Silvana Lindner

Ist interreligiöser Dialog eine geeignete Methode zur Konfliktbearbeitung?

Der interreligiöse Dialog ist schon seit mehreren Jahren in aller Munde. Es heißt, die Ära des Säkularismus sei vorbei, die neue Ära sei die der Rückkehr des Religiösen. Eine „De-Kanonisierung der Prinzipien der Aufklärung“ führe heutzutage zu einer „Re-Kanonisierung religiöser (aber auch quasi-religiöser) Traditionen“.1 Daher, so wird häufig verkündet, sei der interreligiöse Dialog unverzichtbar, auch wenn man nach dem 11. September am bisherigen Dialog gezweifelt hat. Der interreligiöse Dialog als Wundermittel gegen viele nationale und internationale Probleme? Jetzt auch als Methode der Konfliktbearbeitung?

Der erste Teil dieses Beitrags2 beschäftigt sich mit den Schwierigkeiten des Dialogs im Allgemeinen, mit der Kritik an ihm und mit daraus abgeleiteten Vorschlägen zu seiner Optimierung. Der zweite Teil hat bewusst einen provokativen Titel. In diesem Teil wird versucht, vom Allgemeinen zum Konkreten zu kommen. Manche Konfliktfelder auf der Basis-Ebene werden am Beispiel der christlich-islamischen Dialogbemühungen dargestellt. Probleme, die im allgemeinen Teil erwähnt werden, kommen zum Teil auch im zweiten, konkreteren Teil vor.

1. Konstruktive Kritik des interreligiösen Dialogs

Ein Zitat sei vorangestellt: „Ein frommer Jude ging jeden Morgen zur Klagemauer in Jerusalem, um für den Frieden zu beten. 25 Jahre lang ging er jeden Morgen zur Klagemauer und bat für den Frieden. Nach 25 Jahren wird er von einem Journalisten gefragt: ‚Wie fühlt es sich an, 25 Jahre lang hierher zu kommen und für den Frieden zu beten?’ Er antwortete: ‚Es fühlt sich an, als ob man mit der Mauer sprechen würde’“.3

Bevor versucht wird, den interreligiösen Dialog als Methode der Konfliktbearbeitung zu bedenken, ist es wichtig, sich die aktuelle konstruktive Kritik und die Benennung von Schwachpunkten anzusehen, die die Wirksamkeit des Dialogs beeinflussen können.

1.1 Vermeidung von Kontroversen um der Harmonie und des Konsenses willen

Nicht als einzige Stimme behauptet Stanley Samartha, dass die Fokussierung auf das Ethische manchmal die Vermeidung von Diskussionen über die theologischen Unterschiede bedeutet.4 Die Verschiebung theologischer Inhalte in den Hintergrund und das Hervorheben ethischer Inhalte als Schwerpunkt des Dialogs können keine passende Reaktion in der gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaft sein, auch wenn die Versuchung um der Harmonie und Verständigung willen groß ist. Denn ein ethischer Grundkonsens – tatsächlich nicht schwer zu erreichen – ohne die partikulären theologischen Inhalte und deren Wahrheitsansprüche zu beachten, kann zu einer falschen Fokussierung führen.

Unter den Verteidigern des zentralen Platzes der Wahrheitsfragen kann Christoph Schwöbel erwähnt werden: „Interreligiöser Dialog wird unmöglich, wenn die Wahrheitsansprüche der Dialogpartner im Dialog ausgeklammert werden. Dann begegnen sich nur noch die kulturellen Ausdrucksformen religiöser Überzeugungen. Erst im Dialog der Wahrheitsgewissheiten begegnen sich die Religionen“.5 Das wechselseitige Verständnis ist das Ziel des Dialogs, so Schwöbel, auch wenn das ein stärkeres Hervortreten der Differenzen als der Gemeinsamkeiten bedeutet.6 Auch in der Handreichung der EKD vom November 2006 über die Begegnung zwischen Christen und Muslimen wird erneut dazu aufgefordert, die Wahrheitsfragen nicht auszuklammern.7

Ein Zitat, das gut die hier kritisierte Haltung spiegelt, stammt von Martin Bauschke, Mitarbeiter in der Stiftung Weltethos: „Ein Dialog der Kulturen und Religionen, der 1. nicht bei den Differenzen, sondern bei den Gemeinsamkeiten ansetzt und der 2. nicht auf religiöse und weltanschauliche Inhalte abzielt (die Ebene der Dogmen, der Glaubensinhalte), sondern primär die Ebene des Ethischen, also die Frage nach gemeinsamen Werten und Normen thematisiert – nur ein solcher Dialog scheint offensichtlich in der Lage zu sein, weltweit den Frieden der Nationen, Religionen und Kulturen zu fördern.“8 Eine klare Fokussierung auf das Ethische ist hier deutlich. In diesem Zitat ist auch ein anderer, häufig am interreligiösen Dialog kritisierter Punkt zu finden: die Betonung der Gemeinsamkeiten und die Verschiebung der Diskussion über Differenzen auf eine sekundäre Ebene. Stimmen wie z. B. die von Catholicos Aram plädieren im Gegenteil für eine klare Aussprache und Benennung der Unterschiede zwischen Religionen.9 Die Gemeinsamkeiten sollen natürlich nicht geleugnet werden, den Differenzen aber muss genügend Raum gelassen werden.10 Die häufig bemerkte Tendenz, sich auf die Gemeinsamkeiten,11 nur auf gemeinsame ethische Werte zu konzentrieren, um einen Konsens zu erreichen (und eine gemütliche Konferenzatmosphäre), kann zu einer einseitigen Betreibung des Dialogs führen. Sie vermeidet Konflikte, entwickelt aber nicht die Fähigkeit, latente oder schon ausgebrochene Konflikte zu bearbeiten.

1.2 Der Dialog muss kontextuell sein

Ein Kritikpunkt am interreligiösen Dialog – besonders am Konferenz-Dialog – lautet, dass er nicht genügend kontextbezogen sei. Häufig wurde die Forderung geäußert, dass er seine Agenda vor Ort entwickeln und an die Besonderheiten des Ortes anpassen muss12, dass eine Art „Internalisierung“ des Dialogs in die lokalen Gegebenheiten geschehen soll. Damit in Verbindung steht der im Folgenden genannte Kritikpunkt.

1.3 Vom Elfenbeinturm zu den „grassroots“

Kritische Stimmen beziehen sich auf die Frage nach der Wirksamkeit des Dialogs. Die Wirkung der Ergebnisse von Dialogtreffen und Konferenzen auf religiöse Gemeinschaften, auf die Basis, sei in vielen Fällen sehr gering bis nicht existent. Um eine Wirksamkeit des Dialogs zu erreichen, muss dieser nicht nur von einer Elite betrieben werden, sondern auch auf der „grassroots“-Ebene. Häufig war der Dialog zu sehr nur von der intellektuellen und diskursiven Ebene geprägt. Eine erfolgreiche Bewegung hin zu den „grassroots“ könnte z. B. durch die interreligiöse Erziehung und Ausbildung geschehen.

1.4 Die Notwendigkeit einer kreativen Vielheit der Dialogmodelle

Da der heutzutage praktizierte Dialog seinen Ursprung meist in christlichen Kreisen hat, reflektiert er Modelle des christlichen Selbstverständnisses und der Selbstreflexion.13

Manche Schwierigkeiten beziehen sich auch auf diesen Punkt, wie im zweiten Teil zu sehen sein wird. Hilfreich könnte die Relativierung mancher Vorstellungen vom interreligiösen Dialog um des Dialoges willen sein.

1.5 Interreligiöser Dialog im Tandem mit intrareligiösem Dialog

Es wird viel vom interreligiösen und selten vom intrareligiösen Dialog gesprochen. Innerhalb einer am Dialog teilnehmenden Gemeinde existieren unterschiedliche Strömungen, die auch unterschiedliche Vorstellungen von Dialog vertreten. Der intrareligiöse Dialog könnte der Wirkung des interreligiösen Dialogs helfen, denn Spannungen unter den Mitgliedern einer Gemeinde können, wenn nicht auf sie eingegangen wird, den interreligiösen Dialog erschweren oder gar verhindern. Zusätzlich besteht ein anderes Risiko: das Risiko für den Dialogteilnehmer, den Kontakt mit der eigenen Gemeinschaft zu verlieren. Der Dialog verändert den Teilnehmer. Nicht wenige fühlen sich nach einer Weile den Dialogspartnern näher als den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft. Der Teilnehmer am Dialog wird ein Vermittler zwischen zwei Domänen, verpflichtet zur Loyalität beiden gegenüber, aber manchmal auch von beiden missverstanden.14 Man muss sich solcher Konfliktpotentiale bewusst sein und versuchen, die beiden Domänen (des Dialogs und der eigenen religiösen Gemeinschaft) in Verbindung zu halten.

Der interreligiöse braucht den intrareligiösen Dialog. Die Herausforderung besteht darin, beide miteinander in Verbindung zu bringen, beide zu fördern. Es nützt nicht viel, wenn die Dialogteilnehmer keine Vertretungsrolle für die eigene Gemeinschaft übernehmen, wenn die Früchte nur von einer Minderheit gekostet und zu Hause, in der eigenen Gemeinschaft, nicht „verdaut“ werden können.

1.6 Die Außeneinflüsse auf den Dialog beachten

Wie auch in konkreten Fällen im Teil 2 zu sehen sein wird, beeinflussen den Dialog eine ganze Reihe sozialökonomischer, sozialpolitischer und kultureller Faktoren, die nicht viel mit dem Religiösen zu tun haben. Deshalb soll der Dialog sich nicht in autistischer Weise nur mit religiösen oder theologischen Fragen beschäftigen, sondern auch die Außenfaktoren identifizieren und mitbedenken.15

1.7 „Aktion statt Dialog“

Um die alte Weisheit zu bestätigen, dass man nicht alle zufrieden stellen kann: Während manchen (s. 1.1) der Dialog nicht theologisch genug ist, fordern andere die Abkehr von den theologisch-doktrinären Gesprächen, von den intellektuellen Formen des Dialogs und die Hinwendung zum Praktischen. „Vom Reden zur Aktion“ ist die Devise solcher kritischen Stimmen: Christen und Muslime z. B. werden sich in erster Linie auf der Ebene der Ethik, der Werte und der konkreten Handlungsziele – dem „Dialog des Handelns“ – treffen können; hier eröffnet sich ein breites Spektrum gemeinsamer Aktivitäten.16

Die Ebene des „Praktischen“, des konkreten gemeinsamen Handelns ist eine der wichtigen Ebenen des Dialogs – genau wie die Ebene der theologischen Gespräche oder die der Vereinbarung über Wertvorstellungen. Der Dialog ist ein sehr komplexer Prozess mit unterschiedlichen Ebenen, die alle Aufmerksamkeit verdienen. Wichtig ist die Vereinbarung klarer Ziele am Anfang, um Missverständnisse und Enttäuschungen zu verhindern und Transparenz zu schaffen.

2. Methode zur Konfliktbearbeitung oder zusätzliche Konfliktursache?

Das Thema soll nun am Beispiel der christlich-muslimischen Dialogbemühungen in Deutschland erörtert werden.

Eine Vermischung und ein Einfluss sehr verschiedener Faktoren sind im Dialog zu bemerken, wie unter Punkt 1.6 schon erwähnt. Sozialpolitische, sozialökonomische und kulturelle Faktoren spielen für die Durchführung und die Wirkung eine wichtige Rolle. Es wurde proklamiert, dass ein zukunftsfähiger Dialog der Kulturen die Religionen einschließen muss.17 Auch umgekehrt muss es klar gesagt werden: Ein zukunftsfähiger interreligiöser Dialog muss den interkulturellen einschließen.

Wie es am Beispiel des christlich-islamischen Dialogs an der Basis bemerkt werden kann, steht der religiös-theologische Inhalt nicht immer im Vordergrund. Man bewegt sich auf einem komplexen Minenfeld, auf dem es keinen Mangel an Konflikten gibt. Wagt man den Dialog, so riskiert man Konflikte unterschiedlicher Art: Wertkonflikte, Identitätskonflikte, kulturelle Konflikte. Häufig entstehen nicht Konsens und Harmonie, sondern Auseinandersetzungen. Insofern kann der Dialog als eine Konfliktursache betrachtet werden, wobei Konflikt hier nicht mit einem negativen Wert beladen wird. Ein Konflikt kann – gut ausgetragen und bearbeitet – die Quelle positiver Erfahrungen sein.18 Die Konflikte, die im Dialog entstehen oder entdeckt werden, können identifiziert und bearbeitet werden und dadurch zur Gewaltprävention beitragen. Eine wichtige Basis dafür ist das Vertrauen, das durch den Dialog aufgebaut wird. In diesem Sinne kann der Dialog gleichzeitig als Konfliktursache und als Zugang zur Konfliktbearbeitung betrachtet werden. Anhand der nachstehenden Beispiele wird versucht diese These zu begründen.

2.1 Die Machtfrage

Im christlich-islamischen Dialog existieren eine Reihe potentieller Machtgefälle hinsichtlich Bildung, Sprachfähigkeit, Organisationsgrad und religiös-theologischem Fachwissen – die christliche Seite ist im Vorteil. Sie kann sich auch am ehesten den Dialog leisten und ihn sich etwas kosten lassen.19 Der christlich-islamische Dialog in Deutschland findet zwischen einer gastgebenden Gesellschaft mit einer Mehrheitsreligion und einer Minorität statt. Man muss sich der Machtsituation bewusst sein. Auch wenn keine offenkundige Bedrohung existiert, werden Teilnehmer der Minderheit häufig die verunsichernde Erfahrung der Angst vor Identitätsverlust durch Assimilation oder Akkulturation machen. Das Gefühl der Zerbrechlichkeit ist häufig in solch einer Situation bei den Angehörigen der Minderheit präsent. Die Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft sind sich manchmal der Unsicherheit der Dialogpartner und der eigenen Machtposition gar nicht bewusst.20 Es ist schwer, sich unter solchen Umständen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Ein Dialog ist aber nur dann möglich, wenn die Partner gleichberechtigt sind.

Die Identifizierung solcher Konfliktpotenziale könnte z. B. zu einem gemeinsamen Eintreten der Dialogpartner für die Entwicklung von Ausbildungsstätten von Imamen und Lehrkräften für den islamischen Religionsunterricht in Deutschland führen.

2.2 Der Einfluss von außen

Der Einfluss des Heimatlandes auf islamische Verbände, ihre Mitglieder21 und ihre Bereitschaft zum Dialog ist ein Beispiel von Außenbeeinflussung. Solch eine Beeinflussung ist ein Konfliktfeld, nicht nur im interreligiösen Dialog, sondern auch in anderen Sektoren der Gesellschaft. Der Zugang durch den Dialog zu diesem Problemfeld könnte Gelegenheit zur Konfliktbearbeitung sein.

Andere potentielle, nicht weniger problematische Einflüsse von außen können auch von Seiten des deutschen Staates – wie beim nächsten Punkt – bemerkt werden oder in konkreten Fällen von Seiten des Verfassungsschutzes.

2.3 Migration und Integration

Die Migrations- und Integrationspolitik, die vom Staat betrieben wird, nimmt indirekt Einfluss auf den Dialog mit anderen Religionen, deren Angehörige in großer Zahl einen Migrationshintergrund haben. Die Fehler der Integrationspolitik, die z. T. mangelhafte Integration vieler Migranten erschweren die interreligiöse Arbeit. Die Ausgrenzung und Selbstabkapselung, die Unsicherheit, die nicht wenige Muslime mit Migrationshintergrund mit sich tragen, führen zu Konfliktsituationen oder bergen potentielle Konflikte in sich. Nicht selten wird die Religionszugehörigkeit zum Islam als zentrales identitätsbildendes Element angesehen. Der Dialog könnte zu einer Aufarbeitung damit zusammenhängender Konflikte und zur Gewaltprävention beitragen. Das gemeinsame Eintreten für soziale Gerechtigkeit kann in diesem Kontext von leeren Worten zu konkreten Taten führen (z. B. für den Schutz der Flüchtlinge).

In solchen Fällen, in denen Konfliktfelder sozialpolitischer Art erlebt werden, sollten die Dialogbeteiligten auch mit staatlichen und politischen Akteuren Kontakt halten und zusammenarbeiten, um Vorschläge zur Beseitigung struktureller und institutioneller Konfliktfaktoren zu liefern.

2.4 Die kritische Auseinandersetzung

Bei muslimischen Dialogteilnehmern wird manchmal die fehlende Bereitschaft beobachtet, sich auf kritische Anfragen einzulassen.22 In nicht wenigen Fällen reagieren muslimische Partner sehr irritiert, wenn Kritik in Bezug auf islamische Glaubens- und Ethikfragen geäußert wird. Das Gefühl der Unsicherheit, die nicht wenige Einwanderer in Deutschland spüren, könnte einer der Gründe sein. Dialog bedeutet, eine Auseinandersetzung zu riskieren und manchmal sich selbst in Frage zu stellen. Kritische Hinterfragung bewirkt aber bei manchem Dialogspartner erst einmal Irritation. In der Öffentlichkeit tauchen in letzter Zeit nicht selten Begriffe wie Islamfeindlichkeit und Islamophobie auf. Die Unterscheidung zwischen kritischen Anfragen und islamfeindlichen Aussagen ist sehr wichtig. Im Dialog sind in diesem Kontext zwei Bedingungen zu erreichen: das durch den Dialog aufgebaute Vertrauen und die Bereitschaft zur Selbstkritik.

Im Teil 1 wurde erwähnt, ein Kritikpunkt am Dialog sei die Prägung des Dialogmodells exklusiv von christlichen Vorstellungen und dem christlichen Selbstverständnis her. Eine mögliche Frage an dieser Stelle könnte sein: Ist das Modell der kritischen Auseinandersetzung im Dialog nicht solch ein Beispiel, an dem deutlich wird, dass man das christliche Dialogmodell als selbstverständlich annimmt? Wenn das der Fall wäre: Könnte dieser Verdacht auf kulturelle Hegemonie des Christentums in einer pluralistischen Gesellschaft zu Konflikten führen? Der nächste Punkt steht damit in Verbindung.

2.5 Identitäts- und Wertkonflikte

Die Angst vor Identitätsverlust und dem Herausfallen aus der eigenen Ordnung ist im christlich-islamischen Dialog nicht selten zu spüren. Sie führt auch in manchen Fällen zu Konflikten. Ein bekanntes Beispiel ist die Debatte über das Kopftuch. Dieses ist zu einem identitätsbestimmenden Symbol geworden. Die Argumente gegen das Kopftuch werden häufig als Attacke auf das ganze System von Wertvorstellungen empfunden, als Angriff gegen die vom Islam geprägte Identität und die Ausübung der Religionsfreiheit. Das gesamte Spannungsfeld zwischen der Ausübung von Religionsfreiheit einerseits und der Menschenrechtsproblematik andererseits ist auf der Mikroebene im interreligiösen Dialog auch zu finden. Hier werden Probleme, Konflikte in „Miniatur“ erlebt. Die Chance, bei der Konfliktbearbeitung hier einzugreifen, ist nicht zu unterschätzen. Eine Verständigung über Werte und Maßstäbe für das gesellschaftliche Zusammenleben könnte auch hier anfangen.

2.6 Fremd- und Feindbilder

Vor der Wirkung von Fremd- und Feindbildern ist auch der Dialog nicht geschützt. In der christlich geprägten Bevölkerung Deutschlands ist – wie manche betonen23 – die Fremdheit, die kulturelle Distanz gegenüber den Muslimen besonders auffällig. Es entsteht häufig eine Überheblichkeit (nach dem Motto: der zurückgebliebene Muslim, der seine Gesellschafts- und Werteordnung aus der Zeit vor der Aufklärung bezieht), die in manchen Fällen zu einem kulturellen Rassismus gegenüber Muslimen führt. Dies ist eine gefährliche Einstellung, die bei vielen Muslimen zum Eindruck der Dämonisierung, Isolation und Ausgrenzung führt. Folge war nicht selten der Rückzug in die Gettos, in denen manche Muslime unter den Einfluss nationalistischer und radikaler Kreise geraten sind.

Auf der anderen, der muslimischen Seite wirkt die anti-westliche Einstellung, die in den Heimatländern stark vertreten wird. Die „zunehmende Artikulierung des politischen und sozialen Protests in religiösen Kategorien“24 macht es nicht immer leicht, den religiösen und politischen Teil voneinander zu trennen. Solch ein importiertes Bild zusammen mit dem deutschen Fremdbild von Muslimen sind Konfliktfaktoren, die im Dialog angesprochen und vielleicht auch bearbeitet werden könnten.

3. Zusammenfassung

Zurück zu der Frage des Titels: Ist der interreligiöse Dialog eine geeignete Methode zur Konfliktbearbeitung? Die Antwort ist erst einmal negativ. Er ist nicht eine Methode der Konfliktbearbeitung, denn eine Methode von etwas zu sein bedeutet, sich exklusiv dem Zweck dieses „Etwas“ zu unterwerfen. Es kann nicht behauptet werden, dass im interreligiösen Dialog der Konflikt und seine Bearbeitung an erster Stelle stehen.

Behauptet werden aber kann, dass der Dialog einen guten Zugang und ein Feld für Konfliktbearbeitung, Konfliktaustragung, für Gewaltprävention und vielleicht für die Umformung von Konflikten an­ bieten kann. Konflikte, die im interreligiösen Dialog vorkommen, spiegeln häufig Konflikte oder Konfliktpotenziale der Gesellschaft wider.

Der Dialog kann aufgrund des aufgebauten Vertrauens eine gute Basis oder Möglichkeit (nicht Methode) für die Konfliktbearbeitung bieten. Er kann so einen Beitrag zum sozialen und gesellschaftlichen Frieden leisten. Auch wenn man manchmal das Gefühl hat, man spräche im interreligiösen Dialog zu einer Mauer, auch wenn beim Auftreten von Konflikten und Problemen immer wieder die Gefahr des Rückschritts existiert, darf man keine Resignation zeigen,25 denn die Chancen des Dialogs sind bedeutend.


Silvana Lindner, Heidelberg


Anmerkungen

1 Christoph Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus, Tübingen 2003, 180.

2 Der Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Referats vom 28.03.2007 bei den „Heidelberger Gesprächen“ in der Forschungsstätte der Evangeli­ schen Studiengemeinschaft Heidelberg.

3 Rabbi Ehud Bandel, Visions for the Future, in: Changing the Present, Dreaming the Future. A Critical Moment in Interreligious Dialogue (ed. Hans Ucko), Geneva 2006 (54-57), 54.

4 Stanley S. Samartha, Between Two Cultures. Ecumenical Ministry in a Pluralist World, Geneva 1996, 184.

5 Christoph Schwöbel, a.a.O., 213.

6 Ebd.

7 Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der EKD, EKD Texte 86, 2006, 113.

8 Martin Bauschke, Keine Zukunft ohne Dialog! Vortrag in Berlin, beim 20-jährigen Jubiläum der Christlich-Islamischen Gesellschaft am 4. Mai 2002 in Mülheim/Ruhr, www.muslimliga.de/archiv/bauschke.html.

9 Catholicos Aram I, Our Common Calling, in: Changing the Present, a.a.O. (10-15), 12.

10 Hansjörg Schmid / Jutta Sperber / Duran Terzi, Das christlich-islamische Verhältnis – Abgrenzungen ohne Ende? In: Hansjörg Schmid u.a. (Hg.), Identität durch Differenz? Wechselseitige Abgrenzungen in Christentum und Islam, Regensburg 2007 (11-18), 14. (Rezension in dieser Ausgabe des MD, 472f)

11 Auch Uwe Gerbe plädiert vehement für einen „Dialog durch Anerkennung des Anderen in seiner Differenz“. Laut Gerbe machen die Gemeinsamkeiten den Dialog überflüssig: „sie machen den anderen Menschen zum Vertreter und zur Vertreterin der eigenen Meinung und blocken neue Erfahrungen ...“. Konflikte dürfen seiner Ansicht nach nicht „tolerant und harmonisierend verschwiegen werden, sondern sie können und sollen (...) produktiv ausgetragen werden“. Uwe Gerbe, Interreligiöser Dialog zur Friedensförderung. Abgrenzung – Toleranz – Differenz, in: Auf die Differenz kommt es an. Interreligiöser Dialog mit Muslimen, Leipzig 2006 (63-78), 70, 74.

12 Catholicos Aram I, a.a.O., 12.

13 Valson Thampu, Models of Interreligious Dialogue, in: Changing the Present, a.a.O. (36-41), 36.

14 Jonathan Magonet, Risiken im interreligiösen Dialog eingehen, in: Religionen im Gespräch. Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne, Balve 1994 (95-111), 106-108.

15 Siehe 1.2.

16 Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“, a.a.O., 113.

17 Siehe z.B. Martin Bauschke, a.a.O.

18 Aus diesem Grund wird hier nicht von Konfliktprävention, sondern von Gewaltprävention gesprochen.

19 Martin Bauschke, a.a.O.

20 Jonathan Magonet, a.a.O., 96.

21 Siehe das Beispiel DITIB.

22 Gespräch mit Heidi Meier-Menzel, ehemalige Vorsitzende der Christlich-Islamischen Gesellschaft in Karlsruhe (März 2007).

23 Z. B. Heidi Meier-Menzel.

24 Fuad Kandil, Was bringt die Welt zusammen? Die islamische Welt und der Westen (Heidi Meier-Menzel zum 60. Geburtstag), 6.

25 Siehe die Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“, a.a.O., 120.