Jalsa Salana 2012 in Karlsruhe
"Erst wenn ihr hundert Prozent befolgt habt von allem, was ich euch gesagt habe, können wir über andere Themen reden“, mahnt der Kalif, ohne die Stimme zu heben. Mirza Masroor Ahmad, der 5. Nachfolger (Kalif) des „Verheißenen Messias“ der Ahmadiyya-Muslime, spricht zu tausenden von Frauen in Halle 1 des Karlsruher Messegeländes. In der benachbarten dm-Arena verfolgen ebenso viele männliche Teilnehmer die Live-Übertragung am Großbildschirm. Es ist Jalsa Salana, die jährliche Versammlung der Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland, die in Deutschland zum ersten Mal 1976 und Anfang Juni 2012 nun zum 2. Mal in Karlsruhe stattfand. Die dreitägige Großveranstaltung lockte nach Angaben der Veranstalter auch dieses Jahr wieder über 30000 Teilnehmer und Gäste aus vielen Ländern der Erde an; fast alle scheinen pakistanische Herkunft und Kultur zu teilen. Das Programm findet geschlechtergetrennt statt. Es beginnt mitten in der Nacht mit den ersten Gebeten, besteht dann aber hauptsächlich aus Vorträgen zu verschiedenen Themen, die von Koranrezitationen und langen Liedvorträgen unterbrochen bzw. umrahmt werden; dazu kommen einige thematische Präsentationen, der Verkauf von DVDs und Publikationen aus dem Verlag „Der Islam“, ein Basar sowie köstliche Versorgung mit pakistanischem Essen. Rund 3000 Ehrenamtliche sorgen für den ruhigen und gesitteten Ablauf, für den schon vorab ausführliche Verhaltensregeln ausgegeben werden.
Höhepunkte sind zweifellos die Ansprachen des Kalifen, die an die Frauen, die Männer, die Gäste, aber auch an die Neukonvertiten gerichtet werden. Wenn der Kalif kommt, säumen die Gläubigen die Wege, um wenigstens einen kurzen Blick auf das ohne Gruß und Blickkontakt vorbeieilende Oberhaupt zu erhaschen. Der Kalif hebt nie die Stimme, kaum den Blick. Man mag als Außenstehender tatsächlich über die Disziplin der Menge bei so sparsamem „Drehbuch“ staunen, das im Grunde nichts als aufmerksames Zuhören vorsieht. Natürlich ist die Jalsa für viele auch ein großes internationales Familientreffen. Im Vordergrund stehen aber die reine Lehre und die vordringlichste Aufgabe der Ahmadiyya-Bewegung: tabligh, die aktive Verbreitung der „wahren Botschaft des Islam“ (wörtl. „Übermittlung“). Sie geschieht durch Literaturverteilung und andere missionarische Tätigkeiten, deren Wirksamkeit entscheidend von der strengen Einhaltung der islamischen Regeln abhängt, wie Konvertit M. Hammad Härter in einem Vortrag einschärft. Wer als Mann etwa fremden Frauen die Hand gibt, „blockiere“ die tabligh-Arbeit. Wer seine Nachbarn nicht zum Islam aufruft, werde dereinst von Gott zur Verantwortung gezogen. Es sei die göttliche „Bestimmung“ des Westens, den Islam anzunehmen, erinnert der Redner an eine für die Ahmadiyya wichtige Lehre. Allein die Ahmadi-Muslime stünden indes für die unveränderte Wahrheit (des Islam) ein, nur sie verfügten über die wahren spirituellen Schätze und sollten sie gleichsam als Gottes Handlanger den Menschen nicht vorenthalten. (Dass die „Missionserfolge“ in der Regel mit buchhalterischer Gründlichkeit registriert werden, ist dabei kein Thema.) In einer Zeit, in der die Religionen einen beispiellosen Niedergang erleben („Endzeit“), der Materialismus die Welt verdunkle und das Christentum der „erbittertste und aktivste“ Feind des Islam sei, müsse der Kampf für das „Jahrhundert des Islam“, so schon der 3. Kalif, geführt werden, nicht mit Waffen, sondern mit Worten und Argumenten. Dazu müsse jeder Einzelne das Wissen über Gott und seine Gebote vertiefen und sich darüber hinaus um weltliches Wissen und Bildung bemühen, betont der Sekretär der Abteilung für Externe Angelegenheiten, M. Dawood Majoka. Nur so könne wahre Gottesfurcht entstehen. Diese verbindet sich, wie in allen Beiträgen deutlich wird, mit Liebe und unbedingtem Respekt gegenüber dem Gründer der Gemeinde, der von Gott als Prophet und Verheißener Messias zur Wiederherstellung der „wahren und schönen Lehre“ gesandt wurde. Sein Nachfolger repräsentiert ihn geradezu leiblich, er wird entsprechend verehrt. Das zeigt sich nicht zuletzt in dem Treueeid (Bai’a), der von allen zu leisten ist und nicht nur zum islamischen Bekenntnis, sondern auch zum absoluten Gehorsam gegenüber dem Kalifen verpflichtet. Es ist dieses Verständnis vom Islam, das die Ahmadis für viele andere muslimische Richtungen zur unislamischen „Sekte“ macht und 1974 zum Ausschluss der Ahmadiyya mit schlimmen Folgen für die Anhänger geführt hat.
In Karlsruhe ist Deutsch zu hören, häufiger Urdu, Simultanübersetzungen werden in beachtlichen elf Sprachen angeboten, die eigene Fernsehanstalt Muslim TV Ahmadiyya (MTA) überträgt live. Die Adresse an die Gäste, die sich in der TV-Einblendung plötzlich als Tabsheer-Gäste (Missionsgäste) wiederfinden, trägt der Kalif auf Englisch vor. In 50 monotonen Minuten breitet er die „Friedensbotschaft“ des (Ahmadiyya-)Islam aus. Historisch Wahrscheinliches interessiert ihn dabei wenig, vielmehr steht für ihn die detailgetreue Überlieferung des Korans bis zum letzten Buchstaben als Tatsache fest, und westliche Orientalisten belegten, dass die Muslime von Anfang an unter grausamer Gewalt und Verfolgung gelitten hätten. Dabei sei das einzige Verbrechen der Muslime das Bekenntnis zu dem einen Gott gewesen. Einzelne Märtyrerschicksale werden vorgetragen, eine ausführliche Darlegung der Lehre des Dschihad folgt. Es ist zugleich ein Aufruf zu Frieden und Versöhnung – was nicht im Widerspruch steht, denn der Dschihad ist, so der Khalifat-ul-Masih, ausschließlich Verteidigung gegen bösartige Feinde und dient dazu, langfristigen Frieden herbeizuführen, den Frieden des Islam. Wenn dem so ist, woher weiß der Kalif dann, dass Terroristen, die sich auf den Islam berufen, „keinerlei Verbindung zu den wahren Lehren der Religion“ hätten?
So stimmt nicht Weniges auf der Jalsa nachdenklich. Wobei zur Nachdenklichkeit zumal für Gäste nicht allzu viel Zeit bleibt, denn verschiedene Personen der Abteilung für Externe Angelegenheiten (bzw. Mission) sind in pausenloser Freundlichkeit bemüht, für beste Versorgung und Begleitung zu sorgen. Warum spielen die sozial-karitativen Aktivitäten der Ahmadiyya im Programm keine Rolle, außer dass man dafür spenden soll? Regelbefolgung und Ermahnung zum Gehorsam bildeten den roten Faden der Veranstaltungen. Züchtige Bekleidung ohne Stickereien und Schmuck, die nichts modisch Attraktives sein soll, mahnte der Kalif bei den Frauen an. Auch innerhalb des Wohnbereichs sei lange Bekleidung angebracht, wenn Vater oder Brüder zugegen seien. In der Tat bedecken viele Frauen, die man auf dem Gelände trifft, auch die untere Gesichtshälfte mit einem Tuch. Es scheint aber nicht wenige zu geben, die sich nicht ganz so streng daran halten.
Man hat also offenbar noch zu tun mit der hundertprozentigen Befolgung der Regeln des wahren (Ahmadiyya-)Islam. Wohl deshalb wurde über andere Themen, bei diesem Anlass jedenfalls, kaum gesprochen. (Zur Ahmadiyya-Bewegung insgesamt vgl. www.ekd.de/ezw/Lexikon_2588.php.)
Friedmann Eißler