Johannes Kandel

Islam ohne Islamismus? Was nicht sein darf ...

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In der Wiener Zeitung „Die Presse“ unternahm die Ethnologieprofessorin Ingrid Thurner im Februar 2013 einen Generalangriff gegen die Verwendung des Begriffes Islamismus.1  Sie war schon in der Vergangenheit durch streitbare Beiträge gegen vermeintlich grassierende islamophobe Tendenzen in Österreich und Deutschland aufgefallen und hatte auch gegen ein Burka-Verbot Stellung bezogen. Nun forderte sie die Abschaffung des angeblich pauschalen und diskriminierenden Begriffes des Islamismus.2  Ihre Argumentation ist oberflächlich, polemisch, streckenweise naiv und fehlerhaft, so z. B. wenn sie den Begriff Islamismus als „jung“ bezeichnet, der „irgendwann nach 9/11“ entstanden sein soll. Diese Behauptung zeigt, dass Thurner die lange Fachdiskussion zum Islamismus nicht kennt und stattdessen über die Nutzlosigkeit von „-ismen“ philosophiert. Man bezeichne ja auch konservative Vertreter aus dem Christentum nicht als „Christisten“ (Lutheristen, Protestantisten etc.). „Angehörige des Islam“, für die „das Religiöse einen konzeptuellen Rahmen für das Politische“ liefere, so Thurner, strebten Werte an, die „auch mit westlichen kompatibel“ seien, „wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung: statt Zensur Freiheit der Rede, statt Privilegien einiger Partizipation aller, statt Diktat von oben breite öffentliche Diskussionen“. Was sie hier so apodiktisch feststellt, ist jedoch Gegenstand sehr weit in die Vergangenheit zurückreichender heftiger Kontroversen. In der kritischen Diskussion geht es ja nicht nur um Islamismus, sondern eben auch um den realdominanten Islam, d.h. den in den wichtigsten autoritativen Lehrstätten (z. B. Al-Azhar, Deoband) und zahllosen Moscheen vermittelten Islam. Dieser Islam, der sich in den maßgeblichen Interpretationen der religiösen Kerndoktrinen und weltweit in religiösen Praktiken und gesellschaftlichen Wertvorstellungen von zahllosen Muslimen zeigt, begründet m. E. ernsthafte Zweifel an seiner Vereinbarkeit mit Menschenrechten, Rechtsstaat, Pluralismus und Demokratie. Die Debatten um die Defizite dieses Islam und um eine Reform im Sinne eines „progressiven Islam“ haben dies deutlich herauskristallisiert.3

Dass Islam mit Islamismus nicht einfach gleichgesetzt werden darf, ist im Fachdiskurs unumstritten, aber es ist geradezu absurd, Zusammenhänge zwischen Islam und Islamismus leugnen zu wollen und die Abschaffung des Begriffes zu fordern. Es gibt eine offene und kontroverse Debatte darüber, wie Islam und Islamismus aufeinander bezogen sind. Hier hätte sich Ingrid Thurner beteiligen können, anstatt mit billiger Polemik der Allianz jener beizutreten, die aus unterschiedlichen Motiven und von verschiedenen Interessenlagen aus seit Langem die Delegitimierung des Begriffes betreiben und damit Analyse und Bekämpfung von Islamismus erheblich behindern. Diese unorganisierte, aber medienwirksame Diskursallianz von Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten und Interessenvertretern muslimischer Gruppierungen meldet sich häufig mit dem pathetischen Anspruch zu Wort, einen Beitrag zur „Versachlichung“ und „Differenzierung“ des Diskurses zu leisten. Die eigentliche Absicht ist der Kampf gegen das, was die Protagonisten der Allianz für „Islamkritik“ halten, die sie für vermeintlich exorbitant gewachsene „Islamfeindschaft“ mitverantwortlich machen.4  Ihre Attacken folgen verschiedenen Argumentationslinien. Nur einige der wichtigsten sollen hier genannt werden:

  • Idealisierung des Islam als Religion des Friedens und der Barmherzigkeit;
  • Verschweigen und/oder Relativierung der „dunklen Seiten“ der Weltreligion Islam(z. B. in puncto Menschenrechte, Demokratie und Gewalt);
  • Behauptungen von vermeintlich weit verbreiteter „Islam- und/oder Muslimfeindschaft“ in Europa;5  Stigmatisierung der Kritiker als islamophob oder muslimfeindlich.
  • Und schließlich wird in zunehmendem Maße die Sachgemäßheit des Begriffes Islamismus bestritten und ein Zusammenhang von Islam und Islamismus entweder ganz geleugnet oder, wenn er denn analytisch zugestanden wird, als „Missbrauch“ der Religion Islam gedeutet.

„Islamismus“ abschaffen?

Die radikalste Argumentation zielt darauf, den Islamismusbegriff als analytisch ungeeignet und politisch diskriminierend gänzlich abzuschaffen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich islamistische Gruppierungen hierzulande mit besonderem Eifer für die Eliminierung des Begriffes einsetzen. Sie haben die demokratisch-rechtsstaatlichen Bedingungen in Deutschland bislang erfolgreich zum Ausbau ihrer Kommunikationsnetze, medialen Einfluss-Strategien und ihres politischen Lobbyismus nutzen können. Da aber bis dato islamistische Organisationen und Personen als Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Ordnung gelten, müssen sie weiterhin Beobachtung, Einschränkung ihres Aktionsraumes und ggf. Verbot befürchten. Schließlich sind seit 9/11 einige Organisationen verboten bzw. mit Betätigungsverbot versehen worden (so z. B. die Kaplan-Gruppe und Nachfolger, Hizb-ut-Tahrir, der Verein „Al-Aqsa“ und weitere der Hamas nahestehende Spendenvereine, die zur Milli Görüş gehörende „Internationale Humanitäre Hilfsorganisation“, das „Multikulturhaus“ in Ulm und die Salafistengruppe „Millatu Ibrahim“).

Doch Angriff ist gerade für Islamisten die beste Verteidigung. Das gilt in erster Linie für die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG). Bekanntlich wird die IGMG seit Langem vom Verfassungsschutz beobachtet, was sie seit Jahren als vermeintlichen Angriff auf „den Islam“ zu denunzieren versucht und darin gelegentlich professorale Unterstützung erfährt (z. B. durch Werner Schiffauer).6  Sie möchte endlich aus der „Schmuddelecke“ heraus und sich als religiöse muslimische Organisation im „Dialog“ mit den Repräsentanten von Staat, Kirchen und Zivilgesellschaft empfehlen. Deshalb muss man sich vom „Islamisten-Image“ befreien und unternimmt dies mit einer weit gefächerten Strategie, zu der auch der Kampf gegen den Islamismus-Begriff gehört. In einer Pressemitteilung vom 1. September 2012 erklärte die IGMG: „Zum einen ist der Begriff ‚Islamismus‘ gänzlich ungeeignet, gegen Extremismus vorzugehen. Keine Islamische Religionsgemeinschaft könnte sich vor die eigene Gemeinde hinstellen und sagen, man bekämpfe den ‚Islamismus‘ ... dieser Begriff prangert unweigerlich auch den Islam als Religion an und stellt ihn als Gefahr dar. Ein Zustand und eine Behauptung, die niemand akzeptieren kann ... Fakt ist: Keinem Muslim leuchtet bis heute ein, was mit dieser ‚Unterscheidung’ genau gemeint ist. Die allgemeine Wahrnehmung ist und bleibt die gleiche: Muslim gleich Gefahr gleich Angst. Das bestätigen auch die regelmäßigen Umfragen über Muslime. Hinzu kommt, dass die den Innenministerien unterstehenden Sicherheitsbehörden diesen Begriff dermaßen verwässert haben ..., dass darunter fast alle Formen einer bewussten muslimischen Religiosität verstanden werden. So bauen die Radikalisierungsszenarien und Vorfeldkonstruktionen des Bundesinnenministeriums eine Kette vom gläubigen Menschen zum Terroristen auf und stellen alle Muslime unter Generalverdacht.“7  Und der stellvertretende Vorsitzende der IGMG, Mustafa Yeneroglu, forderte im Februar 2013 Innenminister Friedrich auf anzuweisen, „dass ihm untergebene und weisungsgebundene Ämter den Begriff ‚Islamismus‘ nicht verwenden. Gerade diese Behörden sind es, die durch Verwendung und Vermengung mit muslimischer Religiosität maßgeblich dafür gesorgt haben, dass es eine islamfeindliche Stimmung in Deutschland gibt.“8

 Milli Görüş unterstellt den Sicherheitsbehörden seit vielen Jahren die Erzeugung von „Generalverdacht“ und Feindschaft gegenüber gläubigen Muslimen und entzieht sich weitgehend der Diskussion um islamisch motivierten Extremismus. Die IGMG verweigert sich auch nur dem Gedanken, dass es für Islamisten zur Legitimation ihrer politischen Orientierungen Anknüpfungspunkte in den Kerndoktrinen und Traditionen des Islam geben könne. Der Islam wird als unantastbar und nicht kritisierbar dargestellt. So sprach z. B. der Vorsitzende der IGMG, Kemal Ergün, in seiner Grußbotschaft zum Mawlid an-Nabawi (Geburtstag Mohammeds) vom Propheten Mohammed als einem Menschen, „den wir uns in jeder Hinsicht zum Vorbild nehmen“.9  In jeder Hinsicht! Die sira (das Leben) des Propheten wird sichtbar idealisiert, was im „Mainstream-Islam“ breiten Rückhalt findet und bis heute eine historisch-kritische Sicht Mohammeds grundsätzlich verhindert.10

Der Vertreter der IGMG verfolgte beharrlich bei den Zusammenkünften des „Gesprächskreises Sicherheit und Islamismus“ bei der Ersten Deutschen Islamkonferenz 2006 bis 2009 (offiziell als Mitglied des Islamrates registriert) eine Blockadetaktik. Mit Erfolg, denn es war nicht möglich, im Rahmen des Gesprächskreises zu einem Konsens im Blick auf den Islamismusbegriff zu gelangen. Das scheint sich auch in der zweiten Staffel der Deutschen Islamkonferrenz so fortzusetzen. Extremistische Einstellungen in muslimischen Kreisen und terroristische Aktionen, die ganz offensichtlich von Muslimen ins Werk gesetzt wurden, haben nach Auffassung der Milli Görüş nichts mit dem Islam zu tun. Eine solche Haltung ist nicht nur völlig realitätsblind, sondern politisch inakzeptabel. Der Verdacht liegt nahe, dass die IGMG davon ablenken will, dass es in ihren Kreisen zahlreiche Mitglieder gibt, die den verstorbenen Gründer der Bewegung, Necmettin Erbakan, verehren und sein islamistisches Erbe weitertragen, insbesondere auch unter Einschluss seiner antisemitischen Positionen.

Die von Aktivisten der islamistischen Murabitun-Sekte herausgegebene „Islamische Zeitung“ (IZ) polemisiert seit Jahren gegen den Begriff Islamismus, der einerseits als „letztlich unbestimmter Begriff“ im Nebel gelassen und andererseits dann doch definiert wird, z. B. als „eine Mischgeburt aus Islam, den politischen Lehren der westlichen Ideologie und den Verführungen moderner Organisationstechnik“.11  Immerhin wird hier eingeräumt, dass Islamismus doch irgendetwas mit Islam zu tun haben könnte. IZ-Redakteur Khalil Breuer konstatiert jedoch kategorisch: „Eine konkrete Bedrohung der Demokratie durch den ‚Islamismus’ ist aus Sicht der Muslime nichts anderes als bodenlose Übertreibung.“12  Chefredakteur Abu Bakr Rieger räumt dagegen eine Bedrohung durchaus ein, hält aber die Gefahr durch die destruktiven Kräfte des „Kapitalismus“ (sic) für genauso schlimm. Seltsam ist auch, dass Breuer und andere IZ-Redakteure, die wiederholt den vermeintlich gefährlichen „Überwachungsstaat“ beklagen, gerade dessen Möglichkeiten der „komplexen Kontrolle“ als Argument dafür ins Feld führen, dass die Gefahr des Islamismus dann doch nicht so dramatisch sei. Diese widersprüchlichen Aussagen zeigen, dass es der IZ nicht darum geht, das Phänomen Islamismus ernsthaft zu diskutieren. Es geht um Kleinreden, Beschönigen, Verharmlosen, Verdrängen und Ablenken.

Auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland, dessen widersprüchliches und demokratie-defizitäres Grundsatzdokument (die „Islamische Charta“ von 2002) trotz vielfacher Revisionsankündigungen immer noch in ursprünglicher Gestalt gilt, beteiligt sich an der Delegitimierung des Islamismusbegriffes. Generalsekretär Aiman Mazyek spricht nur noch von „sogenanntem Islamismus“ und verweigert sich beharrlich einer konsequenten Extremismusbekämpfung mit fast denselben Argumenten wie Milli Görüş. Stattdessen bastelt er mit großem Einsatz an dem Konstrukt „antimuslimischer Rassismus und Extremismus“ und fordert wiederholt die Erfassung von „Islamfeindlichkeit“ als gesonderten Straftatbestand.13

Zunehmend problematisiert auch die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) den Begriff Islamismus und verlangt, man möge stattdessen von „religiös begründetem Extremismus unter Muslimen“ sprechen.14  Die Absicht ist deutlich: Jeder Zusammenhang von Islam und Islamismus soll bereits auf der Ebene des Begrifflichen getilgt werden. Bei den Sicherheitsbehörden, durch den NSU-Skandal schwer angeschlagen, scheinen die Bemühungen Wirkung zu zeigen. Innenminister Friedrich räumte in einem Interview mit der türkischen Zeitung Zaman ein, dass sich solche Begriffe „nicht so leicht durch staatliche Eingriffe ändern“ ließen.15 Wie lange die deutschen Behörden dem Druck der islamischen Lobby noch standhalten werden, ist ungewiss. Ein Blick über die Grenzen lässt nichts Gutes erahnen. In den USA hat die Regierung Obama z. B. bereits offiziell auf den Terminus „islamischer Terrorismus“ verzichtet. Auch von Islamismus ist kaum mehr die Rede. Hier hat die beharrliche Lobbyarbeit verschiedener islamistisch orientierter Personen und Organisationen Wirkung gezeigt. Zahlreiche Repräsentanten des (der Muslimbruderschaft nahestehenden) Council of American Islamic Relations (CAIR) und des Muslim Public Affairs Council (MPAC) haben – freundlichen Einladungen folgend – das Weiße Haus besucht und offenbar erfolgreich dafür gesorgt, den Zusammenhang von Islam und Islamismus zu verschleiern. Seit geraumer Zeit wird in offiziellen Dokumenten (Briefings, Studien, Trainingsmanuals für „Counterterrorism“ etc.) und in Reden von Offiziellen nur noch allgemein von „violent extremism“ gesprochen.16

Der neue, von Präsident Obama über den grünen Klee gelobte CIA-Chef John Brennan ist bislang nur dadurch aufgefallen, dass er islamkritische Positionierungen zu verhindern versuchte. Der grauenhafte Terroranschlag von Boston im April 2013, dessen Urheber ganz offensichtlich über einen langen Zeitraum islamistisch radikalisiert wurden, hat keineswegs zu einem Umdenken geführt. Unmittelbar nach dem Anschlag setzte die schon hinlänglich bekannte Verharmlosung und Vernebelungsstrategie ein. Obama vermied das Wort „Terrorismus“ so lange, bis die Fakten nicht mehr zu leugnen waren. Die islamistischen Täter hatten sich u. a. durch das im Internet frei kursierende Al-Qaida-Magazin „Inspire“ zum Bombenbau anleiten lassen. Man fragt sich, was noch geschehen muss, um den Verantwortlichen die wahrhaft tödliche Bedrohung durch islamistische Ideologien vor Augen zu führen.

Auch die britischen Behörden tun sich schwer mit wirkungsvoller Bekämpfung islamistischer Ideologien und Radikalisierungen. Das Home Office kommt in seiner „Counterterrorism Strategy“ weitgehend ohne den Begriff Islamismus aus, obwohl gelegentlich von „islamist terrorism“ die Rede ist. Keine einzige Publikation weist im Titel den Begriff Islamismus auf.17 Ähnlich abstinent ist das britische Justizministerium. Auch hier wird vornehmlich von „radicalisation“ und „violent extremism“ gesprochen.18 Es ist skandalös, dass es britischen Juristen immer wieder gelingt, die Abschiebung des dschihadistischen Hasspredigers Abu Qatada zu verhindern. Abu Qatada lebt mit seiner Familie seit zehn Jahren (!) unbehelligt in London, auf Kosten des britischen Steuerzahlers. Die BBC ist auch sehr vorsichtig geworden und versucht, „Missverständnisse“ dadurch zu vermeiden, dass fast ganz auf den Begriff Islamismus verzichtet wird, während sonst in den Qualitätsmedien immerhin noch von Islamismus die Rede ist, der sodann scharf von „Islam“ abgegrenzt wird.

Islamismus ist „Missbrauch“ des „wahren“ Islam

Vertreter dieser Argumentationslinie bestreiten nicht, dass Islamismus als radikale, extremistische Variante des Islam wirklich existiert. Sie beeilen sich aber gleichzeitig mitzuteilen, dass Islamismus einen eklatanten Missbrauch oder gar eine Perversion der Religion Islam darstelle und dadurch die Religion des Friedens, der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit in Misskredit bringe.19  Diese normative, moralische Deutung des Islamismus, aus welchen Motiven auch immer, ist natürlich legitim, aber für die Analyse des Islamismus nicht gerade hilfreich. Denn sie unterstellt die Existenz eines „wahren“ Islam, von dem Islamismus eben sträflich abweicht. Abgesehen von der essentialistischen Zuschreibung („der wahre Islam“) steht diese Argumentation in der Gefahr, die sorgfältige Analyse des Zusammenhangs der „Abweichung“ mit dem real vorfindlichen Islam zu vernachlässigen. Die vermeintlich „wahre Gestalt“ des Islam wird häufig als eine stark idealisierte Version des Islam vorgestellt.20  Diese Idealgestalt erscheint dann umso strahlender und unantastbarer, je stärker der „Missbrauch“ angeprangert wird. Damit entzieht man sich der sicherlich unangenehmen und ärgerlichen Bemühung, in den aktuell gelehrten religiösen Kerndoktrinen des Islam und dem alltagsweltlich gelebten Islam inhaltliche Anknüpfungspunkte für Islamismus zu finden. Aber nur die Aufdeckung solcher ist die Voraussetzung für eine wirksame geistige Auseinandersetzung mit Islamismus und schließlich auch für seine politische Bekämpfung.

Islamistische Ideologie als Basis für „radikale“ und „gemäßigte“ Islamisten

Es ist in der Islamismus-Forschung Konsens, dass Islamismus kein monolithischer Block ist, sondern dass wir sehr genau auf Binnendifferenzierungen achten müssen. Wir können die verschiedenen islamistischen Bewegungen, Gruppen und Fraktionen z. B. nach ethnischer und nationaler Herkunft, religiös-kultureller Orientierung (Schiiten und Sunniten), tribalen Traditionen und politisch-strategischen Konzeptionen differenzieren und beschreiben.21  Trotz dieser nachweisbaren Unterschiede gibt es gruppenübergreifende Gemeinsamkeiten, die es rechtfertigen, einen Gattungsbegriff wie Islamismus zu bilden. Die Verwendung des Gattungsbegriffes ist heuristisch nach wie vor hilfreich, weil mit Islamismus klar identifizierbare politische Ideologien und praktisch-politische Bewegungen beschrieben werden können.

Islamismus ist eine extremistische politische Herrschaftsideologie, die politische Herrschaft exklusiv aus der Religion ableitet. Die staatliche Ordnung und die gesellschaftlichen Verhältnisse bis in die privaten Lebenswelten der Menschen sollen von der Scharia, verstanden als das geoffenbarte, unveränderliche Gesetz Gottes in literalistischer (= fundamentalistischer) Auslegung, beherrscht werden. Eine Trennung von Religion und Staat, basierend auf dem Prinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates, wird grundsätzlich abgelehnt. Islamisten erheben einen exklusiven Wahrheits- und politischen Geltungsanspruch ihrer Version von Islam: Sie allein verfügen über den „wahren“ Zugang zur göttlichen Offenbarung und leiten aus diesem Wahrheitsmonopol die Gestaltung von Staat und Gesellschaft ab. Sie verstehen sich als Erben der „goldenen Ära“ des Islam: der Herrschaft zur Zeit Mohammeds und der ersten vier „rechtgeleiteten“ Kalifen. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Avantgarde der Wiederherstellung dieses „authentischen“, glorreichen Islam zu sein.

Das islamistische Credo brachte der marokkanische Imam Mohammed Fazazi in einer seiner berüchtigten Predigten im Jahre 2000 in der Hamburger Al-Quds-Moschee auf den Punkt: „Die islamische Religion ist umfassend, vollständig, widerstandsfähig, komplett und vollkommen. Und sie mischt sich ausnahmslos in alle Bereiche des Lebens ein. Der Islam hat Antworten auf jede Frage und für alles ein besonderes Programm.“22  Fazazi formulierte das grundlegende Prinzip des Islamismus: „Der Islam ist die Lösung!“ Islamismus ist anti-demokratisch in dem Sinne, dass er die säkulare, menschenrechtlich fundierte, wertgebundene, rechtsstaatliche und pluralistische Demokratie als „Menschenwerk“ explizit zurückweist, ja in ihr eine widergöttliche Religion sieht. Hier finden wir ein Grundprinzip des Islamismus, das, von den „Großvätern“ des Islamismus, dem Ägypter Sayyid Qutb (1906 – 1066) und dem Inder Sayyid Abu A’la Maududi (1903 – 1979) formuliert, bis heute von zeitgenössischen Ideologen wie z. B. dem einflussreichen Palästinenser Abu Muhammad al-Maqdisi (geb. 1959) vertreten wird.23

Es ist diese extremistische, antidemokratische Ideologie, die Islamisten eint. Sie hat an Dynamik nichts verloren und verbindet legalistische, revolutionäre und dschihadistische Gruppierungen,24  mögen sie auch in Bezug auf die politische Verfassung eines islamischen Staates verschiedene Positionen vertreten (z. B. Kalifat, „Theodemokratie“, Theokratie, Parlamentarismus unter der Scharia) oder uneins darüber sein, mit welchen Methoden (friedlich oder gewaltbereit) ihre Ziele zu erreichen sind. Gewaltbereitschaft und schließlich Gewaltanwendung sind nicht die definierenden Kriterien von Islamismus. Islamisten haben zur Gewalt eine bloß utilitaristisch-taktische Haltung, was sich überzeugend an der Geschichte der Muslimbruderschaft demonstrieren lässt.25

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass sowohl in Fachkreisen als auch in einer Reihe westlicher Medien Islamisten häufig in „gemäßigte“ und „radikale“ eingeteilt werden. Die sogenannte „Arabische Revolution“ und die folgenden Wahlsiege der Islamisten in Ägypten (die Muslimbrüder mit ihrer „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“: 45,7 Prozent) und die „Ennahda-Partei“ in Tunesien (90 von 217 Parlamentssitzen) haben viele Kommentatoren überzeugt, dass die „gemäßigten“ Islamisten nach der Überwindung der autokratischen Diktaturen nunmehr den Weg der parlamentarischen Demokratie beschreiten würden.26  Die Obama-Administration, schon seit Langem von Experten zum „Dialog“ mit den „Gemäßigten“ ermuntert, suchte immer stärker den Kontakt und die Kooperation mit solchen Gruppen und Personen.27  Doch nach einem Jahr der Herrschaft der Muslimbruderschaft ist inzwischen Ernüchterung eingekehrt, und Präsident Mursi nach einer Serie heftiger öffentlicher Proteste vom Militär entmachtet worden. Was haben die „gemäßigten“ Muslimbrüder binnen Jahresfrist zur Stärkung der Demokratie getan? Sie hatten es geschafft, eine Verfassung via Referendum durchzusetzen, in der sowohl die Rechte der Frauen als auch die der nichtmuslimischen Minderheiten nur unzureichend geschützt waren (Scharia). Hochrangige „geistliche“ Vertreter der Muslimbrüder taten nichts gegen die Fortgeltung und Praxis der international als menschenrechtswidrige Körperverletzung verurteilten weiblichen Genitalverstümmelung. Sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen gehören zum ägyptischen Alltag, ohne dass die islamistische Staatsmacht wirkungsvoll einschritt.28 

Der Generalsekretär des Verbandes islamischer Universitäten, Ja‘far ‘Abd al-Salām, sprach in einem Interview von der „Erhabenheit“ des Selbstmordanschlags. Die Gewalt gegen Christen, sowohl von Anhängern der Muslimbrüder als auch insbesondere vonseiten salafistischer Gruppen, explodierte: Kirchen wurden angegriffen, Christen eingeschüchtert, bedroht, belästigt, verletzt, gefoltert, getötet oder zum Verlassen des Landes erpresst.29  Imame riefen zur Ermordung von Konvertiten auf, offener Antisemitismus, häufig als „Anti-Zionismus“ apostrophiert, wurde von Islamisten angeheizt.

Präsident Mursi selbst geriet unter Druck, als Äußerungen in einem Interview (vom September 2010) aufgedeckt wurden: Darin hatte er Juden unter anderem „Blutsauger“ und „Nachkommen von Affen und Schweinen“ genannt und zur Vernichtung des Judenstaates aufgerufen. Seine späteren Rechtfertigungsversuche konnten nicht überzeugen. In Tunesien kam es nach der Ermordung des Oppositionsführers und Islamisten-Kritikers Chokri Belaid zu Tumulten. Es wird vermutet, dass der Führer der tunesischen „gemäßigten“ Islamisten, Rachid Ghannouchi, am Mordkomplott beteiligt war. So lässt sich schlussfolgern: „Gemäßigte“ und „radikale“ Islamisten gleichermaßen waren die hauptsächlichen Profiteure des sogenannten Arabischen Frühlings von Damaskus bis Tunis.30 Und die Bilanz der Politik der „Gemäßigten“ ist düster. Ihre zeitweise Akzeptanz von demokratischen Verfahren und friedlichen Methoden ist nur taktisch motiviert. Es ist tröstlich, dass die betroffenen Menschen den wahren Charakter der Muslimbruderschaft immer mehr erkennen und gegen sie Front machen, im Unterschied zu manchen akademischen und politischen Verharmlosern der Bewegung im Westen. Vor diesem Hintergrund halte ich die Differenzierung in „Gemäßigte“ und „Radikale“ für eine gefährliche Fehleinschätzung der Islamisten.31  Gleichviel ob gemäßigt oder radikal, sie folgen alle den Grundprinzipien ihrer Ideologie, die sich zugespitzt in dem Mohammed zugeschriebenen Ausspruch bündeln lässt: „Der Islam herrscht, er wird nicht beherrscht!“32 

Das Ziel bleibt unverrückbar der Scharia-Staat, die „hakimiyyat Allah“, die Gottesherrschaft.
Für die Beurteilung der Gefährlichkeit islamistischer Bewegungen sollte ferner berücksichtigt werden: Die Bedrohung durch den internationalen islamistischen Terrorismus hat sich trotz der Tötung Osama bin Ladens nicht verringert. Es wachsen stets weitere Gruppen nach, die der Ideologie Al-Qaidas verhaftet sind. Unvermindert hält auch die Gefährdung durch den sogenannten „home-grown“ Terrorismus an, sei es durch kleine Zellen oder Einzeltäter wie z. B. im Falle des Attentäters Arid Uka, der am 2. März 2011 in Frankfurt am Main zwei US-Soldaten ermordete und zwei weitere schwer verletzte. Uka war nachweislich durch salafistische Propaganda im Internet radikalisiert worden.

Islamisten sind im Iran an der Macht, im Gaza-Streifen regiert die Hamas, sie haben politisch starke Positionen im Libanon (Hizbollah), in Afghanistan, im Sudan, in Mauretanien, im Jemen, in Somalia (Al-Shabab-Milizen), in Nigeria (Boko Haram), und trotz des französisch-malischen „Sieges“ in Mali sind die Islamisten nicht besiegt. In Pakistan führen sie einen kaum noch verdeckten Bürgerkrieg gegen die fragile Demokratie. In Indonesien haben sie zum Teil erhebliche Geländegewinne zu verzeichnen, worunter insbesondere die Christen leiden müssen. Ähnliches gilt für Malaysia. In zahlreichen Staaten der EU haben sie sich erfolgreich etabliert, insbesondere in Großbritannien (v. a. Hizb-ut-Tahrir und diverse dschihadistische Gruppierungen), Skandinavien, den Niederlanden, Belgien und Frankreich. In Deutschland hat sich in den letzten fünf Jahren ein breites Netzwerk salafistischer Gruppierungen etabliert. Der Salafismus (von arab. al-salaf al-salih = die frommen Väter) ist gegenwärtig eine der dynamischsten, sich fortschreitend radikalisierenden, islamistischen Gruppierungen. Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen von rund 4000 Anhängern aus, darunter ca. 400 gewaltbereiten. Im Mai 2012 verletzten salafistische Gewalttäter bei einer Demonstration in Bonn 29 Polizisten, davon zwei schwer. Salafisten drohten Deutschland mit Anschlägen und riefen zur Ermordung von Politikern auf.33  Auch hierzulande wird gelegentlich zwischen gemäßigten und radikalen bzw. zwischen politischen und dschihadistischen Salafisten unterschieden – eine Unterscheidung, die ideologisch nicht sinnvoll ist. Die Übergänge sind fließend, wie die Analyse von Radikalisierungsprozessen eindeutig zeigt.34

Mitte März 2013 veranlassten die Sicherheitsbehörden eine großangelegte Razzia mit Durchsuchungen eines Vereinsraumes und von 20 Wohnungen von Mitgliedern salafistischer Gruppierungen. Es wurden umfangreiches Propagandamaterial, Laptops und Mobiltelefone sichergestellt. Zugleich verbot Innenminister Friedrich drei salafistische Gruppierungen, die Frankfurter Vereine „DawaFFM“ und „Islamische Audios“ sowie „An-Nussrah“, eine Teilorganisation des schon verbotenen Vereins „Millatu Ibrahim“. Schließlich verhaftete eine Spezialeinheit der Polizei in Leverkusen vier Salafisten (zwei türkischstämmige Deutsche, einen Albaner und einen Deutschen), die eine terroristische Vereinigung formiert hatten und auf dem Wege waren, den Vorsitzenden der rechtspopulistischen Partei „Pro-NRW“, Markus Beisicht, zu ermorden.

Islam ohne Islamismus, aber kein Islamismus ohne Islam

Es kann einen Islam ohne die extremistische Variante Islamismus geben. Umgekehrt gilt das nicht: Es gibt keinen Islamismus ohne Islam! Islamisten anerkennen vorbehaltlos die in Koran und Sunna formulierten autoritativen religiösen Kerndoktrinen und religiös-kulturellen Praktiken des Islam. Mit allen Muslimen gemeinsam folgen sie den religiösen Hauptpflichten des Islam (Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Fasten, Almosengeben und Wallfahrt nach Mekka) und glauben an die sechs Wahrheiten: an Allah als den einen und Einzigen (tauhid), die Propheten, die Bücher, die Engel, das Schicksal und den Jüngsten Tag.35  Ihr Referenzrahmen ist die Religion, eine Religion, die sie fundamentalistisch deuten (literalistische Koranauslegungen) und politisch-aktivistisch auslegen. Islamisten lösen Religion keineswegs in Politik auf, sie bleibt ihr dynamisch-spirituelles Zentrum, so lückenhaft und widersprüchlich ihr Religionsverständnis auch sein mag. Ihr Islam liefert ihnen die ideenpolitischen Grundkategorien, aus denen sie ihre Visionen und Utopien von der Herstellung eines islamischen Staates entfalten. Ihr Islam verleiht ihnen Motivation und die unerschütterliche Siegeszuversicht, ohne Rücksicht auf das eigene Leben für die Herrschaft „des Islam“ zu streiten. Islamisten werden ganz selbstverständlich zur „Familie“ der Muslime gerechnet, so kritisch ihre Ideologie und ihre Aktionen auch von manchen Rechtsgelehrten gesehen werden.36
Islamisten finden in Koran und Sunna nicht nur Anknüpfungspunkte zur Begründung ihrer Herrschaftsideologie, sondern verändern auch mit ihren Lesarten den „realdominanten“ Islam zu ihren Gunsten. Das wird besonders im Blick auf drei zentrale Elemente islamischer Lehre sichtbar:

•    Dschihad
•    Apostasie (Abfall vom Islam)
•    Ungläubige

Im Blick auf den Dschihad (= „Anstrengung auf dem Wege Gottes“) können sich Islamisten auf eine koranisch begründete, in der Tradition (hadithe) breit dargelegte und von den autoritativen vier Rechtsschulen detailliert ausgearbeitete Doktrin des militanten Dschihads beziehen. Hinzu kommt, dass die sira (das Leben) des Propheten als beispielhaft für das Verhalten von Muslimen bis in die Gegenwart gilt. Und Mohammed war nachweisbar an zahlreichen – keineswegs nur defensiven! – Kriegszügen und „Razzien“ als Heerführer beteiligt und hat die Ermordung von Gegnern angeordnet.37  Die Konzeptionen vom Dschihad als einem offensiven, militanten Instrument zur Verteidigung und zugleich Ausbreitung und Stabilisierung des Islam weltweit sind von Islamisten gleichwohl weiter radikalisiert worden, so z. B. durch die Auffassung, der Dschihad sei eine persönliche Verpflichtung (die „sechste Säule“) des einzelnen Muslims, der er zu jeder Zeit an jedem Ort nachkommen müsse, auch unter Anwendung von Verstellung und Täuschung (taqiyya) sowie mit Gewalt, wenn nötig.38  Dass es in der zeitgenössischen Dschihad-Debatte auch andere, defensive und spirituelle Interpretationsrichtungen gibt, ist erfreulich, gleichwohl hat es den Anschein, dass diese entweder nicht ausreichend rezipiert werden oder die Attraktivität der militanten Richtungen zu stark bleibt.39 

Ebenso problemlos können Islamisten an koranische Aussagen40  zum Abfall vom Islam (Apostasie) und die herrschende Meinung der vier maßgeblichen sunnitischen Rechtsschulen (und die schiitische) anschließen. Apostasie (arab. ridda, irtitad) umfasst ein breites Spektrum von Verfehlungen gegen den Islam, das von der Beleidigung des Propheten bis zum Verlassen des Islam reichen kann.41  Der männliche Apostat (murtadd) begeht ein todeswürdiges Verbrechen und muss getötet werden. Die vier Rechtsschulen und zahlreiche Kommentare stützen sich vor allem auf die als authentisch betrachtete Aussage Mohammeds: „Wer seine Religion wechselt, den tötet!“42  Das ist bis heute „Mainstream“-Islam, trotz einiger abweichender Meinungen.43  Da der Abfall vom Islam nicht nur als Verfehlung gegen Gott und den Propheten, sondern auch als politisches Verbrechen gegen die islamische Gemeinschaft (umma) verstanden wird, enthalten die Strafrechtsordnungen einiger islamischer Staaten die Androhung der Todesstrafe, so am stärksten im Sudan (Strafgesetzbuch von 1991, § 126) und im Jemen (Strafgesetzbuch von 1994, § 259).44 

Islamisten sind die eifrigsten Verfechter der Todesstrafe, wie z. B. der einflussreiche Chefideologe des Islamismus Yussuf al-Qaradawi, der im ägyptischen Fernsehen erklärte, dass der Islam untergegangen wäre, hätten die Muslime nicht an der Todesstrafe für Apostasie festgehalten. Einer Meinungsumfrage zufolge befürworten 84 Prozent der Ägypter die Todesstrafe für Apostasie.45
Islamisten grenzen sich in aggressiver Weise von anderen Religionen und Weltanschauungen ab und verweigern den „Ungläubigen“ in dem von ihnen erträumten islamischen Staat die menschenrechtlich begründete Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Christen und Juden wird lediglich der Status der „Schutzbefohlenen“ (arab. Dhimmi) zugestanden, wie es Jahrhunderte lang in islamisch geprägten Staaten der Fall war (bis weit ins 19. Jahrhundert hinein).

Außen- und innenpolitische Rücksichten lassen es heute gleichwohl als opportun erscheinen, formale staatsbürgerliche Gleichberechtigung zu akzeptieren. Dies wurde z.B. in der von den Muslimbrüdern entscheidend geprägten ägyptischen Verfassung dadurch relativiert, dass die Scharia als Grundlage der Gesetzgebung gelten sollte. Auch die Rechte der Frauen und die nichtmuslimischer Minderheiten waren nicht ausreichend gesichert. Unklare und widersprüchliche Aussagen zu den universalen Menschenrechten trugen dazu entscheidend bei.46  Islamisten können sich auch auf zahlreiche koranische Aussagen und die Tradition berufen, in denen Christen und Juden als „Ungläubige“ verdammt werden, weil sie ihre Heiligen Schriften verfälscht hätten (tahrif) und nicht bereit seien, Mohammed als den Gesandten Allahs anzuerkennen.47  Islamisten erweisen sich als besonders aktiv bei der Diskriminierung und Verfolgung von Christen, wobei ihr besonderer Hass denjenigen gilt, die das Undenkbare wagten, sich vom Islam dem Christentum zuzuwenden. Auch hierin befinden sie sich durchaus im „Mainstream“-Islam. Nach dem Weltverfolgungsindex der christlichen NGO „Open Doors“ rangieren von Platz 2 bis 14 islamisch geprägte Staaten, angeführt von Saudi Arabien bis zu Pakistan.48

Fazit

Der Islamismus in seinen verschiedenen Varianten ist die nach dem Ende des Sowjetkommunismus wirkmächtigste globale totalitäre Bedrohung von Menschenrechten, Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaat.49  Islamisten haben der freien Welt den Krieg angesagt, und auf diese Herausforderung gilt es flexibel zu reagieren: in scharfer politisch-geistiger Auseinandersetzung und mit allen Mitteln rechtsstaatlicher Gefahrenabwehr. Jede Verharmlosung dieser Gefahr ist moralisch und politisch verantwortungslos. Und dazu gehört in jedem Falle schon der Versuch, den Begriff des Islamismus zu eliminieren.


Johannes Kandel


Anmerkungen

1    http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/1341375/Was-hat-Islam-mit-Islamismus-zu-tun
   So schon im August 2012 in einem Rundfunkbeitrag: www.wdr5.de/sendungen/politikum/s/d/08.08.2012-19.05/b/islamismus-gehoert-abgeschafft.html .
3    Siehe dazu Omid Safi (Hg.), Progressive Muslims. On Justice, Gender and Pluralism, Oxford 22004; Rachid Benzine, Islam und Moderne. Die Neuen Denker, Berlin 2012; Charles Kurzman (Hg.), Liberal Islam. A Sourcebook, New York/Oxford 1998; Jon Armajani, Dynamic Islam. Liberal Muslim Perspectives in a Transnational Age, Lanham/Oxford 2004; Katajun Amirpur/Ludwig Amman (Hg.), Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg i. Br. u. a. 2006; Zeyno Baran (Hg.), The Other Muslims. Moderate and Secular, New York/Basingstoke 2010.
4    Siehe dazu v. a. Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009; Patrick Bahners, Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift, München 2011; Wolfgang Benz, Die Feinde aus dem Morgenland. Wie die Angst vor den Muslimen unsere Demokratie gefährdet, München 2012; Kai Hafez, Freiheit, Gleichheit und Intoleranz. Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas, Bielefeld 2013; Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, „Islamkritik“ und der Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach am Taunus 2013. Vgl. ferner die zahlreichen Beiträge der Journalisten Heribert Prantl und Thomas Steinfeld. Einen sehr fragwürdigen Beitrag leistete auch die Konferenz zur „Muslimfeindlichkeit“, 4./5. Dezember 2012 (organisiert von der Deutschen Islamkonferenz).
   Siehe dazu insbesondere die heterogenen und teilweise denunziatorischen Beiträge in dem von Farid Hafez herausgegebenen „Jahrbuch für Islamophobieforschung 2013“, Wien 2013.
   Der Kulturanthropologe Werner Schiffauer setzt sich seit Langem intensiv für das Ende einer Beobachtung der IGMG ein und leistet ihr Argumentationshilfe. Siehe dazu z. B. Werner Schiffauer, Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş – ein Lehrstück zum verwickelten Zusammenhang von Migration, Religion und sozialer Integration, in: Migrationsreport 2004. Fakten – Analysen – Perspektiven. Für den Rat für Migration hg. von Klaus J. Bade, Michael Bommes und Rainer Münz, Frankfurt a. M./New York 2004, 94. Milli Görüş wird von ihm nicht mehr als islamistisch gesehen, sondern als „post-islamistisch“, Werner Schiffauer, Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş, Berlin 2010.
7    www.igmg.de/nachrichten/artikel/2012/08/28/initiative-sicherheitspartnerschaft-haette-es-nie-geben-duerfen.html .
8    www.igmg.org/nachrichten/artikel/2013/02/05/bundesinnenminister-muss-islamfeindlichkeit-ernst-nehmen.html.
9    www.igmg.org/nachrichten/artikel/2013/01/23/igmg-grussbotschaft-zum-mawlid-unser-prophet-war-ein-verantwortungsvoller-und-aktiver-mensch.html .
10    Siehe dazu: Tilman Nagel, Allahs Liebling. Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens, München 2008.
11    Islamische Zeitung, 136, Februar 2007 (II), 12.
12    Islamische Zeitung, 137, März 2007, 3.
13    Siehe dazu Aiman Mazyek, Aus Fehlern lernen: Warum die Sicherheitspartnerschaft mit dem Bundesinnenministerium so nicht funktionieren konnte, http://islam.de/21136.php.
14    So der Vorsitzende der DITIB Nord, Zekeriya Altuğ, in seinem Grußwort bei der Konferenz zu „Muslimfeindlichkeit“ der Deutschen Islamkonferenz am 4./5. Dezember 2012, www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/DIK/ArbeitDIK/AG-Praevention/TagungMuslimfeindlichkeit/AnspracheAltug/ansprache-altug-node.html
15    www.igmg.org/nachrichten/artikel/2013/02/05/bundesinnenminister-muss-islamfeindlichkeit-ernst-nehmen.html
16    www.investigativeproject.org/3777/a-red-carpet-for-radicals-at-the-white-house
17    Contest. The United Kingdom’s Strategy for Countering Terrorism. Presented to Parliament by the Secretary of State for the Home Department by Command of Her Majesty, London, July 2011.
18    www.justice.gov.uk/downloads/publications/research-and-analysis/yjb/preventing-violent-extremism-systematic-review.pdf
19    Auch die Verfassungsschutzämter übernehmen weitgehend die Missbrauchs-These. „Islamismus – Missbrauch einer Religion“, so lautete der Titel einer Broschüre des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen. Broschüre vom Oktober 2008. www.mik.nrw.de/verfassungsschutz/islamismus.html
20    So etwa bei Mouhanad Khorchide, Der Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg i. Br. u. a. 2012. Khorchide entwirft im Prinzip eine neue Religion, die mit den realdominanten Lehren und religiösen Praktiken des Islam wenig zu tun hat.
21    Siehe dazu Johannes Kandel, Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität, Freiburg i. Br. u. a. 2011, 10ff.
22    Aus dem Film „Hamburger Lektionen“ von Romuald Karmakar, 2006.
23    Johannes Kandel, Islamismus in Deutschland, a.a.O., 23ff. Siehe v. a. al-Maqdisis Schrift „Ad Dīmukratiya Dīn“ (Die Religion der Demokratie). Auf ihn beziehen sich zahlreiche islamistische Ideologen und Gruppen. Sehr klar bringt es auch Amir Abdel Malik Ali, ein Aktivist des „Islamic Circle of North America-Muslim Society Conference“ auf den Punkt: „Democracy does not equal freedom. No, we don’t want to democratize Islam, we want to islamize democracy.“ Siehe dazu die DVD „Jihad in America. The Grand Deception” (2013).
24    Vgl. zur Kategorisierung die Verfassungsschutzberichte der Länder und des Bundes.
25    Siehe dazu die m. E. bislang beste Analyse von Geschichte und Entwicklung der Muslimbrüder: Alison Pargeter, The Muslim Brotherhood. The Burden of Tradition, London 2010.
26    Schon 2005 prophezeite der Politikwissenschaftler Amr Hamzawy den „moderate Islamists“ eine Schlüsselrolle in der Überwindung autokratischer Systeme und sah Teile der Muslimbruderschaft auf dem Weg zur Akzeptanz von Pluralismus und Demokratie. Seine eigenen Erfahrungen in Ägypten seit 2010 dürften ihn ernüchtert haben. Amr Hamzawy, The Key to Arab Reforms: Moderate Islamists, in: Carnegie Endowment, Policy Brief 40, August 2005.
27    Bedeutsam für die Administration war v. a. die Analyse von Robert S. Leiken, The Moderate Muslim Brotherhood, in: Foreign Affairs 86, 2, March/April 2007. Zur Auseinandersetzung um islamistische Einfluss-Strategien vgl. v. a. Hedieh Mirahmadi, Navigating Islam in America, in: Zeyno Baran (Hg.), The Other Muslims, a.a.O., 24ff; Zuhdi Jasser, A Battle for the Soul of Islam, New York/London 2012.
28    Es ist überaus fraglich, ob eine neue politische Führung hier schärfer durchgreifen würde. Siehe dazu: www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-07/aegypten-vergewaltigungen
29    Siehe dazu die regelmäßigen Berichte des „Arbeitskreises Religionsfreiheit – Menschenrechte – Verfolgte Christen“ der Deutschen Evangelischen Allianz (AKREF), von Open Doors und International Christian Concern (Persecution Magazine).
30    www.welt.de/kultur/literarischewelt/article113654132/Dem-Arabischen-Fruehling-folgen-die-Islamisten.html; www.welt.de/politik/ausland/article113677574/Aus-dem-Fruehling-ist-arabischer-Winter-geworden.html
31    Ein besonders wichtiger Einspruch gegen diese Unterscheidung kommt von Maajid Nawaz, dem muslimischen Vorsitzenden der „Quilliam Foundation“, einer britischen NGO, die aktiv gegen Islamismus agiert. Siehe dazu: www.youtube.com/watch?v=n_C2wpM5vT4
32    Zit. nach: Adel Theodor Khoury, Der Islam und die westliche Welt, Darmstadt 2001, 114.
33    So die „Globale Islamische Medienfront“ (GIMF) in einem mit „Abu Assad Al-Almani“ unterzeichneten Pamphlet „Abrechnung mit Deutschland“, http://alghorabaa.files.wordpress.com/2012/09/abrechnung-mit-deutschland_1.pdf
34    Verfassungsschutzbericht Bund 2011, 251ff.
35    Zur Forschungslage vgl. v. a. Walter Feichtinger/Sibylle Wentker (Hg.), Islam, Islamismus und islamischer Extremismus. Eine Einführung, Wien u. a. 2008. Siehe zum Gesamtzusammenhang auch: Johannes Kandel, Islamismus in Deutschland, a.a.O., 11ff.
36    Die sogenannte „Amman Message“ vom 9. November 2004, ein von 200 führenden Islamgelehrten (ulama) aus 50 Ländern unterzeichnetes Dokument, verbietet ausdrücklich die Erklärung eines Muslims zum Apostaten (takfir).
37    Siehe dazu v. a. Tilman Nagel, Mohammed. Leben und Legende, München 2008, 383ff; Hans Jansen, Mohammed. Eine Biographie, München 2008, 280ff.
38    Die umfassendste Arbeit zu Theorie und Geschichte des Dschihads hat der US-Amerikaner David Cook vorgelegt: David Cook, Understanding Jihad, Berkeley 2005. Siehe auch Patrick Sookdheo, Global Jihad. The Future in the Face of Militant Islam, McLean, VA, 2007.
39    Siehe dazu David Cook, Understanding Jihad, a.a.O., 121ff; Patrick Sookdheo, Global Jihad, a.a.O., 356ff. Eine kommentierte Fatwa-Sammlung gegen Terrorismus (und Selbstmordattentate) bietet Muhammad Tahir ul-Qadri, Fatwa on Terrorism and Suicide Bombings, London 2010.
40    Apostasie kommt im Koran an 13 Stellen vor und wird grundsätzlich als strafwürdig betrachtet. Die wichtigsten Suren sind: Sure 3,86-91; 4,88-89; 16,106-109; 88,23-24; Umstritten ist, ob die Strafe im Diesseits verhängt werden muss (siehe Sure 2, 217) oder nur durch Allah im Jenseits erfolgt.
41    Siehe dazu die in den maßgeblichen klassischen Kommentaren genannten Verfehlungen. Abdullah Saeed/Hassan Saeed, Freedom of Religion. Apostasy and Islam, Aldershot 22005, 44ff.
42    Überliefert in der wichtigsten Hadith-Sammlung von Sahih Bukhari (810 – 870), Vol. 9, Book 84, No. 57. Ferner bei Abu Dawud (817 – 888). Zur Datierung und Interpretation des Hadith siehe Frank Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam, Leiden u. a. 2000, 51ff.
43    Abdullah Saeed/Hassan Saeed, Freedom of Religion, a.a.O., 88ff; http://de.wikipedia.org/wiki/Apostasie im_Islam
44    In weiteren Staaten gibt es Strafbestimmungen, die auch zu Todesurteilen führen können und geführt haben, so in Saudi-Arabien, Iran, Pakistan, Afghanistan und Mauretanien. Die aktuellen Auswirkungen der Apostasie- und Blasphemie-Gesetzgebung und Strafverfolgung werden umfassend dokumentiert in Paul Marshall/Nina Shea, Silenced. How Apostasy and Blasphemy Codes are Choking Freedom Worldwide, Oxford 2011.
45    www.gatestoneinstitute.org/3572/islam-apostasy-death. So al-Qaradawi in seinem in muslimischen Kreisen in Deutschland weit verbreiteten Buch „Erlaubtes und Verbotenes im Islam“, München 42003, 453. Eine ähnliche Position vertrat Shayk Muhammad Hassan im ägyptischen Fernsehen: www.theblaze.com/stories/2011/08/08/should-abandoning-islam-be-punishable-by-death-this-egyptian-cleric-thinks-so . Und ein Beispiel von vielen auf einer islamistischen Website: „The one who has known the religion which Allaah revealed, entered it and practised it, then rejected it, despised it and left it, is a person who does not deserve to live on the earth of Allaah ...”, http://islamqa.info/en/ref/811
46    Das zeigt sich bis heute im Blick auf die 1981 und 1990 verabschiedeten islamischen Menschenrechtserklärungen. Siehe dazu v. a. Anne Duncker, Menschenrechte im Islam. Eine Analyse islamischer Erklärungen über die Menschenrechte, Berlin 2006; Ann Elizabeth Mayer, Islam and Human Rights. Tradition and Politics, Boulder, Colorado, 31999.
47    Siehe dazu Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen des Islam zu Judentum und Christentum, Darmstadt 21991. Ursula Spuler-Stegemann (Hg.), Feindbild Christentum im Islam. Eine Bestandsaufnahme, Freiburg i. Br. 2009; Rita Breuer, Im Namen Allahs? Christenverfolgung im Islam, Freiburg i. Br. u. a. 2012.
48    www.opendoors.de/verfolgung/verfolgungsindex_2013/platzierung_2013
49    Treffende globale Analyse von Patrick Sookdheo, The West, Islam, and the Counter-Ideological War, in: Katherine C. Gorka/Patrick Sookdheo (Hg.), Fighting the Ideological War. Winning Strategies from Communism to Islamism, McLean, VA, 2012, 15ff.