„Ist das schon zu tief?“ Ein evangelikaler Liebesroman als faszinierende Milieu-Studie
Im Jahr 2005 gab das in Lausanne angesiedelte „Observatoire des Religions en Suisse“ (ORS) eine Untersuchung über das evangelikale Milieu in der Schweiz heraus.1 Damit legten die Religionssoziologen Jörg Stolz und Olivier Favre eine Studie vor, die dieses Spektrum unter quantitativen wie qualitativen Aspekten erstmals näher beleuchtete. Sie kamen u.a. zu dem Ergebnis, dass rund 2 % der Schweizer Bevölkerung freikirchlichen Gruppierungen angehören, wobei die evangelikal orientierten Mitglieder der reformierten Landeskirchen nicht mitberücksichtigt sind.2 Stolz und Favre konnten außerdem zeigen, dass es vor allem bestimmte Werthaltungen sind, durch die sich das evangelikale Milieu definiert und vom landeskirchlichen Milieu stark unterscheidet.
Nun sind nüchterne Zahlen und Statistiken das eine – doch wie sieht die Lebenswirklichkeit evangelikaler Christen vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse aus? Seit kurzem liegt nun ein Buch vor, das diese Frage beantwortet, indem es ebenso anschaulich wie eindrücklich Ergebnisse der Untersuchung von Stolz und Favre quasi illustriert. Es heißt „rosa träumt blau – blau sieht rosa“ und ist ein E-Mail-Roman, der die Liebesgeschichte zweier junger evangelikaler Christen erzählt. Der Autor Andreas Boppart, ein junger evangelikaler Christ aus dem Kanton St. Gallen, landeskirchlich und freikirchlich bei der Jugendkirche „International Christian Fellowship“ (ICF) sowie dem Missionswerk „Campus für Christus“ engagiert, lässt die E-Mails zwischen ihm und seiner Freundin bzw. jetzigen Frau Tamara schildern, wie sie ein Paar wurden.
Eigentlich sind Andreas und Tamara ganz „normale“ junge Schweizer, ihr Slang und ihre Lebensgewohnheiten unterscheiden sich kaum von denen anderer junger Menschen. Doch Andreas und Tamara entstammen beide freikirchlich geprägten Familien, und deshalb wird bei der Lektüre des Buches schnell deutlich, warum die beiden eben doch nicht zum Schweizer Mainstream gehören. Da ist zum einen natürlich die Frage nach dem Sex. Das Paar hatte sich vorgenommen, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten. Trotzdem (oder gerade deshalb) beschäftigt sie die Frage, wie weit ihre körperliche Zärtlichkeit gehen darf. Andreas Boppart schreibt in einem der Zwischentexte: „Disziplin wurde zu unserem Schlagwort, wenn wir darüber sprachen, ob wir nun die Grenze überschritten hatten, welche wir uns im körperlichen Bereich gesetzt hatten. Uns war beiden ganz klar, dass wir erst nach der Hochzeit miteinander Sex haben wollen. Das waren wir uns einfach wert, da wir der Meinung waren und auch immer noch sind, dass diese intimste Sache der Welt nur im geschützten Rahmen der Ehe wirklich ohne Verletzungen und mit völliger Hingabe gelebt werden kann. Gott hat sich das nämlich sehr gut überlegt und perfekt geplant. Nur ist damit die Frage nicht erledigt, wie weit man denn miteinander gehen will, da nirgends auf dem gegnerischen Körper eine rote Linie zu finden ist, die man nicht übertreten darf. (...) Anstrengend und energieraubend sind ja vor allem die Schuldgefühle, mit denen man danach ständig zu kämpfen hat.“3 Diese Schuldgefühle werden ebenso spürbar wie die eigene Verunsicherung, was nun noch „erlaubt“ ist und was nicht. In einer E-Mail Tamaras heißt es beispielsweise: „Dicker Schmatzer auf den Bauch! Ups, ist das schon zu tief? Okay, dann halt ein flüchtiges, harmloses Küsschen auf die Stirn!“4 Diese Einstellung ist gemäß der Untersuchung von Stolz und Favre typisch für das evangelikale Milieu. Denn die Aussage „Sex vor der Ehe ist immer falsch“ bejahen – je nach Gruppierung – 56 bis 88 % der evangelikalen Schweizer, in den reformierten Landeskirchen sind dies nur 6 %, bei den Katholiken (man lese und staune) sogar nur 4 %.5
Trotzdem leben Andreas und Tamara natürlich nicht in einem hermetisch geschlossenen sozialen System oder so weltabgewandt, dass sie nicht ständig mit anderen Norm- und Wertvorstellungen konfrontiert würden. Auf diese Konfrontation reagieren sie bisweilen mit einer Verunsicherung, die beispielsweise geradezu mit Händen zu greifen ist, als Andreas erfährt, dass Tamara – wenn auch nur ein einziges Mal – gekifft hat. Darf das denn eine junge Frau, „die Jesus liebt“? Und so fällt bei der Lektüre des Buches immer wieder auf, wie die beiden zwischen der Autonomie eigenverantwortlichen, individuellen Handelns und einem Leben nach evangelikalem Schrift- und Moralverständnis hin und her gerissen werden. Da hat Tamara bereits ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich „am Abend ins Bett fallen“ lässt, „ohne mit Gott Zeit verbracht zu haben“.6
Aus einer Außenperspektive besonders eigenartig wirkt das Zustandekommen dieser Partnerschaft, denn die Entscheidung wird wiederum nicht autonom gefällt, sondern regelrecht an Gott delegiert. Andreas mailt Tamara: „(...) wir fragen doch Gott einfach einmal, aber ich habe mich fast ein bisschen entschieden, um nachher, wenn er nichts antworten würde, darauf zu vertrauen, dass er mich führt ... Und nicht nur einfach meine egoistischen Gefühle mich antreiben! (...) Habe dich trotz allem halt ... Aber das darf ich ja nicht sagen – sonst wirst du nur noch irgendwie manipuliert!!!“7 Als dann klar ist, dass sie – anscheinend von Gott – füreinander bestimmt sind, leben sie ihre Liebe mit einer Entschiedenheit und Eindeutigkeit, die sehr berührend ist und die man jungen Menschen in diesem Alter wohl nicht unbedingt zutrauen würde. Für beide steht vom ersten Tag an fest, dass sie als Mann und Frau durchs Leben gehen werden.
Dieser hohe Stellenwert der Ehe als besonders (wenn nicht einzig) erstrebenswerter Lebensform tritt auch in der Untersuchung Stolz’ und Favres zu Tage: Während landeskirchliche Protestanten, Katholiken und Konfessionslose nur zu etwas mehr als 50 % verheiratet sind, sind dies im evangelikalen Milieu rund 72 %.8 Es ist wohl auch kein Zufall, dass Andreas und Tamara beide dem evangelikalen Spektrum angehören, sich also innerhalb dieses Milieus gefunden haben, konnten Stolz und Favre doch zeigen, dass es in mehr als 90 % der Fälle zu „in-group“-Partnerschaften kommt.9 Doch auch der Freundeskreis von Andreas und Tamara scheint – diesen Eindruck legt jedenfalls die Lektüre des Buches nahe – zu einem großen Teil aus Evangelikalen zu bestehen, auch dies gemäß Stolz und Favre eine relativ typische Erscheinung.10
Dass beide schon evangelikal sozialisiert wurden, ist ebenso bezeichnend. Die beiden Lausanner Forscher fanden nämlich heraus, dass die Reproduktion des evangelikalen Milieus weniger auf Missionierungserfolgen als vielmehr auf dem Umstand beruht, dass es den meisten evangelikalen Familien gelingt, den Nachwuchs sozusagen „bei der Stange zu halten“.11 Während die beiden großen Landeskirchen mitunter große Mühe haben, ihre Jugendlichen über Firmung und Konfirmation hinaus für das Christentum zu begeistern, scheint dies in evangelikalen Gemeinschaften ziemlich gut zu funktionieren – Andreas und Tamara Boppart sind das beste Beispiel dafür.
Fazit: „rosa träumt blau – blau sieht rosa“ gibt einen ebenso eindrücklichen wie spannenden Einblick in die Lebenswelt junger Evangelikaler, auch oder gerade wenn man gewisse Moralvorstellungen des Autors nicht teilen mag. Ohne dass es Andreas Boppart wahrscheinlich wollte, ist eine regelrechte Milieustudie entstanden, die neben der Studie von Stolz und Favre zur Pflichtlektüre für alle werden sollte, die sich mit dieser Form des Christentums beschäftigen oder sogar auseinandersetzen. Und aus landeskirchlicher Sicht ist es vielleicht tröstlich zu lesen, dass es auch innerhalb der Freikirchen kräftig menschelt ...
Christian Ruch, Chur/Schweiz
Anmerkungen
1 Jörg Stolz / Olivier Favre, The Evangelical Milieu: Defining Criteria and Reproduction across the Generations, in: Social Compass 52(2)/2005, 169-183.
2 Ebd., 171.
3 Andreas Boppart, rosa träumt blau – blau sieht rosa. Eine wahre e-mail-romanze, Vertrieb durch MOSAICSTONES Thun und Campus für Christus Zürich, 129.
4 Ebd., 182.
5 Stolz / Favre, a.a.O., 175.
6 Boppart, a.a.O., 12.
7 Ebd., 95.
8 Stolz / Favre, a.a.O., 174f.
9 Ebd., 177.
10 Ebd.
11 Ebd., 177ff.