Johannes Kandel

Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität

Johannes Kandel, Islamismus in Deutschland. Zwischen Panikmache und Naivität, Herder Verlag, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2011, 224 Seiten, 14,95 Euro.

„Es gibt keine geschichtliche Notwendigkeit, dass aus dem Islam Islamismus wird, aber es besteht die Möglichkeit. Es kann also einen Islam ohne Islamismus, aber keinen Islamismus ohne Islam geben“ (7). Diese schon in der Sache gesellschaftlich kontrovers diskutierte These vertritt der ehemalige Leiter des Referats Interkultureller Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einer Fülle an grundsätzlichen, historischen, strukturanalytischen und integrationspolitischen Fakten und Erwägungen. Das ebenso engagiert wie verständlich geschriebene Buch malt nicht schwarz und redet nicht klein. Es fundiert und präzisiert die Grundlage, auf der die Diskussion über das Radikalisierungspotenzial in bestimmten Segmenten der muslimischen Gemeinschaft und die Qualität der realen Bedrohung durch militante Muslime geführt werden muss. Das Anliegen, die Wahrnehmungsfähigkeit für Strukturen und größere Zusammenhänge zu schärfen und zugleich die Phänomene differenziert zu beschreiben, ist dabei durchweg zu spüren. Gerade die der Hauptthese zugrunde liegende Unterscheidung (mit Bezug zu den Größenordnungen in Deutschland und deren Relevanz) und weitere notwendige Differenzierungen wie etwa zwischen Islamismus, Dschihadismus und Terrorismus machen deutlich, wie unangemessen pauschalisierende Urteile in der einen wie in der anderen Richtung sind.

Islamismus ist nach Kandel 1. eine politisch-extremistische Herrschaftsideologie (die auf der Scharia aufbaut und das Prinzip der Säkularität verwirft), 2. eine politische Protest- und Oppositionsbewegung (gegen muslimische diktatorische Regime, die als „unislamisch“ verurteilt werden), 3. eine soziale Bewegung (die soziale Dienstleistungen anbietet) sowie 4. eine global-transnationale (virtuelle) Diskursgemeinschaft. Als eine Spielart des politischen Extremismus wird Islamismus als eine totalitäre Ideologie gekennzeichnet, die einen umfassenden Anspruch des Islam auf alle Lebensbereiche inklusive der politischen und gesellschaftlichen Ordnung erhebt. „Der Islam ist die Lösung“, lautet daher ein Slogan der Islamisten.

Im ersten Drittel legt Kandel die Ausbreitung, die Ideologie und die Politik des Islamismus dar und kommt zu dem Schluss, dass von einer „post-islamistischen“ Phase gegenwärtig nicht die Rede sein kann, vielmehr von einer „Stabilisierung im Wandel“ ausgegangen werden muss (33). Das Kapitel „Sind die Muslime in Deutschland ‚islamistisch’?“ wertet sowohl aktuelle Studien zum Islam in Deutschland als auch die „Islamische Charta“ des Zentralrats der Muslime in Deutschland aus. Letztere ist zwar aus dem Jahr 2002, illustriert aber die „Andockpunkte und offene Flanken“ für islamistische Einfluss-Strategien treffend, die der „organisierte Islam“ auch hierzulande bietet. Dieser werde von einem „ausgeprägten pragmatischen Konservativismus mit fundamentalistischen Rändern“ dominiert (77). Das umfangreichste Kapitel (89-220) wendet sich einzelnen Gruppen, Organisationen und Strömungen zu. Der Bogen reicht vom „Kalifen von Köln“ über die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), das Netzwerk der Muslimbruderschaft und einige kleinere Gruppen und Parteien bis zu den Themen „Salafiten und muslimische Jugendliche“ sowie „Muslimische Medien als Ideologieproduzenten“ (Muslim-Markt und Islamische Zeitung).

Eine zentrale Frage, die das Buch bewegt, die ein Buch aber nicht einfach beantworten kann, bleibt: Wie kann ein Glaube, der und insofern er von „einem dogmatischen, absoluten Wahrheitsanspruch“ geprägt ist, in einem religiös-weltanschaulich pluralen Umfeld die Anerkennung einer säkularen Gesellschaftsordnung begründen und kon­struktiv legitimieren? Allein die Tatsache der Wahrheitsüberzeugung, so ganzheitlich und umfassend sie auch sein mag (8f), kann ein Hinderungsgrund ja nicht sein. Wahrheitsansprüche sind die Sache jeder Religion. Es wird also sehr viel auf die Konkretionen, auf die Auf- bzw. Abwertungsrhetorik gegenüber Anderen und Andersreligiösen, auf die konkreten politischen Zielvorstellungen (Gesellschaftsmodell, „islamischer Staat“), auf die konkreten Äußerungen und Handlungsmuster zum Beispiel mit Bezug zu den individuellen Grundrechten ankommen, last but not least auf die konkrete Praxis, gerade auch im Blick auf die eigene, innerislamische Pluralität. Ein Schlüssel muss letztlich die Einbeziehung historischer Erkenntnisse sein, sowohl was die Koranauslegung (Ideologie) als auch was die Gesellschaftsgestaltung (Politik) angeht. Der syrische Philosoph Sadik al-Azm gibt einen Hinweis auf diesen Schlüssel, wenn er auf die Frage, ob der Islam mit einem säkularen Humanismus vereinbar sei, antwortet: „Dogmatisch gesehen, nein – historisch gesehen, ja“ (zit. 31).

Das Buch bietet in kompakter, übersichtlicher Weise eine Fülle von Informationen auf dem Stand der aktuellen Forschung (vor dem „Arabischen Frühling“). Kleinere Fehler im Detail oder die unvermittelte Einführung voraussetzungsvoller Begriffe (dass es sich bei der „‚Aura’ der Frau“ um den arabischen Ausdruck für die Schamgegend handelt, hätte sicher angemerkt werden können, 163) sind nur ganz am Rande zu notieren. Wer sich mit dem Thema befasst – egal ob aus beruflicher Verantwortung oder privatem Interesse, ob aus politischer, kirchlicher oder sozial engagierter Per­spektive –, sollte an dem Buch keinesfalls vorbeigehen.


Friedmann Eißler