beiden großen Kirchen positioniert haben. Dieser Vergleich ist legitim und – leider – ernüchternd. Apropos Kirchen: Zur Wahrheit gehört, dass einige evangelische Pfarrer seinerzeit den NS-Staat aufgefordert haben, die Gelegenheit zu nutzen und endlich gegen die „Sekte“ vorzugehen (43).
Krauss‘ Untersuchung bietet eine erstaunliche Fülle an Material, das umsichtig und differenziert gedeutet wird. Auf längere Zeit wird keine Darstellung der NAK an diesem Buch vorbeikommen. Im Internet wird mit gewisser Polemik darauf hingewiesen, dass der Verf. ein Amt in der NAK bekleidet und Leiter der Arbeitsgruppe „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ ist. Es wäre vielleicht gut gewesen, dieses ehrenamtliche (!) Engagement in dem Buch zu erwähnen; wer jedoch klug zwischen den Zeilen liest, merkt die Nähe des Autors zur NAK ohnehin. Aber an der Sache ändert das nichts. Die wissenschaftliche Diskussion um historische Vorgänge wird mit Argumenten ausgetragen und nicht mit Verweisen darauf, welchen Glauben ein Autor hat.
Andreas Fincke, Erfurt
Anmerkungen
- Karl-Peter Krauss: Die Mitgliederentwicklung der Neuapostolischen Kirche in der NS-Zeit, Frankfurt a. M. 2017 (dazu die Rezension in MdEZW 6/2018, 233 – 235).