Ulrich Dehn

Islam im Kontext der Fundamentalismusdebatte

Auch wenn nach wie vor trotz zahlreicher Untersuchungen und Beobachtungen wenig Einblick in den tatsächlichen Einfluss islamistischen Denkens und Handelns möglich ist, bleibt Islamismus eine Herausforderung in Deutschland, aber insbesondere in zahlreichen krisenhaften Regionen der Welt. Wenig hilfreich ist in der Diskussion über diese Phänomene und ihre Hintergründe die begriffliche Fahrlässigkeit und die inflationäre Benutzung des Wortes Fundamentalismus. Das Stichwort ist in diesem Zusammenhang deshalb irritierend, weil sein Bedeutungsfeld auch konservative Positionierungen in einem legitimen Rahmen des öffentlich Zulässigen (wie etwa den Bezug auf Quellen und Ursprünge) beinhaltet, fernab von Terrorismus und anderen rechtsstaatsfeindlichen Umtrieben. Viele andere geistesgeschichtliche Facetten sind ebenfalls in diesem Stichwort enthalten, seitdem die Debatte durch Wilhelm Heitmeyer, Thomas Meyer, Martin Riesebrodt und andere intensiviert wurde. In der wissenschaftlichen Diskussion über Fundamentalismus ist eine große Palette von engen, auf ein bestimmtes religiöses Umfeld bezogenen Definitionen über moralischen bzw. Wertefundamentalismus bis hin zur allgemeinen Mentalitätsbeschreibung zu beobachten. Der Begriff selbst stammt aus dem Umfeld christlicher Gruppen in den USA. In den Jahren 1910 bis 1915 erschien, finanziert von den beiden texanischen Ölmilliardären Lyman und Milton Stewart, eine Heftreihe mit dem Titel „The Fundamentals – A Testimony to the Truth“. Mit diesen Veröffentlichungen protestierten konservative Theologen gegen liberale Tendenzen der damaligen Theologie in den USA, nachdem sich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts Widerstand gegen die modernen Wissenschaften und gegen die Darwinsche Evolutionstheorie geregt hatte. Den Begriff „Fudamentalismus“ prägte Curtis Lee Laws (1858-1946) 1920 in der Zeitschrift „Watchman Examiner“. Er bezeichnete damit eine Gruppe innerhalb der Northern Baptists, die an der Irrtumslosigkeit der Bibel festhielten. Die Bewegung der „Fundamentals“ bezog sich insbesondere auf folgende fünf Programmpunkte: die auf Verbalinspiration beruhende absolute Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Bibel, Jesu Jungfrauengeburt, stellvertretendes Sühneopfer Jesu Christi, die leibliche Auferstehung und die leibliche Wiederkunft Christi. Es folgte 1919 die Gründung der „World’s Christian Fundamentals Association“ auf der Basis dieser fünf Punkte.1 Hier sind die „Fundamentals“ noch eine positiv besetzte Selbstbezeichnung, und die betreffende Bewegung verstand sich selbst als ökumenisch offen und nicht separatistisch.

Diese positiven Besetzungen sind abgelöst worden durch die Benutzung als polemische Fremdbezeichnung, seitdem Fundamentalismus so weitgehend mit islamischem Radikalismus assoziiert wurde, dass bei Bevölkerungsumfragen zu diesem Stichwort zumeist erstrangig Islam (in toto) in den Sinn kommt. Es wäre wissenschaftlich sinnvoll, redlicherweise auf den Begriff des Fundamentalismus zu verzichten, da er nur noch entweder falsch oder als umfassende Chiffre für Inhalte, die mit „Fundamenten“ oder „Wesenhaftigkeit“ nichts oder wenig zu tun haben, verwendet wird. Sinnvoller wäre es, Gruppen oder Strömungen mit jeweils konkreten Attributen zu benennen wie rückständig/atavistisch, antisemitisch, (in diesem oder jenem Sinne) menschenrechtsfeindlich. Die Umständlichkeit eines solchen Verfahrens, zumal dann wenn eine Gruppierung mit mehreren Attributen charakterisiert werden müsste, lässt doch unter Vorbehalten zum Containerbegriff Fundamentalismus zurückkehren, auch wenn unten entwickelt werden wird, mit welcher inhaltlichen Differenzierung und Befrachtung ich dies tun möchte.

Um ins Bewusstsein zu rufen, welche Bedeutungsvarianten inzwischen eine Rolle spielen, sollen zunächst die wichtigsten Aspekte aus der Diskussion der letzten ca. 20 Jahre benannt werden.

Fundamentalismus-Definitionen

1. Eine weit verbreitete Definition ist die des erneuten Rückbezugs auf die Fundamente. Mit Fundamenten sind einerseits die religiösen Schriftgrundlagen gemeint, die als verbalinspiriert betrachtet werden und nicht historisch-kritisch untersucht werden sollen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Chicago-Erklärung von 19782. Das Alte Testament wird anhand einer heilsgeschichtlichen Auslegung als vom Neuen Testament überboten betrachtet. Zum anderen beruft man sich auf einen mutmaßlich reinen und gottgewollten Urzustand zur Stifterzeit, d.h. auf die Urgemeinde in Jerusalem nach den Berichten der Apostelgeschichte, oder für den Islam auf die frühe medinensische Umma um Muhammad anhand des „Vertrags von Medina“3, ein Leben, wie die ersten Jerusalemer Christen oder wie der Prophet es mutmaßlich gelebt haben, allgemein eine Rückkehr zum Reinen und Unverdorbenen. Hier allerdings bewegt man sich im Reich der Projektionen, denn über diesen Urzustand haben wir nur Quellen, die ihrerseits eher Idealentwürfe aufgrund einer wahrscheinlich defizitären Wirklichkeit darstellen als Zustandsbeschreibungen. Zumal auch zahlreiche Reformbewegungen mit fortschrittlichem Anliegen mit der Parole „Zurück zu den Wurzeln“ angetreten sind und ihre Traditionen von korrumpierenden Einflüssen freilegen wollten, ist dies daraufhin zu präzisieren, dass die Art der Projektion und ihre jeweils gezielte Instrumentalisierung im (insbesondere) intrareligiösen Kontext darüber entscheidet, ob ein fundamentalistisches Projekt vorliegt.

Im Christentum gab und gibt es „perfektionistische“ Gruppen und Lebensgemeinschaften, die eine „ursprüngliche“ Lebensform des Christentums leben wollen, so die Amischen Mennoniten, die versuchen, den Lebensstil ihrer Gründerzeit (Ende des 17. Jahrhunderts) beizubehalten, die (am Ende des 19. Jahrhunderts untergegangene) Oneida Community etc. Die christlich-fundamentalistischen Bewegungen in den USA wie auch in anderen Ländern wenden sich in der Regel gegen Feminismus mitunter bis zur Opposition gegen die Ordination von Frauen und beziehen sich auf sexualmoralische Themen: gegen die Anerkennung von Homosexualität und gegen Abtreibung, gegen Ehebruch und Prostitution. Ferner werden Alkoholkonsum, Wettspiel und Diskotheken bis hin zu Kinos kritisiert. Mitunter findet sich bei diesen Bewegungen eine große Sympathie mit dem Staat Israel gekoppelt mit gleichzeitiger Ablehnung der Palästinenser sowie die Befürwortung von offensiv evangelistischer Aktivität gegenüber den Juden.

2. Eine andere Definition sieht die Akzente des Fundamentalismus hauptsächlich in der Frontstellung gegen die Moderne, in der Kritik an der Verdorbenheit, die die Aufnahme neuer Elemente mit sich gebracht hat. Diese Front gegen die Moderne ist jedoch immer nur gegen einige, insbesondere moralisch-ästhetische Aspekte der Moderne gerichtet gewesen, der Hinweis, die gleichzeitige Benutzung von Computertechnik und (im Falle militärischer oder terroristischer Bewegungen) moderner Waffen sei dagegen ein Widerspruch, ist nicht stichhaltig. Der christliche bzw. katholische Antimodernismus fand seinen Niederschlag in den vatikanischen Verlautbarungen (Dekret) Lamentabili und (Enzyklika) Pascendi von Pius X. 1907, von 1910 bis zum 2. Vatikanischen Konzil (1963) gab es den förmlichen „Antimodernisteneid“.4

3. Ein Ansatz, der hauptsächlich von Martin Riesebrodt5 vertreten wird, sieht das Hauptmerkmal des Fundamentalismus im Patriarchalismus und macht dies insbesondere an der Re-Islamisierung Mittelasiens fest. Politische Zentralisierung und Säkularisierung schaffen Entfremdungsprozesse für traditionelle religiöse Milieus. Regionale und lokale Autonomiestrukturen werden unterminiert, Bevölkerungsschichten marginalisiert. Riesebrodt schließt daraus: „Fundamentalismus bietet einen organisatorischen Rahmen sowie eine alternative Lebens- und Bewusstseinsform, die für solche Erfahrungen eine plausible Deutung anbietet. Zugleich bietet er diesen marginalisierten Gruppen sozialen Raum, um eine Gegenkultur zu etablieren und an die nächste Generation weiterzugeben.“ Er schreibt weiter: „Es sind vor allem diese drei Prozesse, welche die Rückkehr zu einer moralischen Ordnung der Gerechtigkeit, Frömmigkeit, patriarchalischer Autorität und Bescheidenheit für breite Schichten attraktiv macht. Der modernistischen Utopie ununterbrochenen sozialen Fortschritts, Wohlstandes und individueller Selbstverwirklichung wird der fundamentalistische Degenerationsmythos entgegengesetzt.“6 Riesebrodt unterscheidet charismatischen Fundamentalismus und legalistisch-literalistischen Fundamentalismus. Der erstere sei relativ homogen und meist in unteren Schichten zu finden, während der letztere eher gesinnungsorientierte sozial gemischte Bewegungen bezeichnet.

4. Nach einer prominent gewordenen These Thomas Meyers (1989) ist Fundamentalismus in erster Linie ein Affront gegen die Aufklärung und ein Rückschritt hinter sie, ein Aufbäumen gegen die Mündigkeit des Menschen. Dies ist eine weithin auch säkular anwendbare Kriteriologie ohne Bezug auf religiöse Systeme. Schon in der Wortwahl wird eine polemische Absicht deutlich: Fundamentalismus wird als Rückfall und regressive Beschneidung geschichtlicher Errungenschaften der neuzeitlichen Selbstbestimmungsmöglichkeiten des aufgeklärten Individuums betrachtet und damit auf die westeuropäische Geistesgeschichte bezogen.7

5. 1998 nimmt Meyer eine deutliche Akzentverschiebung vor und typisiert Fundamentalismus als politische Ideologisierung kultureller Differenz. Seine soziologisch orientierte These versteht sich als Kritik an Konzepten und Inszenierungen, die kulturelle Differenzen fast unvermeidlich in Kampfkonstellationen begreifen. Bei dem, was als „Fundamentalismus“ bezeichnet wird, handele es sich um einen „Ausdruck unbewältigter Krisenerfahrungen in den Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung und Modernisierung“.8 Während Meyers Konzept von 1989 tendenziell der These vom Zusammenprall der Zivilisationen von Samuel Huntington9 zuarbeitete, ist dieser Entwurf eher als Kritik an Huntington zu verstehen.

6. Leugnung der Relevanz alternativer Bezugssysteme und Undiskutierbarkeit des argumentativen Ausgangspunkts: Eine psychologisch orientierte Definition ist einem Online-Lexikon für Ästhetik der Universität Wuppertal zu entnehmen. Hier steht die Unfähigkeit des Menschen, den Ausgangspunkt seiner Vorgehensweise kritisch in Frage zu stellen, im Vordergrund. Er leugnet die Relevanz alternativer Bezugssysteme. Fundamentalismus sei eine „Denkhaltung und Tathandlung, die ihre Einsicht aus höherer, nicht weiter ableitbarer Offenbarung bezieht und die prinzipielle Nichtidentität von intra- und extrapsychischen Vorgängen leugnet. Der typische Fundamentalist setzt die Anfangsbedingungen seines Handelns als Wahrheitswert und von dort aus leitet er konsequent ab. Dabei kann der Wahrheitswert religiöser, ethisch-moralischer, politischer, wissenschaftlicher oder ästhetischer Natur sein, die Folge ist immer gleich: Ausdifferenzierung einer Weltanschauung mit programmatischem Ausschließlichkeitscharakter. Der Fundamentalist ist nicht mehr in der Lage, die eigene Vorgehensweise grundsätzlich zu relativieren, weil er die Relevanz von alternativen Bezugssystemen leugnet. Was für den modernen und aufgeklärten Zeitgenossen eine verhandelbare Position darstellt, ist für den Fundamentalisten eine Frage ums Ganze und das bedeutet: sie ist eben nicht verhandelbar.“10 Auch in Meyers Konzept von 1989 ist dieser Aspekt berücksichtigt: „Fundamentalismus ist eine willkürliche Abschließungsbewegung, die als immanente Gegentendenz zum modernen Prozess der generellen Öffnung des Denkens, des Handelns, der Lebensformen und des Gemeinwesens absolute Gewissheit, festen Halt, verlässliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen zurückbringen soll.“11

7. Schließlich wäre die damit verwandte These zu diskutieren, dass Fundamentalismus allgemein der Versuch des Menschen ist, sich in Zeiten der Desorientierung und der Komplexität des Lebens an etwas Festes zu klammern und wieder Sicherheit der Lebensbezüge herzustellen: Entdifferenzierung, die Ausblendung von Traditionselementen und plakative Hervorhebung bestimmter Einzelelemente im Zuge einer Komplexitätsreduzierung sind Merkmale diesen Typs. Diese These enthält inhaltliche Überschneidungen zu anderen Überlegungen.

8. Ein wichtiges Merkmal fundamentalistischen Denkens ist die manichäische Einteilung der Welt in Freund und Feind, Gut und Böse. Aus dem zivilreligiösen Bereich ist eine solche Einteilung namentlich bekannt vom US-Präsidenten Ronald Reagan, der biblisch-apokalyptische Bilder beschwor, um seine Frontstellung gegen das kommunistische „Reich des Bösen“ zu veranschaulichen, oder von der vorwiegend von muslimisch geprägten Staaten besetzten „Achse des Bösen“, die in der ersten Amtszeit von George W. Bush ein Szenario der US-Administration darstellte. Auch jüdische Extremisten in den israelisch besetzten Siedlungsgebieten sind stark von diesem Denken geprägt. Oft ist dies verbunden mit einem angewandten Endzeiterfüllungsglauben und der Benennung eines sozio-religiösen Führers als verheißenem Messias oder (islamisch) Mahdi (der wiedergekehrte 12. Imam).

9. Die Neigung zu und Benutzung von Verschwörungstheorien indiziert fundamentalistische Argumentationsstrukturen. Seien dies Theorien im guten Glauben aufgrund von „Recherchen“, oft verbunden mit der psychopathologischen Konstellation eines Verfolgungswahns, seien es solche aufgrund bewusster Fälschungen zur gezielten Bekämpfung eines Gegners, wie z. B. anhand der „Protokolle der Weisen von Zion“, eines antisemitischen Fälschungswerks vom Ende des 19. Jahrhunderts.

10. Eine historisierende Form des Fundamentalismus stellt der Traditionalismus dar, der u.a. bei Strömungen am Rande des Katholizismus zu beobachten ist: Es geht um einen Rückbezug auf die Tradition vor dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) mitunter bis zum Tridentinum (1545 bis 1563), eine Wiederbelebung des Antimodernismuseids (der im Zuge des 2. Vatikanums 1963 aufgehoben wurde) etc.12

11. Schließlich kristallisiert sich im Stichwort Fundamentalismus eine binnenreligiöse Dynamik, die anhand eines Ebenenmodells anschaulich gemacht werden kann: Eine heute weithin verbreitete Art des religiösen Redens und Denkens bezieht sich auf eine allgemeine Ebene der Sinnsuche, der Orientierung in der Unübersichtlichkeit der Wirklichkeit, der vermeintlichen Gemeinsamkeit aller religiösen Menschen bzw. religiös Suchenden, einer Wertegemeinschaft. Auf dieser Ebene sind Unterschiede und Eigentümlichkeiten der Religionen und Bekenntnisse nicht von Belang, sie dient der allgemeinen religiös-spirituellen Orientierung, ggfs. auch der von Religionen gezielt eingesetzten niedrigschwelligen Werbung. Davon unterscheidet sich die Ebene der religiösen Identität, die das Spezifische einer religiösen Tradition betont und ihren Bekenntnischarakter nicht preisgeben will: das trinitarische und christuszentrierte Bekenntnis des Christentums, der Glaube an den einen Gott und seinen (letzten) Propheten Muhammad im Islam, die vier edlen Wahrheiten mit dem achtfachen Pfad im Buddhismus etc.13 Eine Vermischung, Verwechslung und gegenseitige Benutzung der Ebenen gehört zum Alltag der religiösen Inszenierung in der öffentlichen Darstellung; dies nicht nur analytisch-kognitiv, sondern mit einem aggressiven, wenn nicht pathologisch überzeichneten Unbehagen wahrzunehmen und als synkretistisches, häretisches Verhalten zu brandmarken, kann als binnenreligiöser Fundamentalismus bezeichnet werden.

Insgesamt zeigt diese Übersicht den Facettenreichtum des Begriffs „Fundamentalismus“, der nicht von jedem Autor pejorativ benutzt wird. „Gewalt“ bzw. „Gewaltbereitschaft“ ist in diesem Spektrum allenfalls ein sekundäres Merkmal radikaler Randgruppen, das „nur einer bestimmten Form des ‚welterobernden‘ Fundamentalismus [eignet], der für die Durchsetzung und Vollstreckung seines absoluten Wissens auf entsprechend militant mobilisierbare sozialmoralische Milieus angewiesen ist“14; sie wird deshalb nicht ausdrücklich definitorisch verankert. Auch stellt sich im Blick auf die einzelnen religiösen Traditionen im Detail noch die Frage, ob spezifische Bezeichnungen wie evangelikal, (ultra-)orthodox, islamistisch etc. jeweils partiell oder vollständig mit „fundamentalistisch“ gleichzusetzen sind.15 Die Definitionen sind gattungsunterschiedlich insofern, als sie religionssoziologische, im engsten Sinne religiöse, psychologische und geistesgeschichtliche Elemente enthalten oder zum Haupt- oder Schwerpunktkriterium erheben. Ein engmaschiges definitorisches Netz wäre sinnvoll, da es auch verhindern könnte, dass im Extremfall Terroristen und unbescholtene religiös Konservative sich unter demselben Begriff wiederfinden. In manchen Fällen, etwa denen einer geistesgeschichtlichen oder psychologischen Verortung (Rückfall hinter die Aufklärung, Widerstand gegen die Moderne, psychologische Disposition der Komplexitätsreduktion), sind in zu hohem Maße subjektive Beurteilungsspielräume des Analysierenden veranschlagt, als dass sie zu zuverlässigen Urteilen eines Fundamentalismussyndroms führen könnten. Insgesamt legt das dünne Eis, auf dem sich die Benutzung des Fundamentalismus-Begriffs angesichts eines großen Interpretationsspielraums bewegt, nahe, nicht noch einmal die Festlegung auf eine Allgemeindefinition zu versuchen, sondern eine Kriteriologie zu erstellen, die Merkmale wahrnehmen und benennen kann, ohne die Kategorisierung „Fundamentalismus“ zu verwenden, die sich trotz der zahlreichen Ehrenrettungen als Chiffre als zunehmend untauglich erweist.

Kernmerkmale und assoziierte Elemente aus dem Bereich der islambezogenen Fundamentalismusdiskussion

Entsprechend ist mein Anliegen nicht, aus den o.g. Definitionen die mir geeignet erscheinende(n) auszuwählen, sondern einen relativ engen (aber allgemeinen, nicht nur islam-bezogenen) Kernbegriff aus diesem Bereich zu eruieren, um den sich ein Ring von abgeschwächten Einzelkriterien legen kann. Ein Denkmodell oder eine Weltanschauungsgemeinschaft, die für Komponenten aus dem Kernbegriff stünde, wäre mithilfe genau dieser Merkmale als „radikal“ (und notfalls als „fundamentalistisch“) zu charakterisieren, während allein Elemente aus dem konzentrischen Ring (assoziierte Elemente) sie ebenfalls, aber in abgeschwächter Form als problematisch und beobachtungsbedürftig einstufen lassen würden.

Elemente des Kernbegriffs können sein: der normative Rückbezug auf ein projiziertes angeblich historisches Idealmodell unter der oben erwähnten Bedingung einer gezielten Instrumentalisierung einer solchen Projektion, der undiskutierbare Umgang mit einer bestimmten Interpretation des begründenden Schrifttums und eine überstilisierende Differenzinszenierung, die auf eine manichäische Innenwelt-Außenwelt-Wahrnehmung hinausläuft.

Als assoziierte Elemente wären zu nennen: Rassismus (z.B. Antijudaismus, Antiislamismus), spezifische Syndrome weltanschaulich überzeichneter16 politischer Kritik (Kapitalismus, Globalisierung, Kolonialismus o.ä.), Menschenrechtsdefizite (Religionsfreiheit, Genderfrage).

Diese Kriteriologie wird in der später folgenden Behandlung einzelner Beispiele zur Beurteilung dienen. Folglich halte ich es für sinnvoll, den Fundamentalismus-Begriff normalerweise zu ersetzen oder zu ergänzen bzw. zu erläutern durch eine konkrete Benennung von Charakteristika etwa im Sinne von integrationshemmend, politisch extremistische Optionen, Förderung von Gegenwelten unter Benutzung von Differenzinszenierung etc.

Versuch einer Typologie zum Islam

Ohne von vornherein eine Zuordnung zu den oben erläuterten Vorschlägen vorzunehmen, soll versucht werden, die unterschiedlichen Mentalitätsmilieus innerhalb des Islam in drei Kategorien bzw. Milieus zu unterteilen.

1. religiöser Konservativismus. In diesem Milieu herrscht eine Befolgung des Koran in einer strengen Interpretation (von einer „wörtlichen“ oder „buchstäblichen“ Befolgung des Koran zu reden ist wegen der Mehrdeutigkeit und Kontextbezogenheit des koranischen Arabisch nicht sinnvoll17). Es wird auf die strikte Befolgung der „fünf Säulen“ geachtet und wenn möglich auch Nahrungsaufnahme nach Halal-Vorschriften18 vorgenommen, d.h. kein Alkohol, kein Schweinefleisch (sowie keine Schweine-Gelatine) und nur Fleisch, für das vom Händler rituelle Schächtung gewährleistet werden kann. Dies läuft im Falle von Restaurantbesuchen oder Einladungen meist auf vegetarische Kost hinaus. Es herrscht ein konservatives Geschlechterrollenbild; ggf. Kritik an einzelnen Maßnahmen der israelischen Regierung.

2. Ideologisierung: In diesem Typ finden sich deutliche Merkmale aus dem Spektrum der obigen Definitionen: Rückbezug auf die Idealvorstellung eines „medinensischen Gesellschaftsmodells“ und eine „islamische Gesellschaftsordnung“, damit verbunden der Wunsch nach einem islamischen Staat unter „Schariatsgesetzgebung“; Kritik an demokratischen Entscheidungsprozessen einschließlich der Kultur der Mehrheitsentscheidungen unter Verweis auf das Schura-Modell des Beratungsprozesses mit dem Ziel von Konsensentscheidungen; Pauschalkritik an Israel und Infragestellung des Existenzrechts des Staates Israel, je mit oder ohne religiösen Antijudaismus.

3. politische Militanz: militanter Antisemitismus verbunden mit einer pauschalen West- und Kolonialismuskritik, Option für Schariatsstaat, Denunziation islamisch geprägter Staaten, die wegen Kooperation mit den USA oder anderen westlichen Nationen als „unislamisch“ kritisiert werden; militärisch/terroristisches Djihad-Verständnis und Gewaltbereitschaft.

Während das 1. Milieu lebensweltlich unauffällig ist und auch normalerweise für Begegnungskontakte und Dialoge mit Angehörigen anderer Religionen zur Verfügung steht, sind die Typen 2 und 3 dem nicht mehr verfassungskonformen Milieu zuzurechnen, der 2. Typ dem nicht-gewaltbereiten und der 3. dem gewaltbereiten (auch wenn die Typisierungen und ihre Implikationen nicht unbedingt die entsprechende Unterteilung der Ämter für Verfassungsschutz widerspiegeln sollen). Ein Versuch der Quantifizierung würde die Typen 2 und 3 zusammen etwa im Bereich der Ein-Prozent-Grenze der in Deutschland lebenden muslimischen Bevölkerung veranschlagen können, während über das unauffällige 1. Milieu aufgrund fehlender quantifizierender Untersuchungen nur im weiten Bereich von ca. 5 Prozent bis zu 40 Prozent spekuliert werden kann. Die verbleibende Mehrheit stellen weithin säkularisierte Muslime dar, die die muslimischen Lebensregeln allenfalls während des Monats Ramadan beherzigen, auch wenn sich nach aktuellen Erhebungen das Gewicht in den letzten Jahren zugunsten größerer Alltagsfrömmigkeit verschoben hat.19

Für den 1. Typ gibt es nur wenige Anhaltspunkte, ihn mit Kriterien aus der Fundamentalismusdebatte in Zusammenhang zu bringen, auch die Koranlektüre ist zwar vielfach von konservativen Grundentscheidungen geprägt, jedoch ansonsten von dem „Pragmatismus“ geleitet, der die unter Muslimen weithin übliche assoziative Form der Kontextualisierung des Koran kennzeichnet. Im klassischen Sinne als „fundamentalistisch“ bezeichnet werden kann der 2. Typ mit seinem Bezug auf Komponenten aus dem Kern- wie auch dem assoziierten Bereich, während der 3., eindeutig gewaltbereite und tendenziell kriminell auffällige Typ nicht mehr in den Bereich dessen fällt, was mit „fundamentalistisch“ zu kennzeichnen wäre. Dies wurde bereits mit den Typenbezeichnungen angedeutet.

Die Idealtypen, die hier geboten wurden, müssen nun mit Beispielen veranschaulicht werden, die sich jedoch nicht auf die drei typischen Milieus beziehen, sondern die Anwendung der Differenzierung in Kernbereich und assoziierte Elemente erläutern sollen. Dies soll exemplarisch geschehen, da vollständige Überblicke entweder den Verfassungsschutzberichten Konkurrenz machen würden oder schon an anderer Stelle geleistet wurden.20 Ich wähle dazu Beispiele aus der öffentlichen Darstellung des Islam in Deutschland, die weithin bekannt sind und im Unterschied zu den vom Verfassungsschutz beobachteten Organisationen Ermessensspielraum in der Beurteilung zulassen: die „Islamische Zeitung“ sowie die Internetseiten www.muslimmarkt.de und www.islam.de.

Die „Islamische Zeitung“

Das derzeit auflagenstärkste islamische Printmedium in Deutschland, die „Islamische Zeitung“ (IZ) mit ihren beiden Standorten Bonn und Berlin, erscheint im Takt von drei Wochen und unterhält eine Online-Ausgabe, mit der eine Mailingliste regelmäßig beliefert wird. Thematisch deckt sie ein breites Spektrum der in der Luft liegenden Stichworte ab und lässt in ausgewählten Pressemeldungen und berichtenden oder kommentierenden Gastbeiträgen unterschiedliche Standpunkte zu Wort kommen. Wenn etwa zum Thema des Karikaturenstreits ein Spektrum von Ansichten zum Zuge kam bis hin zur Berichterstattung über Veranstaltungen zum Thema dieses Streites, weist dies auf ein Konzept hin, das zunächst einer nicht standpunktfestgelegten Zeitung nahezukommen scheint. Die Artikel weisen ihre Quellen aus oder sind namentlich gezeichnet, was die Redaktion/Herausgeberschaft nicht von der Verantwortung für die Inhalte entbindet. Entsprechend kommt auch vor, dass Meinungen am Rande oder jenseits des zulässigen Panoramas geäußert werden, worauf Hansjörg Schmid auf der Basis eines Rechercheprojekts hinweist. Es konnten „antisemitische Anspielungen“ identifiziert werden sowie scharfe Kritik an „Kapitalismus und Globalisierung“21, ferner der Satz „dass etwas falsch war mit Amerika, und etwas falsch war mit der Demokratie an sich“. Kritik an der IZ beschränkt sich nicht auf den Wortlaut von Artikeln der Zeitung, sondern es wurden u.a. Affinitäten ihres Herausgebers Abu Bakr Rieger und anderer Autoren zur Murabitun-Bewegung nachgezeichnet, die wiederum der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland nahe steht. Es handelt sich um eine von dem schottischen Muslim Scheich Abdulqadir as-Sufi al-Murabit gegründete Gruppe, die durch antisemitische und antidemokratische Tendenzen berüchtigt wurde.22 Schmid zieht aus seiner Vermutung den Schluss, dass „es sich um ein Missionsblatt der internationalen Sufi-Sekte der Murabitun“ handele.23 Dies zeigt, dass die IZ jedenfalls zwei Gesichter hat: Zum einen ist sie ein inzwischen auflagenstarkes Erfolgsmodell (mit einem Drittel nichtmuslimischer Abonnenten) mit einer breiten Informationspalette, die für jeden am Islam in Deutschland und internationalen Islam-Diskursen und -Ereignissen Interessierten hilfreich ist, zum anderen weist sie, auch wenn sie sicherlich nicht in toto „islamistisch“ ist, im o.g. Sinne assoziierte problematische Merkmale auf und sollte unter diesem Aspekt wachsam wahrgenommen werden.24 Jedoch sollte die Beurteilung der IZ sich am Wortlaut der Artikel orientieren und nicht am tatsächlichen oder vermeintlichen Hintergrund der Autor/innen, denen auch die Möglichkeit der Distanzierung gegenüber ihren (früheren) Affinitäten zuzugestehen ist.

Das Internet-Portal www.muslimmarkt.de

Ein ähnliches corpus mixtum stellt die weithin wahrgenommene Internet-Seite www.muslimmarkt.de  dar, die sich im wahrsten Sinne des Wortes als „Markt“ mit Informationen und Links zu allen Aspekten des muslimischen Lebens anbietet. Gestaltet und verantwortet von den beiden Brüdern Yavus und Gürhan Özoguz, die nach einigen Inhalten der Website zu urteilen schiitischen Hintergrund zu haben scheinen, finden sich Hilfen auf der Suche nach Firmen, Restaurants, Schulen, Texte zu islamischen Themen, jeweils die Möglichkeiten zu Mail-Diskussionen (Threads), eine Liste von Moscheen und Gebetsstätten, Gebetstexte, zahlreiche Links zu anderen muslimischen Websites.

Yavus Özoguz, promovierter Ingenieur, gab im Herbst 2005 seine langjährige Stelle an der Universität Bremen im Zusammenhang mit dem Skandal um einen Text in der Website, der vielfach als Mordaufruf25 an dem islamkritischen Autor Hans-Peter Raddatz gedeutet wurde, auf. Die Brüder Özoguz wurden einschlägig bekannt durch ihren wenig plausiblen Versuch, Fundamentalkritik an der Politik und dem Existenzrecht des Staates Israel mit der gleichzeitigen Denunzierung des Antisemitismus (genau: Antijudaismus) zu verbinden. In ihrem Buch „Wir sind ‚fundamentalistische Islamisten‘ in Deutschland“, das im Muslim-Markt beworben wird, wird diese Linie in einem Kapitel, das im Internet-Portal gelesen werden kann, vertreten. Die Rubrik „Palästina Spezial“ enthält auch den „Aufruf gegen den Antisemitismus“, in dem zwischen religiösem Judentum und der „rassistischen Ideologie des Zionismus“ unterschieden wird. Zugleich wird unter einem Boykott-Link zum Boykott von Waren aufgerufen (überwiegend aus spezifisch islamischer Argumentation heraus, aber auch auf der Basis anderer Kritikpunkte), so etwa gegen Waren aus Israel (auch dies mit dem Hinweis, dies habe nichts mit Judenfeindlichkeit zu tun), zum Boykott von Nike (wegen kalligraphischer Verunglimpfung des Islam), Coca-Cola, Tele 2 (wegen eines mutmaßlich islam-feindlichen Werbespots), McDonald’s (allgemeine Kritik an der Verwendung von Gen-Technologie), „TAZ“ und „Titanic“ (jeweils wegen mutmaßlich Islam-verunglimpfender Artikel).

Die Rubrik „Mustertext“ unter den „Diensten“ bietet u.a. einen Musterbrief zur Beantragung der Befreiung vom Schwimmunterricht für Mädchen mit Verweis auf ein schiitisches Gutachten, das den Einbezug muslimischer Mädchen in die Beachtung muslimischer Lebensregeln ab dem achteinhalbten Lebensjahr vorsieht, eine, wie die Bundeszentrale für politische Bildung zurecht kommentiert, sicherlich nicht integrationsfördernde Hilfestellung, was offenbar die Betreiber des Portals zu einem ausführlichen Kommentar dieses Angebots veranlasst hat.26

Das Serviceangebot des Portals besticht durch seine große Vielfalt. Es bietet fast zu allen praktischen Fragen islamischen Lebens Hilfestellung an. Hinzu kommt, dass die Webmaster ihre Kritiker in der Website zu Wort kommen lassen bzw. verlinken, wodurch zunächst Offenheit und selbstkritischer Humor signalisiert werden. Andererseits lassen die Demagogie gegen den Staat Israel und zahlreiche ausgeprägte Empfindlichkeiten gegenüber vermeintlichen oder tatsächlichen Islamverunglimpfungen sowie offen integrationshemmende Hinweise und Hilfestellungen das Portal als tendenziell Gegenwelten fördernd, künstlich islamische Empfindlichkeiten schürend und politisch problematisch einschätzen. Meines Erachtens wird dieser Sachverhalt besser beschrieben, wenn man von einem Oszillieren zwischen Kern- und assoziierten Merkmalen spricht als von „islamistisch“ bzw. „fundamentalistisch“. Noch stärker ausgeprägt als bei der „Islamischen Zeitung“ ist die Gratwanderung am Antijudaismus entlang, deren Problematik auch nicht dadurch abgemildert wird, dass die Brüder Özoguz in einem in der Website lesbaren Kapitel ihres Buches selbstironisch die Flucht nach vorne antreten und sich selbst als „fundamentalistische Islamisten“ charakterisieren.

Das Internet-Portal www.islam.de

Die Website des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) www.islam.de, verantwortlicher Redakteur ist ZMD-Generalsekretär Aiman A. Mazyek, gilt als digitales Gesicht eines weithin als seriös anerkannten Dachverbandes, der aber nichtsdestoweniger auch in die Kritik geraten ist, hauptsächlich aufgrund seiner Mitgliederstruktur, die auch der Muslimbruderschaft nahestehende Vereine (Islamische Gemeinschaft in Deutschland, die auf eine Gründung durch den Muslimbruder Dr. Said Ramadan zurückgeht) umfasst. Die Verfassungsschutzämter beobachten antiisraelische Propaganda unterschiedlichen Grades27, andere Beobachter verweisen allerdings auch auf die integrativen und zur allgemeinen Gesellschaft hin geöffneten Aktivitäten, z.B. auf den Aktionsradius des Islamischen Zentrums Aachen.28 Abgesehen von diesem Hintergrund bietet sich die Website islam.de ähnlich wie der Muslim-Markt als Informations- und Serviceportal an und geleitet, ungeachtet kleinerer Unprofessionalitäten und Verzüge in der Aktualisierung29, in Deutschland lebende Muslime und Muslimas durch die Bereiche des Lebens bis hin zur Diskussionsmöglichkeit über wichtige aktuelle Themen (Kommentare zum Film „Tal der Wölfe“, Islamische Charta, Kopftuch etc.). Dies ist ein deutlicher Unterschied zu anderen Portalen von Dachorganisationen wie etwa www.diyanet.org/de (DITIB) und www.islamrat.de, die sich eher als Vereinsportale im engeren Sinne präsentieren. Auch die in der Öffentlichkeit immer wieder eingeforderten Distanzierungen von Terrorakten sind in islam.de (allerdings auch an anderen Stellen) zu lesen sowie andere Presseerklärungen.

Problematische Aspekte jedoch treten auf zum Thema der Geschlechter. In der in der Website beworbenen CD „Islam auf einen Blick“ wird ausführlicher auf Rechte und Pflichten von Mann und Frau eingegangen einschließlich der Bestimmungen zum eingeschränkten Zeugenrecht der Frau und dem Recht des Mannes, im Falle eines Konflikt-Dilemmas in der Familie das letzte Wort zu sprechen, was mit seiner größeren rationalen Kompetenz begründet wird. Im Website-Klick „Was ist Islam?“ wird dies reduziert auf folgende Passage: „Mann und Frau vervollkommnen sich gegenseitig, um in der Ehe einen gemeinsamen Beitrag zum Aufbau einer gesunden Gesellschaft zu bringen. Um den Aufbau einer gesunden Familie zu gewährleisten, verteilt der Islam die Verantwortungen in der Familie zwischen Mann und Frau. Während der Mann für den Unterhalt verantwortlich ist, ist die Frau bemüht, ihre Kinder in einer Atmosphäre der Fürsorge und Liebe zu erziehen, und das Haus zu einem Hort der Geborgenheit zu gestalten.“30

Diese „Verantwortungsaufteilung“, deren Verbindlichkeit im Einzelnen nachgeprüft werden müsste, versteht sich auf der Grundlage, Gleiches gleich, aber auch Ungleiches ungleich zu behandeln, und führt u.a. zur Befreiung der Frau vom Militär- und Feuerwehrdienst. Wenn das islamische Recht, wie Mathias Rohe herausstellt, grundsätzlich in der Lage ist, durch Neuinterpretation der eigenen Quellen die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen31, so wäre es erfreulich, wenn sich dies auch, entsprechend dem Duktus der vom ZMD veröffentlichten Islamischen Charta, auf die islam.de-Erläuterung zum Thema Familie auswirkte, die Muslimen in Deutschland unter den Bedingungen der vom Grundgesetz garantierten Gleichberechtigung von Mann und Frau eine Hilfestellung bieten soll. In Anbetracht dieses assoziierten Merkmals der Nicht-Gleichberechtigung der Geschlechter weist die Website einen Wort-Fundamentalismus im engsten Sinne auf, indem sie hier im Koran formulierten Fundamenten verhaftet bleibt, ansonsten jedoch ist das Portal des ZMD als seriöse Dienstleistung für deutsche Muslime zu betrachten und gibt auch Außenstehenden einen Einblick in aktuelle muslimische Diskurse, u.a. durch einen Nachrichtendienst über eine Mailingliste vergleichbar dem Mail-Service der IZ.

Zusammenfassende Bemerkungen

Die Absicht des Beitrags war, die Benutzung des Fundamentalismus-Begriffs zu modifizieren, indem er mit konkreten Kern- und assoziierten Merkmalen ausgestattet wird, die, wenn möglich, dazu führen sollen, problematische Aspekte aus dem Spektrum der genannten Merkmale je konkret zu benennen, anstatt den Pauschalbegriff „fundamentalistisch“ anzuwenden. Letzteres kann dazu führen, dass pauschale Stigmatisierungen vermieden werden, wenn muslimische Organisationen zwar einzelne Module aus dem Fundamentalismus-Panorama bedienen, insgesamt jedoch einem eher seriösen Bereich zuzuordnen sind, zumal die jeweiligen Merkmale sozialen oder historischen Bedingungen geschuldet sein und temporären Charakter haben können. Fast unmöglich erscheint es, den Fundamentalismus-Begriff einfach so eng zu definieren, dass er in diesem begrenzten Sinne bedenkenlos benutzt werden könnte: Eine solche künstliche Konvention (z.B. religiös: strenger und ideologisierter Bezug auf die „Fundamente“ in den Quellen, oder psychologisch: voraufklärerische Reduktion der Wirklichkeitswahrnehmung) würde sich im gegenwärtigen Stadium der öffentlichen Begriffsverwirrung außer in einem schmalen wissenschaftlichen Diskursfenster kaum durchsetzen. Die behandelten Beispiele aus dem Bereich der öffentlichen Darstellung des Islam in Deutschland haben sich im Sinne der oben erläuterten assoziierten Merkmale als problematisch erwiesen, mit abnehmendem Seriositätsgrad von www.islam.de  über die „Islamische Zeitung“ zum Portal www.muslimmarkt.de. Es steht zu hoffen, dass der entwickelte Vorschlag zu einer Wahrnehmungsschärfung und Versachlichung führen kann.


Ulrich Dehn


Anmerkungen

1 Vgl. Reiner Preul, So wahr mir Gott helfe! Religion in der modernen Gesellschaft, Darmstadt 2003, 88f.

2 Vgl. Reinhard Hempelmann (Hg.), Handbuch der evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, Stuttgart 1997, 370-373.

3 Vgl. Ibn Ishaq, Das Leben des Propheten, aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Gernot Rotter, Kandern 1999 (Erstausgabe 1976).

4 Vgl. Klaus Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus: Christentum, Judentum, Islam, München 1996, 49-71.

5 Vgl. Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990; Ders., Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000.

6 Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, 92.

7 Vgl. Thomas Meyer, Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne, Reinbek 1989; Ders. (Hg.), Fundamentalismus in der modernen Welt, Frankfurt a. M. 1989.

8 Thomas Meyer, Die Politisierung kultureller Differenz. Fundamentalismus, Kultur und Politik, in: H. Bielefeldt / W. Heitmeyer (Hg.), Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, Frankfurt a. M. 1998, 37-66, 65.

9 Samuel Huntington, The Clash of Zivilizations? in: Foreign Affairs 72/1993, New York, 22-49; Ders., Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996.

10 Vgl. www.uni-wuppertal.de/FB5-Hofaue/Brock/Projekte/Lexikon/Fundamen.html

11 Thomas Meyer, Fundamentalismus – Aufstand gegen die Moderne, 18.

12 Vgl. die hilfreiche Übersicht einschließlich eines Plädoyers für einen engen und zugleich differenzierten Fundamentalismusbegriff, der dann auch akademisch und ohne polemische Absicht verwendet werden kann, bei Andreas Grünschloß, Was heißt „Fundamentalismus“? Zur Eingrenzung des Phänomens aus religionswissenschaftlicher Sicht (www.user.gwdg.de/~agruens/fund/fund.html).

13 Ebenen des Religiösen, in: M. Bergunder / D. Cyranka (Hg.), Esoterik und Christentum. Religionsgeschichtliche und theologische Perspektiven (= Festschrift H. Obst zum 65. Geburtstag), Leipzig 2005, 163-175.

14 Andreas Grünschloß, Was heißt „Fundamentalismus“?, Zusammenfassungsabschnitt.

15 Zum Stichwort „evangelikal“ vgl. Reinhard Hempelmann, Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch? in: Materialdienst der EZW 1/2006, 4-15.

16 Das Zusatzattribut der weltanschaulichen Überzeichnung ist wichtig, um nicht die legitimen Argumente von Globalisierungskritikern oder Kritikern einer neoliberalen Weltmarktpolitik zulasten der Länder des Südens unter den Fundamentalismusverdacht geraten zu lassen.

17 Dies ist der Grund, warum Übersetzungen mitunter als Erläuterungen (at-tafsir), nicht als Übersetzungen bezeichnet werden (vgl. u.a. Amir M.A. Zaidan, At-tafsir. Eine philologisch, islamologisch fundierte Erläuterung des Quran-Textes, Offenbach 2000).

18 Das Wort halal heißt „zulässig, erlaubt“, im Kontrast zu haram = „unzulässig, verboten“. Ein kurzer Überblick über die islamischen Speisevorschriften wird geboten in www.islamrat.de/infothek/info/halal-regeln.htm.

19 Vgl. die „Frühjahrsumfrage. Neue Daten und Fakten über den Islam in Deutschland“ des Zentralinstituts Islam Archiv Deutschland, Soest 1.7.2005, 13. Die Teilnahme an den täglichen Moscheegebeten habe im Berichtzeitraum 2004/2005 um 11,1 Prozent auf rund 200.000 Muslime zugenommen, die Teilnahme an den Freitagsgebeten um 11,5 Prozent auf 493.000, nachdem der Moscheebesuch im Vorjahr 2003/2004 durch die Rückkehr/Rückführung von Kriegsflüchtlingen geringer ausgefallen war.

20 Vgl. zuletzt Sarah Albrecht, Islamismus in Deutschland. Gruppen und Tendenzen, in: Materialdienst der EZW 2/2006, 54-65.

21 Was allerdings nur unter den genannten Bedingungen weltanschaulicher Aufladung als fundamentalistisch einzustufen wäre.

22 Vgl. Thomas Lemmen, Islamische Vereine und Verbände in Deutschland, (Friedrich-Ebert-Stiftung) Bonn 2002, 72.

23 Hansjörg Schmid, Ein schwieriges Verhältnis. Muslime und Öffentlichkeit in Deutschland, in: Herder Korrespondenz 2/2006, 75-79, 78; vgl. auch den Web-Artikel im Onlinemagazin Sicherheit heute: Hildegard Becker / Claudia Dantschke, „Djihad“ gegen die Marktwirtschaft, Stand Januar 2004, 2.3.2006. Ich danke Dr. Hansjörg Schmid von der Katholischen Akademie Stuttgart-Hohenheim für hilfreiche Informationen und Hinweise aus seinen Recherchen zur Islamischen Zeitung.

24 Dass die Islamischen Zeitung „ganz auf die Linie Necmettin Erbakans eingeschwenkt“ sei, der die Redaktion noch zu Weimarer Zeiten (bevor sie nach Potsdam umzog) dort besucht habe (so Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, Freiburg i. Br. 32002, 139), ist am Inhalt der Zeitung nicht nachvollziehbar.

25 Der Text im Wortlaut: „Wenn der Islam so ist, wie Herr Raddatz es immer wieder vorstellt, dann möge der allmächtige Schöpfer alle Anhänger jeder Religion vernichten! Und wenn Herr Raddatz ein Haßprediger und Lügner ist, dann möge der allmächtige Schöpfer ihn für seine Verbrechen bestrafen und diejenigen, die trotz mehrfacher Hinweise auf die verbreiteten Unwahrheiten von Herrn Raddatz immer noch darauf bestehen, auch“ (www.freace.de/artikel/200511/l101105b.htm, 9.3.2006). Nach einem Gutachten des Bundeskriminalamtes handelt es sich nicht um einen Mordaufruf, sondern um eine „häufige Verwünschungsformel“ im arabischen Alltag, ein Gutachten des Saarbrücker Orientalisten Gerd Puin kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis, und auch Tilman Nagel und Ursula Spuler-Stegemann sehen hier einen Mordaufruf. Am 17.10.2005 und 7.11.2005 griff die Sendung „Report“ des SWR den Vorgang mit deutlicher Özoguz-kritischer Absicht auf.

26 Bemerkenswert ist, dass im Text des Musterbriefes unter Berufung auf ein iranisches Gutachten (As-Sayyid Ali Al-Husayni Al-Khamene’i) von 1997 (www.muslimmarkt.de/Mustertext/schwimmfrei.htm, 9.3.2006) das Alter für die Erteilung religiöser Rechte und Pflichten auf neun Mondjahre (= achteinhalb Sonnenjahre) herabgesetzt wird im Unterschied zur gängigen Ansetzung ab dem Pubertätsalter (vgl. u. a. www.islam.de/1641.php#5s/fasten_kinder.html, 10.3.2006). Nach der gängigen Ansetzung (nicht nur nach Auskunft des ZMD) muss der in der Regel in der 3. Klasse durchgeführte Schwimmunterricht nicht mit muslimischen Gepflogenheiten kollidieren, so dass viele muslimische Mädchen problemlos am Schwimmunterricht teilnehmen.

27 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres, Abteilung Verfassungsschutz (Hg.), Verfassungsschutzbericht 2004, Berlin 2005, 247-249; Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2004, Düsseldorf 2005, 223f.; Albrecht, Islamismus in Deutschland, 59f.

28 Peter Heine, Halbmond über deutschen Dächern, München 1997, 130-132. Das Islamische Zentrum Aachen (IZA) ist allerdings seit 1981 nicht mehr Mitglied der IGD. Dem ehemaligen Vorsitzenden des ZMD, Dr. Nadeem Elyas, der Mitglied im Vorstand des IZA-Vereins ist, wurde mehrfach Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft nachgesagt, was aber nie belegt werden konnte.

29 Die erneuerte Moscheeliste, die ein Filet-Stück der Website sein soll, ist nicht abrufbar (17.3.2006).

30 Vgl. www.islam.de/72.php, 17.3.2006.

31 Mathias Rohe, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, Freiburg i. Br. 2001, 59.