Jahrhundertbilanz - erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt. Ein Beitrag zur Erweckungsgeschichte im 20. Jahrhundert und zur Entstehung der Pfingstbewegung in Deutschland
Ekkehart Vetter, Jahrhundertbilanz – erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt. Ein Beitrag zur Erweckungsgeschichte im 20. Jahrhundert und zur Entstehung der Pfingstbewegung in Deutschland, Verlag des Mülheimer Verbandes Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden, Bremen 2009, 525 Seiten, 19,80 Euro.
Das Buch von Ekkehart Vetter will die 100-jährige Geschichte des Mülheimer Verbandes darstellen. Der Präses des Mülheimer Verbandes liefert damit eine sehr ausführliche Darstellung, der eine umfassende Recherche zugrunde liegt.
Die Arbeit verläuft im Abriss der historischen Linie. Sie setzt mit der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts und der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung ein. Damit sind Wurzeln der historischen Pfingstbewegung und des Mülheimer Verbandes aufgezeigt. Sehr ausführlich wird nun der Weg zur Gründung des Verbandes beschrieben. Dabei erweist sich das Buch als Quellensammlung: Gerade für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die schwerpunktmäßig behandelt werden, aber auch im gesamten Werk, wird ausführlichen Quellenzitaten breiter Raum gegeben; Zeitzeugen, Dokumente und vor allem Väter des Mülheimer Verbandes kommen zu Wort.
Von den Wurzeln des Mülheimer Verbandes (dabei wird die Diskussion um ein Gründungsdatum mitvollzogen und das Jahr 1909 plausibel gemacht) läuft die Darstellung über die Anfänge der Pfingstbewegung in Deutschland weiter. Das ganze Buch ist gleichsam durchzogen von der Problematik um die Berliner Erklärung von 1909, mit der sich wichtige Vertreter des deutschen Pietismus von der aus den eigenen Reihen entstehenden pfingstlichen Erweckungsbewegung abgrenzten. Der ausdrücklichen Überwindung des Grabens zwischen Gnadauer Gemeinschaftsverband und Mülheimer Verband durch eine gemeinsame Erklärung im Jahr 2009 gingen wachsende Annäherung und Gespräche zwischen beiden Verbänden und auch mit der Deutschen Evangelischen Allianz voraus.
Es gehörte zum Impuls der Anfänge, dass das innerkirchliche Selbstverständnis die Mülheimer als Gemeinschaftsverband neben den freien Pfingstgemeinden formieren ließ. Eine bereits frühe Entwicklung freikirchlicher Tendenzen in einigen Gemeinschaften des Mülheimer Verbandes macht Vetter trefflich deutlich. An der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich, dass der Gemeinschaftsverband sich schnellen Schrittes endgültig zur Freikirche entwickelte. Dieser Weg wurde an der Basis rascher gegangen als auf Leitungsebene. Offiziell vollzog sich der Wandel 1998, als aus dem „Christlichen Gemeinschaftsverband Mülheim an der Ruhr“ der „Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden“ wurde.
Mit dem alten Namen des Verbandes ist eine schwerwiegende „Tragik“ (278) verbunden. Die innerkirchliche Situierung führte 1938 zu einer namensgebenden Satzung, mit der man sich dem nationalsozialistischen Staat und der Reichskirche unterstellte. Vetter bespricht offen damalige Verfehlungen auch im Blick auf das Verhältnis zu den Juden, bis hin zum Totschweigen der regimefreundlichen Haltung des Mülheimer Verbandes nach dem Krieg. Die darauf bezogene Erklärung des Verbandes von 1991 sollte nach Vetter nicht der letzte Schritt der Aufarbeitung sein (295).
Gegen Ende des Bandes wird der Blick auf die gegenwärtige Situation gerichtet. Das Selbstverständnis als Pfingstgemeinschaft ist einer evangelikal-charismatischen Ausrichtung gewichen. Vetter konstatiert auch angesichts eines radikalen Zusammenbruches der Mitgliederzahlen, die erst seit einigen Jahren wieder steigen, Herausforderungen, vor denen der Verband wie alle christlichen Kirchen und Gemeinschaften unserer Gesellschaft steht. Diese Herausforderungen werden an den drei historischen Eckpunkten des Mülheimer Verbandes – Erweckung, Heiligung, Evangelisation – festgemacht, um perspektivisch Leitlinien für den weiteren Weg zu ziehen.
Vetter leistet mit diesem Band einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der deutschen Pfingstbewegung. Aus der Innenperspektive, die eine stärkere Strukturierung bieten könnte, zeichnet er Herkunft und Weg des Mülheimer Verbandes und bringt außerdem einen selbstkritischen Blickwinkel zur Geltung. Als ausführliche Quellenzusammenstellung und profunde, wenngleich zuweilen redundante Erarbeitung dient die Arbeit gerade aufgrund ihrer sparsamen wissenschaftssprachlichen Gestaltung auch dem interessierten Laien.
Markus Schmidt, Leipzig