Andreas Fincke

Ist der Humanismus eine (gottlose) Konfession?

In der SPD, der Linken, bei den Grünen, aber auch in der FDP melden sich in jüngster Zeit verstärkt Stimmen zu Wort, die einen entschiedenen Laizismus für Deutschland fordern. Die Themen Trennung von Staat und Kirche, Ablösung der Staatsleistungen sowie die Frage nach kirchlichen Privilegien gewinnen aktuell an Brisanz. Ein in den Medien beachtetes Ereignis war der Versuch einiger Mitglieder der SPD, einen „Arbeitskreis Laizisten in der SPD“ zu gründen. Dieser Schritt wurde seit Jahren in verschiedenen Internetforen vorbereitet. Zu den prominenten Unterstützern gehören SPD-Landtags- und Bundestagsabgeordnete, darunter Gerd Andres, Bundesstaatssekretär a. D., sowie Ingrid Matthäus-Maier, viele Jahre stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied im Beirat der religionskritischen „Giordano Bruno Stiftung“ (vgl. MD 10/2010, 374f). Die SPD-Parteispitze reagierte vorerst kritisch und untersagte ihren Mitgliedern die Verwendung des Parteinamens in diesem Zusammenhang. Ebenfalls für Aufregung sorgt in den letzten Wochen die polemische Schrift „Violettbuch Kirchenfinanzen. Wie der Staat die Kirchen finanziert“ von Carsten Frerk und die begleitende Pressekampagne durch den „Koordinierungsrat säkularer Organisationen“ (KORSO).Vor diesem Hintergrund ist eine Diskussion im Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) interessant. Hier geht es darum, ob der (atheistische) Humanismus ein Bekenntnis im Sinne einer Konfession, der HVD also eine „Bekenntnisgemeinschaft“ ist, wie das die Kirchen sind.

Ein Recht auf humanistische Weltanschauungsschulen?

Aktueller Hintergrund der Debatte ist ein juristischer Streit um eine Schule in Bremen. Ende 2008 hatte der HVD Niedersachsen gemeinsam mit dem Humanistischen Sozialwerk Norddeutschland einen Antrag auf Erteilung einer Genehmigung zur Errichtung einer „Humanistischen Schule Bremen“ in freier Trägerschaft als Weltanschauungsschule nach Art. 7 Abs. 5 Grundgesetz gestellt. Die Schule, reformpädagogisch ausgerichtet, sollte langsam aufwachsen und vorerst mit wenigen Schülern beginnen. Für die weltanschauliche und pädagogische Ausrichtung der Schule würde der HVD bzw. sein Landesverband Niedersachsen Verantwortung tragen. Inzwischen ist ein Humanistischer Verband Bremen ausgegründet worden, der Träger sein will.Nachdem die zuständige Senatsverwaltung keine Entscheidung getroffen hatte, reichte der HVD im August 2009 Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen ein. Mit einem Urteil vom 25. Februar 2010 hat das Gericht dem HVD in den wesentlichen Punkten Recht gegeben und die Bremer Senatorin für Bildung und Wissenschaft verpflichtet, den Antrag auf Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer „Humanistischen Schule Bremen“ neu zu bescheiden und damit praktisch den Weg für die Schulgründung zu eröffnen (Az: 1 K 1209/09).In der Urteilsbegründung finden sich einige interessante Überlegungen, die weit über die Bremer Situation hinausgehen. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass der HVD sich um die Eröffnung weiterer Schulen im Bundesgebiet bemühen wird. So geht das Bremer Verwaltungsgericht auf die Frage ein, ob eine Weltanschauung einen Ausschließlichkeitsanspruch formulieren muss, und es führt aus: „Aus der ... Definition einer Weltanschauung ergibt sich nicht, dass diese einen Ausschließlichkeitsanspruch erheben müsste. Entscheidend ist vielmehr, dass ein Anhänger der Weltanschauung diese für sich selbst als eine Sinn- und Werteordnung mit subjektiv verbindlichen Handlungsanleitungen begreift. In den ... Grundsätzen des HVD vermag die Kammer sehr wohl eine weltanschauliche Orientierung zu erkennen; aus der Betonung der Verantwortung des einzelnen für Gesellschaft und Natur ergeben sich zudem moralische Anforderungen an das Handeln. Schließlich erscheint es nicht überzeugend, warum eine Weltanschauung, deren Grundsätze inzwischen von einem Großteil der Bevölkerung geteilt werden und deren Grundforderungen auch Grundlagen des westlichen Verfassungsstaates sind, nur aus diesem Grunde keine Weltanschauung mehr sein sollte; insbesondere da die genannten Grundforderungen bei den Humanisten aus einem bestimmten – und sicher nicht von allen Teilen der Bevölkerung geteilten – atheistischen Weltbild resultieren.“1 Mit diesen Gedanken rekurriert die Kammer auf ein Gutachten von Wolfgang Löwer (Universität Bonn), das die Bremer Senatorin in Auftrag gegeben hatte.2 Der Gutachter hatte bemängelt, dass der Humanismus keinen Ausschließlichkeitsanspruch kenne, und gefolgert, „das schwäche seine Wahrnehmung als Weltanschauung naturgemäß“.

Dennoch sah Löwer im Humanismus eine Weltanschauungsgemeinschaft, wenn auch – gemessen an den Kirchen und Religionen – „mit geringerer Prägekraft“. Aus dieser mangelnden Prägekraft ergab sich für Löwer die Frage, ob das Schulkonzept hinreichend vom Humanismus geformt wird, was Voraussetzung wäre, die Gründung einer Privatschule zu rechtfertigen.So ist für den Gutachter z. B. das für den HVD konstituierende Moment des Areligiösen nicht überzeugend, weil auch die Staatsschule nicht religiös geprägt unterrichtet. Und weiter: „Das Problem der humanistischen Pädagogik, wie es im Schulkonzept ... dargelegt ist, kämpft nach meinem Dafürhalten mit der Schwierigkeit eine Prägung darzulegen, weil die meisten der humanistischen Grundüberzeugungen mit den normativen und ethischen Grundlagen einer von westlicher Verfassungsstaatlichkeit stark geformten Gesellschaft übereinstim-men.“3 Mit anderen Worten: Der humanistischen Schule fehlt möglicherweise ein originelles Konzept.Trotz dieser Bedenken sah der Gutachter aber auch Ansätze für ein besonderes Profil. So verweist er darauf, dass das Schulkonzept z. B. dem Philosophieren mit Kindern, humanistischen Werten sowie einer weltlichen Fest- und Feierkultur besonderen Raum einräumen möchte. Ob damit jedoch der Erwartung des Grundgesetzes nach Art. 7,5 Genüge getan wird, ließ der Gutachter offen.Alles in allem war das Urteil für den HVD erfreulich – schien doch der Weg zur Schulgründung frei. Ende Mai 2010 legte die Landesregierung jedoch Berufung ein. Im Mittelpunkt der Argumentation stand erneut die Frage, ob der vom HVD vertretene Humanismus über eine hinreichende Prägekraft verfügt, die den Sondergenehmigungsstatus für eine private Volksschule nach Art. 7 Abs. 5,2. Alt. GG rechtfertigen könnte.

Positionierungen in der „Bekenntnisfrage“

Ende September 2010 hat nun Horst Groschopp, von 2003 bis 2009 Präsident des HVD, in Bremen und andernorts mit unterschiedlichen Beiträgen zur Frage nach dem Bekenntnis des HVD Stellung bezogen. Das Thema ist nicht ohne Risiken, da der HVD in der Bekenntnisfrage bisher unterschiedliche Positionen eingenommen hat.4 Im ersten Selbstverständnis von 1993 hieß es recht unbefangen: „Mit seinem Bekenntnis zu einer weltlich humanistischen Lebensauffassung knüpft der HVD bewusst an Traditionen an, die in der europäischen Aufklärung, im Liberalismus und in der Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurzeln.“ Ende der 1990er Jahre verschwand das Wort „Bekenntnis“ aus den grundlegenden Texten. Im Selbstverständnis des HVD aus dem Jahre 2001 heißt es: „Das ‚Selbstverständnis’ des HVD ist keine ‚Doktrin’, keine ‚Theorie’, keine ‚geschlossene Weltanschauung’, kein ‚Bekenntnis’.“ Als dieser Text später nachgedruckt wurde, entfielen die Anführungszeichen, sodass die Formulierung derzeit faktisch lautet: Das „Selbstverständnis ... ist … kein Bekenntnis.“Groschopp akzentuiert jetzt anders: „Die Wahrheit aussprechen bedeutet, sich zu bekennen ... Eine Weltanschauungsgemeinschaft Humanistischer Verband, die den Anforderungen des Grundgesetzes genügen und mit den Religionsgesellschaften gleich gestellt sein will, ist ohne Bekenntnis zum Humanismus nicht möglich. Dabei ist es nebensächlich, ob diese öffentlich abzulegende Gewissheitsbeteuerung ‚Konfession’ genannt wird. Wenn aber christliche Religionen in Deutschland konfessionell und mit ‚hinkender Trennung’ von Staat und Kirche organisiert sind, kann dies dem HVD nicht gleichgültig sein, schon weil das Religions- und Weltanschauungsrecht dadurch bestimmt wird.“5

Für Groschopp gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem weltanschaulichen Verein und einer Weltanschauungsgemeinschaft. Er schreibt: „Eine Weltanschauungsgemeinschaft ist kein weltanschaulicher Verein wie es ja viele in unserem Land gibt, von Jugendweihe e.V. bis zu Greenpeace.“ Daher unterscheidet Groschopp zwischen einem „allgemeinen und gesellschaftlich gegebenen Humanismus“ und einem „speziellen und gemeinschaftlich organisierten Humanismus des HVD“.6 Er greift damit eine Unterscheidung auf, die in dem bereits zitierten Gutachten ebenfalls angeklungen war: Eine Weltanschauung bleibt auch dann eine Weltanschauung, wenn ihre Grundsätze von einem Großteil der Bevölkerung geteilt werden und zu den Grundlagen des Verfassungsstaates gehören. Auf Anfrage teilt Groschopp mit, dass es für die Politik des HVD im Grunde unerheblich sei, ob er sich selbst als „konfessionell“ bezeichne oder diesen Begriff ablehne. Faktisch trete er „konfessionell“ auf und werde so behandelt. Außenstehende werden schnell den Verdacht äußern, der HVD wolle sich selbst doch nur zur Konfession erheben, damit er leichter an Fördergelder komme. Diesen Verdacht weist Groschopp zurück: Die Gleichbehandlung von Religionen und Weltanschauungen (Grundgesetz Art. 4,1 und Art. 140 i.V.m. Art. 137,1 WRV) sei in der Grundgesetzinterpretation längst kein Problem mehr; alle wichtigen Kommentare sähen das so. Es gehe ihm in der Tat um ein Bekenntnis zu einer humanistischen Weltanschauung.In die Debatte über die Bekenntnishaftigkeit des HVD meldete sich inzwischen auch Frieder Otto Wolf, amtierender Präsident des HVD, mit einem Text unter dem Titel „Bekenntnis und ‚Bekenntnis‘. Eine sprachanalytische Übung“ zu Wort. Er unterscheidet zwischen (mindestens) zwei Bekenntnisbegriffen. In seinen Augen kann sich das Bekenntnis des HVD nicht an christlich-kirchlichen Traditionen orientieren. „Wenn es als ein ‚Glaubensbekenntnis’ im Sinne der etablierten christlichen Kirchen verstanden würde, wäre daher ein ‚humanistisches Bekenntnis’ eine Absurdität.“ Das nimmt, so Wolf, „dem ganz realen humanistischen Bekenntnis zu einer niemals abschließend formulierbaren Lebenshaltung und zu einer damit verbundenen unvermeidlich unvollständigen Weltanschauung aber nichts von seinem Ernst und seiner Entschlossenheit ...“7 Was aber bedeutet es, wenn der Humanismus ein Bekenntnis ist? Dazu teilt Groschopp mit: „Der organisierte Humanismus geht davon aus, dass es nicht genügt, aus den Kirchen auszutreten. Den Menschen muss ein Angebot gemacht werden. Wir müssen uns der Aufgabe stellen, den Menschen etwas zu geben, das ihnen eine Perspektive bietet und sie in ihrer Lebenseinstellung unterstützt. Das meine ich nicht nur theoretisch: Wer wie wir von Sterbehilfe redet, muss auch Hospize unterstützen – und das machen wir. Allein in Berlin gibt es vier humanistische Hospize. Wer wie wir von Bildung redet, muss auch Kindertagesstätten betreiben. Und er muss in die Schulen gehen: Weil das Berliner Schulfach Ethik den Humanismus nur am Rande behandelt, bieten wir auch weiterhin den Lebenskundeunterricht an – und erreichen in Berlin und Brandenburg damit derzeit 55000 Schüler pro Jahr. Ich gehe davon aus, dass wir dieses Schulfach über kurz oder lang auch in anderen Bundesländern anbieten werden.“8

Offene Fragen

Der Konflikt um die Schule in Bremen hat verschiedene Ebenen. Die juristische Auseinandersetzung zeigt, dass der HVD auf Dauer gute Chancen haben dürfte, die Gründung humanistisch-atheistischer Schulen bundesweit durchzusetzen. Davon unberührt bleibt die Frage, ob der HVD die institutionelle und personelle Kraft hat, zahlreiche solcher Projekte zu verfolgen. Spannungsreich bleibt, dass in der säkularen Szene Schulgründungen dieser Art umstritten sind. Zwar zweifelt hier niemand die weltanschauliche Qualität des religionsfreien Humanismus an, viele betonen aber den Grundsatz strikter Säkularität des Staates. Und mit diesem wären humanistische Schulen genauso wenig vertretbar wie zahlreiche Schulen in kirchlicher Trägerschaft. (Im atheistischen Internetforum www.freigeisterhaus.de wurde zeitweise heftig über diese Frage gestritten.)9 Nicht ganz risikolos dürfte für den HVD auch die Frage nach seinem pädagogischen Profil sein. Ursprünglich hatte der HVD die Nähe vieler Menschen zum „Humanismus“ unterstrichen, um so hervorzuheben, wie unspektakulär sein Ansinnen auf Gründung einer dem HVD nahestehenden Schule wäre. Daraufhin hatten die Bremer Richter gefragt, worin denn nun das besondere pädagogische Konzept der Schule bestehe – Atheismus allein genüge nicht. Die Frage nach dem pädagogischen Konzept dürfte an Relevanz gewinnen.Und schließlich: In der Szene der säkularen Organisationen werden die Bemühungen des HVD um Neupositionierung in der „Bekenntnisfrage“ kritisch gesehen. Hier macht derzeit das Gerücht die Runde, der HVD wolle sich zu einer Art „Humanistischer Kirche“ wandeln. Auf Nachfrage teilt Groschopp (mit Verweis auf sein in diesen Tagen erscheinendes Buch „Konfessionsfreie und Grundgesetz“) mit, dass dies ein alter und unbegründeter Vorwurf sei. Aus seinem Artikel über „Konfessionsfreie und Weltanschauungspflege“ zitierend, meint er, es sei klar, dass auch bei Muslimen keine „Kirche“ Voraussetzung sei, um mit den anderen Religionsgemeinschaften gleichbehandelt zu werden. Dramatischer sei vielmehr, ob es in der Gesellschaft ein „wachsendes Bedürfnis konfessionsfreier Menschen nach einem offenen ‚konfessionellen Humanismus’ gibt, wie er dem Konzept einer Weltanschauungsgemeinschaft nun einmal innewohnt“. Das jedoch, so räumt er ein, wird erst die Geschichte zeigen.10


Andreas Fincke


Anmerkungen

1 Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 25.2.2010 (Az: 1 K 1209/09), 10.

2 Wolfgang Löwer, Gutachtliche Stellungnahme zu Rechtsfragen der Genehmigung einer Weltanschauungsgrundschule, November 2009.

3 Ebd.

4 Vgl. genauer: Horst Groschopp, Bekenntnisgeschichte des HVD. Eine Betrachtung der „Humanistischen Selbstverständnisse“ seit Gründung des HVD 1993, 5f, www.humanistische-akademie-deutschland.de .

5 Horst Groschopp, Humanismus – eine (gottlose) Konfession? Die Weltanschauung hinter der Humanistischen Schule Bremen, 4, www.humanistische-akademie-deutschland.de.

6 Ebd.

7 Frieder Otto Wolf, Bekenntnis und „Bekenntnis“. Eine sprachanalytische Übung, 3f, www.humanis-tische-akademie-deutschland.de.

8 Das ist ein Bekenntnis. Interview mit Horst Groschopp, in: Rheinischer Merkur vom 30.9. 2010.

9 Vgl. z. B. www.ibka.org/node/972.

10 Horst Groschopp, Konfessionsfreie und Weltanschauungspflege, in: ders. (Hg.), Konfessionsfreie und Grundgesetz, Aschaffenburg 2010.