Benjamin Idriz, Stephan Leimgruber, Stefan J. Wimmer (Hg.)

Islam mit europäischem Gesicht. Perspektiven und Impulse

Benjamin Idriz / Stephan Leimgruber / Stefan J. Wimmer (Hg.), Islam mit europäischem Gesicht. Perspektiven und Impulse, Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer 2010, 256 Seiten, 17,90 Euro.


Die „Deklaration europäischer Muslime“ von Mustafa Cerić, Oberhaupt der bosnischen Muslime, ist fünf Jahre alt und bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Dem will der Band des Cerić-Schülers Idriz, Imam im bayerischen Penzberg, und seiner beiden katholischen Mitherausgeber abhelfen, indem er das Dokument mit Stellungnahmen aus katholischer (Lothar Bily), evangelischer (Rainer Oechslen) und islamischer (Aziz Hasanović) Sicht erneut zur Diskussion stellt. Hinzu kommen ergänzende Beiträge zum Islam in Europa in Geschichte und Gegenwart, ein Plädoyer für islamischen Religionsunterricht (Stephan Leimgruber), die konkrete Vision einer gemeinsamen „Islamischen Religionsgemeinschaft in Deutschland“ (Benjamin Idriz) sowie ein Interview zur Arbeit der Penzberger Muslimgemeinde (Gönül Yerli).

Zur gefälligen Aufmachung samt Lesebändchen steht das extrem selektive, auf zwei Seiten nur die beiden Einzelthemen Leimgrubers berührende „Literaturverzeichnis“ in auffallendem Kontrast; auch das an sich löbliche Glossar ist nur mäßig zuverlässig. (Hat am Ende die Eile über die Sorgfalt gesiegt?) Doch zu den Inhalten! Ein aus Sicht des Rezensenten erhebliches Defizit muss auch da gleich benannt werden, weil es den Gesamtduktus prägt: Die Einleitung von Cerić zur Deklaration, die im Original mehr als zwei Drittel des Textes ausmacht, wird nicht abgedruckt und bleibt weitgehend unbeachtet. (Dies gilt auch für die Erstveröffentlichung auf Deutsch in „Blätter Abrahams. Beiträge zum interreligiösen Dialog“ 6/2007, 7-15, auf die sich einige Autoren beziehen.) Dabei stellt sie den entscheidenden Interpretationsschlüssel für die Erklärung dar, während diese selbst – erwartungsgemäß – zwar richtige und wichtige Perspektiven aufzeigt, jedoch insgesamt auf Konsens bedachtes Geben und Nehmen formuliert. Einzig Hansjörg Schmid, dessen differenzierter Beitrag zur Bedeutung des bosnischen Islam für Europa ohnehin die sachlich ergiebigste Lektüre bietet, macht immerhin in einer Fußnote auf das Fehlen des Textes aufmerksam und bemerkt, dass Cerićs Brückenschlag vom westlich-philosophischen Begriff des „Gesellschaftsvertrags“ zum islamisch legitimierten „Haus des (Gesellschafts-)Vertrages“ „nicht unproblematisch“ sei. Cerić argumentiere für ein stark kommunitaristisches Modell. Oechslen bezieht sich zwar an wenigen Stellen auf das Vorwort der Deklaration, kann aber mit dessen islamischer Hermeneutik offenbar nichts anfangen, jedenfalls geht er an den eigentlichen Argumenten gezielt vorbei.

Im Grunde kann es nicht verwundern, zeigen doch einige Beiträge in fast schon typischer Weise die „westliche“ Brille, die nach wie vor die Infragestellung des Westens durch Muslime überhaupt nicht wahrnimmt und die westliche Demokratie – oder die eigene Tradition – für das Maß aller Dinge hält. Der blinde Fleck führt zu dem geradezu paradoxen Phänomen, dass man kaum kritische Äußerungen wagt, dafür aber mit erschreckend paternalistischem Gestus die Annäherung der Muslime an die „Strukturen und Gegebenheiten“ einer plural-säkularen Gesellschaft bemisst (Bily). Woher wissen die Autoren denn so genau, dass eine „unumgängliche Erneuerung und Modernisierung“ des Islam zur „Eingliederung“ in diese Strukturen führen wird – und dies in Übereinstimmung mit dem „innersten Wesen und Anliegen des Islams“ (Bily)? Dass mehr Selbstreflexion die Muslime aus „geistiger Selbst-Ghettoisierung“ nach „Europa“ holt? Dass Muslime sich mit den Mitteln der Vernunft „an den Kontext des ‚europäischen Gesellschaftsvertrages’“ anpassen wollen (Oechslen)?So bekommt man einige der grundlegenden Problemstellungen gar nicht zu Gesicht. Denn in der Tat geht Cerić von Ausnahme- bzw. Erweiterungsregelungen in Bezug auf die Scharia aus (nicht etwa von einer Transformation derselben), die auf den Ideen des u. a. von Taha J. al-Alwani (USA) formulierten Minderheitenrechts für Muslime im Westen aufbauen.

Das „Haus des Vertrages“ hat Gemeinsamkeiten mit dem „Haus der Bezeugung“, für das Tariq Ramadan wirbt. Yusuf al-Qaradawi (s. dazu MD 5/2010, 170ff) vertritt ähnliche Vorstellungen, was den islamisch legitimen („missionarischen“) Aufenthalt von Muslimen im nichtmuslimischen Gebiet angeht. Die unterschiedlichen Ansätze laufen auf ein religiös definiertes Kollektivrecht für Muslime in Europa hinaus, weil und sofern Muslime nicht die Mehrheit ausmachen. Dies wird deutlich, wenn man sich die einzelnen Formulierungen etwas genauer anschaut. Sie zeigen, dass der Islam als umfassende Glaubens- und Lebensweise gilt, die weder dem Orient noch dem Okzident zuzuordnen sei, sondern gleichsam für alle gültig darüber stehe. Als solche sei sie vereinbar mit West und Ost. Es ist von der Notwendigkeit die Rede, dass Europa „die islamischen Werte“ akzeptiere, ebenso von der Verpflichtung der Muslime, den Islam dem Westen als „universale Weltanschauung“ zu präsentieren. Die Deklaration spricht nicht allgemein von „den Menschenrechten“, sondern von „Grundwerten“ der Menschenrechte sowie konkret von dem jedem Menschen zustehenden Recht, „dass seine fünf notwendigen Rechte verteidigt werden“ (so die in Teilen klarere arabische Fassung), nämlich: Leben, Glauben (wörtlich: Religion, din), Freiheit (wörtlich: Vernunft), Eigentum und Würde (auch: Ehre; traditionell insbesondere der Frauen). Aus diesen fünf Prinzipien besteht klassisch die Intention der Scharia. Die Bewahrung dieser Intention ist maslaha, das Eintreten für das Gemeinwohl der Muslime. Darum geht es. (Idriz, der sich hier übrigens nicht so unabhängig zeigt wie in MD 10/2010, 369ff: „Auch das im Westen entwickelte Wertesystem schützt diese Rechte“, 196.) Eine aktuelle Gülen-nahe Zeitschrift erklärt dies „als eine Form des Dschihads“. Von daher wären weitere Details zu befragen, z. B. wird im Deutschen kurzerhand mit „Rechtsstaatlichkeit“ wiedergegeben, was in der arabischen Fassung als „Geltung des gerechten Gesetzes“ erscheint – was wiederum wie das englische „rule of law“ mindestens mehrdeutig ist.

Kurzum: Die aus der Deklaration sich ergebenden Anfragen in Bezug auf unser Verständnis von Europa werden nicht substanziell bearbeitet bzw. nur dahingehend, dass dem Islam als Teil Europas Anerkennung widerfahren und seine Institutionalisierung gefördert werden soll. Unter diesem Gesichtspunkt liefern freilich Stefan J. Wimmers Übersicht über die islamisch-europäische Geschichte sowie insbesondere Dzevad Hodzićs Beitrag über die Bedeutung des bosnischen Reformers Husein Djozo (1912-1982) wichtige Aspekte, die in der weiteren Diskussion Beachtung finden sollten. Dennoch legt sich als Fazit nahe: Mit dem „europäischen Gesicht“ des Islam ist letztlich das bosnische gemeint (224f). Das Buch gehört eher in den Rahmen der Europapolitik des Großmuftis Cerić, als dass es zur notwendigen, ebenso konstruktiven wie kritischen Auseinandersetzung mit den beschriebenen und vertretenen Positionen anleitet.


Friedmann Eißler