Interreligiöser Dialog
Der interreligiöse Dialog („Dialog der Religionen“, konkreter die „dialogische Begegnung von Angehörigen unterschiedlicher Religionen“) ist zunächst Ausdruck tiefgreifender Veränderungen auf verschiedenen Gebieten der Weltpolitik, der Weltwirtschaft, der Kulturkontakte und damit auch in den Beziehungen der Religionen seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Notwendigkeit und die Dringlichkeit des interreligiösen Dialogs verdeutlichen die weltweit zunehmenden Tendenzen, politische und soziale Konflikte aller Art religiös zu legitimieren bzw. zu instrumentalisieren. Spätestens seit dem Minarettbauverbot in der Schweiz (2009), der „Sarrazin-Debatte“ (2010) sowie den gefährlichen Radikalisierungstendenzen insbesondere unter jungen Muslimen (Salafismus) hat die Polarisierung in der Öffentlichkeit in Sachen Religion spürbar zugenommen.1 Während die einen den Dialog für nutzlos oder gar gescheitert erklären („Multikulti ist tot“), fordern andere mit Blick auf die soziale Integration und den gesellschaftlichen Frieden umso größere Dialoganstrengungen.
Geschichte
Seit den 1960er Jahren löste der Dialog in der römisch-katholischen Kirche und in der ökumenischen Bewegung fast zeitgleich die bis dahin verfolgten Abgrenzungsstrategien gegenüber anderen Religionen ab. Das erstarkte Selbstbewusstsein vieler Angehöriger nichtchristlicher Religionen im Zuge der weltweiten Unabhängigkeitsbewegung und die zunehmende eigenständige Bedeutung der christlichen Kirchen der südlichen Hemisphäre sind nur zwei Aspekte des Wandels, auf den das Zweite Vatikanische Konzil sowie der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) mit den bekannten einschlägigen Texten reagierten.2 Religionsgespräche mit Angehörigen unterschiedlicher Religionen, im Mittelalter vor allem in der Form von Zwangsdisputationen mit Juden und Muslimen, hatte es in der Christentumsgeschichte immer wieder gegeben. Neu war die Einsicht in die prinzipielle Gleichberechtigung der Dialogpartner in den gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen und die Erhebung des Dialogs zur normativen Form der Beziehung. Während die römisch-katholische Kirche im Zweiten Vatikanum eine spezifische Variante des Inklusivismus formulierte, versuchte man sich vonseiten des ÖRK in verschiedenen Dokumenten offener hinsichtlich eines pluralen Ansatzes und verhielt sich eher induktiv-pragmatisch, ohne freilich den inklusivistischen Ansatz zu verabschieden. Die Formel für die Anerkennung von Wahrheit in anderen religiösen Traditionen lautete: Nebeneinander und gemeinsam in der Pilgerschaft auf dem Weg zu Gott („Gemeinschaft der Gemeinschaften“).
Die folgenden Jahrzehnte waren geprägt von zwei „Kopernikanischen Wenden“, einmal der innerchristlichen (Edmund Schlink), zum anderen der religionstheologischen (John Hick). Beide suchen je in bestimmter Hinsicht das Überlegenheitsdenken, die eigene Konfession bzw. die eigene Religion sei allein im Vollbesitz der Wahrheit, aufzubrechen und zu überwinden. Die innerchristliche Wende zielt auf stetige Umkehr (metanoia) hin zum Zentrum Christus, die religionstheologische Wende zielt im Zeichen des religionstheologischen Pluralismus (s. u.) auf Gott bzw. das Göttliche (Ultimate Reality, „the REAL“, oder soteriozentrisch „das Heil“) als den transzendenten Referenzpunkt aller religiösen Traditionen.
Dialogische Praxis
Der interreligiöse Dialog findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Dazu gehören die Begegnungen und die Kontaktpflege in der Nachbarschaft ebenso wie die Planung und die Durchführung gemeinsamer Aktivitäten, die das gegenseitige Kennenlernen und das gedeihliche Zusammenleben fördern; der Austausch auf Expertenebene (theologische Debatten, Akademietagungen) wie auch in besonderen Fällen die Einbeziehung der Dimension der religiösen Erfahrung.3 In jedem Fall meint Dialog mehr als ein Gespräch (griech. dialégomai „sich unterhalten“), sondern eine Form der Kommunikation in der Haltung von gegenseitiger Akzeptanz, Respekt und Anteilnahme, die in der Wertschätzung des Gegenübers als grundsätzlich gleichberechtigtem Partner gründet. Dabei schließt Respekt die Anerkennung von Differenz keineswegs aus, sondern ausdrücklich ein.
Notwendige grundlegende Gemeinsamkeiten sind in Form, Stil und Qualität der Kommunikation im Kontext der gesellschaftlichen Spielregeln zu suchen, nicht in inhaltlichen Übereinstimmungen. Ein transparenter Umgang mit den strukturellen Asymmetrien ist anzustreben.
Theologie
Dialog ist ein Beziehungsgeschehen. Es ist strittig, ob die Wahrheit als solche der Wahrheitserkenntnis vorgegeben ist oder ob sie sich in diesem Beziehungsgeschehen allererst erschließt. Handelt es sich – auf die Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum und Islam bezogen – um voneinander unterschiedene „Veranlassungen, von Gott zu reden“ (Michael Weinrich), so setzen sie als unverfügbare Quellen ein existenziell verbindliches Verhältnis von Gott und Mensch aus sich heraus und stehen damit als solche nicht zur Disposition; sie sind nicht einfach austauschbar. Einzelaussagen sind nicht isoliert zu betrachtende Teile eines Gesamtsystems, jeder „kleinste gemeinsame Nenner“ wird zugleich durch das betreffende Gesamtsystem in einzigartiger Weise qualifiziert.4 In Verbindung mit ihrer je unverwechselbaren konkreten Geschichte bleiben die göttlichen Veranlassungen zugleich der kritische Maßstab für das, was in der jeweiligen Religion als Wahrheit gelten kann. Das Überzeugtsein von der Wahrheit, die sich in Lehre und Praxis einer Gemeinschaft Ausdruck verschafft, sowie das Bedürfnis, diese plausibel zu machen und mitzuteilen (missionarische Ausstrahlung), sind nicht zu problematisieren, sondern gehören zu den Voraussetzungen jeder interreligiösen Kommunikation. Dialog und christliches Zeugnis schließen einander nicht aus.
Im Rahmen der Entwicklung einer Theologie der Religionen hat man sich lange an dem idealtypischen Dreierschema von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus orientiert, das sich jedoch zunehmend als unbefriedigend erwies.
• Der Exklusivismus (Kirchenväter, lutherische Orthodoxie, Karl Barth) wird als dialogresistent angesehen, da er sich im exklusiven Besitz der Wahrheit wähnt und anderen Religionen Wahrheitserkenntnis abspricht.
• Der Inklusivismus (Karl Rahner, Vatikanum II) gesteht anderen Religionen Teilerkenntnisse der Wahrheit zu, hält jedoch daran fest, dass Heil und Wahrheit in unüberbietbarer Gestalt in der eigenen religiösen Tradition zu finden seien.
• Der Pluralismus (Wilfred C. Smith, John Hick, Paul Knitter, Perry Schmidt-Leukel) betrachtet die Vermittlung von Heil und Wahrheit in allen (Welt-)Religionen als gleichwertig. Diese Form der Anerkennung wird freilich durch die Nivellierung, ja die Missachtung des jeweiligen Selbstverständnisses erkauft. Die Wahrheitsansprüche der Religionen werden als bloße Aspektwahrnehmungen auf einen gemeinsamen Urgrund, eine Letzte Wirklichkeit bezogen. Kontradiktorische Widersprüche können daher nur auf der Seite menschlicher Erkenntnis verbucht werden – was die konkreten Glaubensaussagen und -formen in der Konsequenz inhaltlich entleert und auf einer abstrakten Metaebene in einen Inklusivismus höherer Ordnung einordnet. Was sich offen und tolerant gebärdet, stellt sich als doktrinäre Gleichschaltung von reduzierten Teilwahrheiten heraus. Es sind daher berechtigte Zweifel erhoben worden, ob ein pluralistischer Ansatz tatsächlich religiöse Vielfalt ohne radikale Vereinnahmung, das Fremde also wirklich als Fremdes respektieren kann.
Die neuere religionstheologische Diskussion vermeidet die Aporien des Dreierschemas. So spricht man etwa von einem „aufgeklärten Inklusivismus“, um das Anliegen, andere Religionen nicht als defizitäre Gestalten des „Eigenen“ zu betrachten, mit der Einsicht in die unhintergehbare Selbstreferenzialität zu signalisieren. Als „Komparative Theologie“ werden aktuell Verfahren diskutiert, die den Wahrheitsanspruch des eigenen Glaubens mit einer positiven Würdigung anderer Religionen in Verbindung bringen wollen.5
Schließlich wird im Zusammenhang der Weltanschauungsarbeit deutlich, dass Dialog und Apologetik unlösbar miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind – Apologetik verstanden als die „Kunst des Antwortens“, der kontextbezogenen Explikation christlichen Glaubens und dabei insbesondere der Kommunikation des christlichen Glaubens „an den Grenzen“.
Fazit
Dialog ist eine grundlegende christliche Handlungsperspektive, die von der Wahrnehmung der Dialogizität des Menschseins als Aspekt seiner Gottebenbildlichkeit ausgeht. Gott spricht den Menschen an und lässt sich ansprechen (Gen. 3,9ff). In der Solidarität mit allen Menschen und der Offenheit für das uneinholbar vorausliegende Wirken des Heiligen Geistes in den Begegnungen mit Menschen aller Herkünfte (Apg. 10!) entspricht der Dialog dem Inkarnationsgeschehen. Die Unverfügbarkeit der Wahrheit schließt die Möglichkeit der Veränderung der Beteiligten ein. Verbietet sich damit jeglicher imperiale Gestus im Dialog, so ist die „Autorität der Bitte“ (Eberhard Jüngel) die einzige Form von Autorität, die durch Christen im Dialog wirksam wird: „So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2. Kor 5,20).
Religionen sind (als soziale Realitäten) immer ambivalent, gegen Fanatismus nicht immun, und sie können instrumentalisiert werden. Dies darf jedoch nicht den Blick verstellen auf die positiven Kräfte der Sinnstiftung, der Lebens- und Handlungsorientierung, der Versöhnung und der Heilung. Dialog ist Friedensarbeit.
Dabei ist der Rückzug auf das vermeintlich gesicherte Terrain des Bekannten ebenso zu vermeiden wie Strategien der Harmonisierung oder gar Verschmelzung. Eben weil Wahrheitspluralismus unsinnig ist – kontradiktorische Gegensätze können nicht zugleich wahr sein – ist die Anerkennung des Widerstreits von Wahrheitsansprüchen durch die Religionen kein Zugeständnis etwa an Fundamentalisten, sondern Voraussetzung für einen gelingenden Umgang mit den damit verbundenen Differenzen, die es nicht zu abstrahieren, sondern auszuhalten gilt. Was auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zuträglich ist und was nicht, ist in wechselseitig solidarischer Gemeinschaft auf der Grundlage „überzeugter Toleranz“ (Wolfgang Huber) auszutragen.
Friedmann Eißler
Anmerkungen
1 Vgl. Art. 72,3 „Kirche und Staat“ der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft; Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010; Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014.
2 Vatikanum II: Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium Nr. 16 (Denzinger-Hünermann, Enchiridion, § 4140); Erklärung zum Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate Nr. 2 (Denzinger-Hünermann, Enchiridion, § 4196); ÖRK: World Council of Churches (Hg.), Guidelines on Dialogue with People of Living Faiths and Ideologies (Chiang Mai 1977 / Kingston 1979), Genf 1979, deutsch: Leitlinien zum Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien; EZW-Arbeitstext Nr. 19, VI/79, Stuttgart 1979; Ökumenische Erwägungen zum Dialog und zu den Beziehungen mit Menschen anderer Religionen, ÖRK Zentralausschuss, Genf 2002. – Zur ganzen Entwicklung übersichtsweise: Reinhold Bernhardt, Ende des Dialogs?, Kap. 1; Joachim Zehner, Der notwendige Dialog.
3 Zur Unterscheidung zwischen dem Dialog des Lebens, des Handelns, des theologischen Austauschs und der religiösen Erfahrung (spiritueller Dialog) siehe die Verlautbarung Dialogue and Proclamation von 1991 (www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/interelg/documents/rc_pc_interelg_doc_19051991_dialogue-and-proclamatio_en.html, dort § 42, unter Aufnahme eines Vorgängerdokuments von 1984). Beispiele für weitere Dialogformen sind der „innere Dialog“ einer Person, die mehreren religiösen Traditionen begegnet oder ihnen nahe steht, oder der Dialog über den Dialog (Metadialog).
4 Aus diesem Grund können Religion, Gott, Glaube etc. nicht als Allgemeinbegriffe vorausgesetzt werden, vgl. dazu auch Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen. Theologische Leitlinien, EKD-Texte 77, Hannover 2003, 8-10.
5 Christian Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, 96, unter Bezugnahme auf Jürgen Werbick; Friedmann Eißler, Komparative Theologie. Eine Alternative zu bisherigen religionstheologischen Konzepten?, in: MD 12/2011, 449-455 (Literatur!).
Primärliteratur
Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen. Theologische Leitlinien, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 77, Hannover 2003 (www.ekd.de/download/Texte_77.pdf)
Dehn, Ulrich (Hg.), Handbuch Dialog der Religionen. Christliche Quellen zur Religionstheologie und zum interreligiösen Dialog, Frankfurt a. M. 2008 (Sammlung von Quellentexten)
Klarheit und gute Nachbarschaft. Eine Handreichung des Rates der EKD, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 86, Hannover 2006 (www.ekd.de/download/ekd_texte_86.pdf)
Ökumenische Erwägungen zum Dialog und zu den Beziehungen mit Menschen anderer Religionen. 30 Jahre Dialog und überarbeitete Leitlinien, Genf 2003 (mit Datum 1.1.2004 auf:
www.oikoumene.org/de/resources/documents/programmes/interreligious-dialogue-and-cooperation/interreligious-trust-and-respect/ecumenical-considerations-for-dialogue-and-relations-with-people-of-other-religions)
Sekundärliteratur
Bernhardt, Reinhold, Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Beiträge zu einer Theologie der Religionen Bd. 2, Zürich 2005
Böttrich, Christfried/Beate Ego/Friedmann Eißler, Buchreihe zu biblischen Gestalten und Propheten „In Judentum, Christentum, Islam“: Abraham (Göttingen 2009), Jesus und Maria (2009), Mose (2010), Adam und Eva (2011), Elia und andere Propheten (2013)
von Brück, Michael/Whalen Lai, Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog, München 22000
Danz, Christian, Einführung in die Theologie der Religionen, Lehr- und Studienbücher zur Theologie Bd. 1, Wien 2005
Eißler, Friedmann, Abrahamische Ökumene, in: MD 2/2010, 72-76 (Literatur)
Handbuch christlich-islamischer Dialog. Grundlagen – Themen – Praxis – Akteure, hg. von Volker Meißner/Martin Affolderbach/Hamideh Mohagheghi/Andreas Renz, Schriftenreihe der George-Anawati-Stiftung Bd. 12, Freiburg i. Br. 2014
Kuschel, Karl-Josef, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, Düsseldorf 42006
Kuschel, Karl-Josef, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007
Schreiner, Peter/Ursula Sieg/Volker Elsenbast (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen, Gütersloh 2005
Zehner, Joachim, Der notwendige Dialog. Die Weltreligionen in katholischer und evangelischer Sicht, Studien zum Verstehen fremder Religionen Bd. 3, Gütersloh 1992