Ist Religion ein Produkt der Evolution? Überlegungen zur Naturgeschichte von Religion und Religionen
Ulrich Beuttler / Hansjörg Hemminger / Markus Mühling / Martin Rothgangel (Hg.): Ist Religion ein Produkt der Evolution? Überlegungen zur Naturgeschichte von Religion und Religionen, Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft 32, Verlag Peter Lang, Berlin u. a. 2019, 112 Seiten, 42,20 Euro.
Die Biologie ist zweifellos in den letzten Jahrzehnten zur wissenschaftlichen Leitdisziplin geworden und hat die Physik als Basis für interdisziplinäre Diskurse abgelöst. Theologische Perspektiven auf durch biologische Forschungen hervorgerufene Fragen haben dabei in der Regel evolutionäre Modelle im Blick. Diesen Themen widmen sich die sieben gesammelten Beiträge, die fast1 alle auf die Vorträge der 2019er Jahrestagung der Karl-Heim-Gesellschaft zurückgehen. Die Gesellschaft setzt sich ihrem Namensgeber folgend mit Themen aus dem Bereich des Dialogs von Theologie und Naturwissenschaften auseinander. Im Unterschied zum angelsächsischen Sprachraum ist die Publikation solcher grenzüberschreitender Diskurse mit Einbezug theologischer Perspektiven in Deutschland eher selten oder zumindest stark rückläufig. Daher trifft das vorliegende Sammelwerk wie auch schon die Vorgängerpublikationen – beispielsweise der 2016 herausgegebene Band über „Seelenphänomene“ – auf ein Desiderat.
Die mit dem Titel gestellte Frage wird in allen Beiträgen grundsätzlich bejaht, zugleich wird in unterschiedlichen Perspektiven deutlich, dass damit noch nicht alles über religionsgeschichtliche Phänomene ausgesagt ist. Ein naturalistischer Reduktionismus wird ebenso abgelehnt wie die ebenfalls reduktionistischen Modelle kreationistischer Spielart.
Der katholische Theologe Lluis Oviedo skizziert in den einleitenden Bemerkungen über „Die rätselhafte Entstehung von Religion in der menschlichen Kultur“ das Spannungsverhältnis zwischen einerseits der Möglichkeit, Religion als menschliches Kulturphänomen und Sozialverhalten als Produkt evolutionärer Entwicklungen zu erforschen, und andererseits den Erfordernissen einer wissenschaftlich differenzierenden Vorgehensweise, die über rein biologische Perspektiven hinausgehend auch psychologische, soziologische und ideengeschichtliche Felder beachten sollte. Er fordert dabei, reduktionistische Theorien in ihrem Erkenntnisgewinn aufzunehmen, sie aber in einen größeren und durch weitere Perspektiven eröffneten Gesamtrahmen zu stellen. Damit ist die Aufgabe umrissen, der sich der Sammelband stellt.
Der Religionswissenschaftler Michael Blume fokussiert das Thema auf die Frage „Warum der Theologe Charles Darwin mehr als Recht hatte“. Er erinnert daran, dass der Entdecker der Evolutionstheorie selbst als einzigen akademischen Abschluss einen Bachelor in Theologie vorweisen konnte. Religion habe er im Fortgang seiner Überlegungen auch als etwas angesehen, deren Potenziale sich evolutionär entwickelt haben müssen, die schließlich zum „Glauben an unsichtbare oder geistige Wesenheiten“ führten (14). Darwins Vermutungen zur Funktion von Religiosität und Spiritualität – Letztere bezieht Blume auf die oft kurzzeitigen Erfahrungen, in denen die „Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich“ ausgeschaltet werden und die mit messbaren Gehirnprozessen korrelieren – haben sich nach Blume empirisch bestätigt. Dies zeige sich an der Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls von Gruppen gleichen Glaubens, führe auch zu Wohlstands- und Bildungssteigerung mit der scheinbar paradoxen Folge einer Selbstsäkularisierung und der Möglichkeit, die Religionsgemeinschaft verlassen zu können. Die zu beobachtende stabile Nachfrage nach Spiritualität zeige deren hohe Adaptionsfähigkeit an wechselnde Umweltbedingungen. Darwin als geschulter Theologe betonte dabei „die Bedeutung akademischer Theologie, die die religiösen Traditionen kritisch prüfen“ sollte (18).
Über Darwin hinausgegangen sei nach Blume aber die Frage der Demografie. Darwin setze ein exponentielles Wachstum voraus und habe nicht darüber reflektiert, dass der Mensch über seine eigene Fortpflanzung entscheiden könne. Angesichts einer deutlich positiven Korrelation zwischen Religiosität und Kinderreichtum sind nichtreligiöse Bewegungen „demografisch und damit auch evolutionär verebbende Populationen“ (20). Ob und wieweit dieses Phänomen die im Titel gestellte Frage nach Religion als Produkt der Evolution beantworten kann oder soll, wird dem Rezensenten bei diesem für ihn doch überraschenden Themenwechsel nicht recht deutlich.
Einen umfassenden Überblick über die Ansätze und Modelle, die menschliche Religiosität als Produkt der Evolutionsgeschichte begreifen, steuert der Biologe und Theologe Jürgen Hübnermit seinem Beitrag „Theologie der Evolution? Naturgeschichte, Religion und christlicher Glaube“ bei. Diese sozialdominante naturwissenschaftliche Perspektive erkläre zwar die Funktion von Religion für bedeutsam, nicht aber, „was religiöse Erfahrunginhaltlich bedeutet“. Hier biete die theologische Reflexion über solche Erfahrungen einen zweiten Reflexionsstrang, den es neben der natur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive zu verfolgen gelte. Hübner erläutert dies in einer Skizze der biologischen und kulturellen Entwicklung des Menschen, die das Herausbilden von Sprache, Zeichen und Symbolen zur Kommunikation ermöglichten. An archäologischen Entdeckungen wie beispielsweise Höhlenmalereien könne man diese kulturellen Entwicklungen sehen, deren Deutungen allerdings teilweise spekulativ blieben. So sei nicht abschließend zu klären, ob und wieweit dort kultische und religiöse Vorstellungen im Hintergrund stehen würden, die auf apotropäische Absichten oder Vorstellungen eines Lebens über den Tod hinaus hinweisen würden.
Die Entwicklungspsychologie des Menschen zeigt nach Hübner, dass biologische und kulturelle Evolution immer in Beziehung zueinander gesehen werden müssten und die Möglichkeit eröffneten, das Phänomen Religion oder sogar das Wort „Gott“ interdisziplinär zu untersuchen. Auch der Umgang mit dem Tod sei ein Thema, bei dem sich wissenschaftlich-evolutionäre Erklärungen und religiöse Perspektiven begegneten: Das Sterben sei sowohl in der biologischen Evolution als Voraussetzung bedeutsam, wie es in der Religionsgeschichte als Quelle der Entstehung von Religion gesehen werden könne. Setze man die biologische Interpretation menschlichen Verhaltens auf der Ebene der Kultur fort, könne dies zwar die Entwicklungsschritte bis hin zu religiösen Vorstellungen und Riten plausibel machen, es bliebe aber eine Betrachtung „von außen“. „Einblicke in die Innenseite, den Innenraum der Lebensgeschichte“ seien so nicht zu gewinnen, sondern nur spekulativ zu erschließen (29, 35). Diese Innenseite werde aber erkennbar in Gestalt religiöser Erzählungen, die lebendige Gottesbeziehungen artikulieren. Im jüdisch-christlichen Zusammenhang sei die Bibel diejenige Textsammlung, in der sich in unterschiedlichster Weise Gotteserfahrungen und -begegnungen Ausdruck verschafft hätten. Hier würden nicht einfach religiöse Übungen oder Riten transzendiert, sondern gegenläufig dazu die Gottesbegegnung als von Gott ausgehend geschildert. Dieser lebensweltliche Zugang zu religiösen Erfahrungen, die in theologischer Reflexion Offenbarungen genannt werden, sei kausalanalytischen Herangehensweisen verschlossen.
Auf diesen Überlegungen aufbauend entwickelt Hübner eine „Theologie der Evolution“, bei der nicht nur die Entstehung des Gottesglaubens als Konsequenz der Evolutionsgeschichte gesehen werden, sondern zugleich auch das Phänomen Evolution theologisch reflektiert und integriert werden könne. Eine These Gerd Theißens aufnehmend, sieht Hübner im christlichen Glauben „einen mutationsähnlichen Sprung“ von einer dem Selektionsprinzip folgenden do ut des-Religiosität hin zu einer durch Christus bewirkten „Kultur des Umsonst (Paul Ricoeur)“, die sich in Liebe, Fürsorge und Vergebung realisiere. Neben eine evolutionäre Deutung dieses Phänomens als Überlebensvorteil trete eine theologische, die darin eine „göttliche Manifestation zur Bewahrung und Weiterführung der Schöpfung“ sehe und es ermögliche, „Gottes Zukunft getrost zu erwarten“ (39f).
Mit diesem Konzept kann Hübner die unterschiedlichen Zugangsweisen zur Welt, wie sie durch Wissenschaft und Religion gelegt werden, methodologisch unterscheiden und den jeweiligen Anspruch, damit das Ganze der Welt zu erkennen, aufnehmen. Der Einbezug einer lebensweltlichen Innenseite religiösen Erlebens nimmt dabei die in der Analytischen Philosophie des Geistes diskutierte Beziehung zwischen physischen und mentalen Phänomenen auf.2 Dabei leistet Hübner einen dezidiert christlich-theologischen Beitrag zur Titelfrage des Sammelbandes.
In vergleichbarer Weise nimmt sich auch der Naturwissenschaftler und frühere Weltanschauungsbeauftragte Hansjörg Hemminger in seinem Beitrag „Evolution in der Biologie, Evolution von Kultur und Religion: Was folgt daraus?“der unterschiedlichen Perspektiven an. Kulturell zeige sich zwar, dass bis zur Moderne alle Kulturen religiös begründet waren, aus evolutionärer Sicht sei jedoch erst der Homo sapiens ein religiöses Lebewesen und insofern ein evolutionäres Unikat. Indem er Erntefest und andere zyklisch wiederkehrende Feiern wie auch Riten anlässlich existenzieller Erschütterungen in den Blick nimmt, macht Hemminger deutlich, dass der biologische Hintergrund für die Entstehung von Religion nicht in der Entstehung eines rationalen Erklärungsmodells als vielmehr in einer „in das soziale Verhalten eingebundene[n] und damit gemeinsame[n] Sinnerfahrung durch den Rückbezug zur Transzendenz“ zu suchen sei (48f). Insofern beispielsweise die Evolution von Stoffwechsel, Geschmackssinn und Kauwerkzeugen die Basis für die Entstehung dieser leiblichen und sinnlichen religiösen Erfahrungen bildeten, zeige sich hier eine Beziehung zu biologischen Evolutionsmodellen. Solche Erklärungen bedürften allerdings eines komplexen Modells des Zusammenspiels unterschiedlicher Dynamiken, die weit über die verbreiteten dualistischen oder reduktionistisch-naturalistischen Alternativen hinausgingen. Hemminger weist insbesondere auf die grundlegenden Unterschiede beim Transfer genetischer und kultureller Informationen hin. „Von einer wissenschaftlich belegten Naturgeschichte der Religion“ sei man noch „weit entfernt“ (55f).
Der Beitrag der Biologiedidaktikerin Anna Beniermann über „Religiöse Überzeugungen und die Akzeptanz der Evolutionstheorie“ bestätigt mit Auszügen aus ihrer qualitativen Studie mit 4562 Befragten die bereits in früheren Untersuchungen nachgewiesene negative Korrelation zwischen religiöser Gläubigkeit und der Akzeptanz der Evolutionstheorie wie dem Vertrauen in wissenschaftliche Forschung überhaupt. Ulrich Kutscheras Behauptung, Deutschland habe ein „Kreationismus-Problem“3, kann sie jedoch mit einem komplexeren Framing, das ein deutlich differenziertes Spektrum für Religiosität wie für Antwortmöglichkeiten bereitstellt, empirisch zurückweisen. Auch in ihrer Studie zeigt sich aber, dass persönliche Gottesvorstellungen zu einer stärkeren Ablehnung der Evolutionstheorien führen, besonders stark sei die Ablehnung in Freikirchen (73). Den Grund für Letzteres vermutet Beniermann in der engen Einbindung in soziale Netzwerke Gleichgesinnter, die eine shared reality verstärken, sodass religiöse Positionen als wesentlich für die Einstellung zur Evolution gesehen werden können (74).
Der Theologie Markus Mühling stellt mit der Neurotheologie, der Cognitive Study of Religion (CSR) und einer biologischen Herleitung semiotischer Fähigkeiten drei wesentliche „Missverständnisse im Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie“ vor, deren Ursache vor allem im unscharfen Begriff von Religion und der fehlenden Abgrenzung von anderen lebensweltlichen Phänomenen liege. In der Bezugnahme auf „Glauben“ – im christlichen Sinne als fiducia, notitia und assensus – sieht er einen konstruktiveren Weg für das interdisziplinäre Gespräch, das die Einheit von Faktischem und Bewertetem in den Blick nehme. Diese Einheit sei immer durch das Medium unserer Geschichte (story) vermittelt – im Lichte des Evangeliums komme Glaube zur Sprache, der sich aufgrund göttlicher Selbstoffenbarung als vertrauenswürdig erweise. Weder Neurotheologie noch CSR nehmen dieses Phänomen angemessen in den Blick, die Biosemiotik erkenne immerhin den Faktor der semiotischen Vermittlung. Theologisch nimmt der Glaube die Schöpfungsphänomene als geschaffene Gabe wie als gestörte und deshalb zu beklagende Naturgeschichte wahr, die auf Vollendung angelegt sei.
Der abschließende Beitrag des Theologen Thorsten Dietz zeigt anhand der fiktiven Religionsgeschichte in der Filmserie „Game of Thrones“, wie in der Moderne Religion verstanden werden kann, ausgehend von der Beobachtung, dass Blockbuster und als neuer Trend Serienformate an die Stelle antiker Mythen getreten seien. In Game of Thrones sieht Dietz Bezugnahmen auf eine Phase der „Einbettung“ (Charles Taylor) religiöser Anfänge in die menschliche Gemeinschaft, die Abnahme kultischer Verehrung im Laufe der Geschichte und die Bezugnahme auf den mittelalterlichen Katholizismus beim Glauben an „neue Götter“. Theodizeefragen und die Kritik an fundamentalistischen Formen durchziehen die Filmserie nach Dietz ebenso wie das Ringen um existenzielle Fragen bei allerdings nur geringer traditioneller Religiosität der Protagonisten. Die alten Götter erscheinen idealisiert in einem naturverbundenen, mystischen Glauben. Eine soziale Praxis dieser alten Religion gebe es in der Serie nicht – anders als es religionsgeschichtliche Forschung für entsprechende reale Religionen zeige. Die „neuen Götter“ dagegen seien in der Bevölkerung sehr lebendig, passend zu den deutlich komplexeren Gesellschaften. Die Serie präsentiere sie in einer Mischung aus christlicher Trinitätslehre und griechischem Götter-Pantheon. Die Bezugnahme auf Charles Taylors Deutung von Säkularisierung und damit einhergehender Entzauberung der Welt als Produkt einer genuin religiösen Reform bietet ein geeignetes Deutungsmodell für die Religionsgeschichte der Serie. Die Darstellung realer Konsequenzen des Glaubens in der Serie wird zwar erwähnt, hier würde sich aber möglicherweise noch eine vertiefte Interpretation lohnen, beispielsweise im Blick auf das Ertrinken und Wiedergeborenwerden beim „Herrn des Lichts“ in Bezug auf christliche Tauf- und Auferstehungsvorstellungen. Offen bleibt allerdings noch die Grundfrage, ob hier das Phänomen „Religionsgeschichte“ nicht stärker der Form einer langen Serie mit zahlreichen Staffeln geschuldet ist als dem Bewusstsein von der Entwicklungs- und Reformfähigkeit realer Religionen. Ein Bezug zu naturwissenschaftlichen evolutionären Modellen wird in diesem Beitrag nicht zu hergestellt.
Insgesamt bietet der Sammelband ein breites Spektrum reflektierter Antworten auf die Fragen nach den evolutionären Wurzeln von Religionen. Dabei werden in unterschiedlicher Weise konkrete Antworten erarbeitet, und insbesondere in den Beiträgen von Hübner und Hemminger werden dezidiert christliche Positionierungen entwickelt. Umfangreiche Literaturangaben ermöglichen weitere Studien.
Andreas Hahn, Dortmund
Anmerkungen
- Ausnahmen sind die Einleitungsthesen von Lluis Oviedo und der Überblicksbeitrag von Jürgen Hübner.
- Vergleichbar mit dem Ansatz Thomas Nagels, der im Ausblenden phänomenaler Erlebnisqualitäten im Naturalismus dessen epistemologische Grenze sieht. Die Frage nach der Existenz solcher Qualia durchzieht weitere Strecken der Diskussion über die Grenzen des Naturalismus. Vgl. Andreas Hahn: Batman, Zombies und reine Geister, in: ders. (Hg.): Yoga und christlicher Glaube. Zwischen körpersensiblen Entdeckungen und synkretistischer Vereinnahmung, EZW-Texte 270, Berlin 2020, 32 – 35.
- Kutschera bezog sich dabei auf eine 2005 durchgeführte fowid-Befragung, hinter der die religionskritische Giordano-Bruno-Stiftung steht; Ulrich Kutschera: Creationism in Germany and its possible cause, in: Evolution: Education and Outreach 1, 2008, 84 – 86. Die fowid-Befragung arbeitete nach Beniermann allerdings mit einem unzureichenden Single-Choice-Item und könne daher kein Beleg für Kutscheras Alarmismus darstellen. Im Gegenteil sei die Akzeptanz von Evolution in Deutschland insgesamt sehr hoch.