Jehovas Zeugen in Europa - eine Verfolgungsgeschichte?
(Letzter Bericht: 6/2013, 227f) Es ist bekannt und durch einschlägige Studien belegt, dass Jehovas Zeugen in manchen Ländern und Epochen verfolgt wurden (z. B. Detlef Garbe, Zwischen Martyrium und Widerstand, 1993). Einen Tiefpunkt bildete das Dritte Reich, wo sie wegen der Verweigerung des Kriegsdienstes und des Hitlergrußes verfolgt, inhaftiert und getötet wurden. Nun liegt seit kurzem der erste Band einer auf drei Bände angelegten Reihe über „Jehovas Zeugen in Europa: Geschichte und Gegenwart“ im Lit-Verlag vor, die von Gerhard Besier und Katarzyna Stoklosa herausgegeben wird. Der 734 Seiten starke Band über Jehovas Zeugen im Westen und Süden Europas (Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien) wurde der Öffentlichkeit in den letzten Wochen im Historischen Museum in Frankfurt/Main sowie an den Universitäten Dresden und Potsdam in stark beworbenen Buchvorstellungs-Veranstaltungen präsentiert.
Bei der Veranstaltung in Potsdam am 4. Juni 2013 beklagte sich Gerhard Besier über die Raumverweigerung durch Berliner Behörden, Hotels und sogar die Freie Universität Berlin. Diese nicht überprüfbare Behauptung nahm er als Beleg für die „anhaltende Diskriminierung“, die die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland erleben müsse und die ganz offensichtlich auf die Zuarbeit der „Apologetischen Zentralen der Großkirchen“ zurückzuführen sei. In der Einleitung des Buches behaupten die Herausgeber fälschlicherweise: „Keine andere Religionsgemeinschaft als die beiden Amtskirchen unterhält das Institut der ‚Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten’, die dem Staat kontinuierlich über angebliche oder tatsächliche Verfehlungen des religiösen Konkurrenten berichten“ (14). Richtig ist, dass etwa die EZW eine Zeitschrift und eine eigene Textereihe herausgibt, die beide eine aufmerksame Leserschaft haben.
Seitens des Verlages wurde die große Unterstützung des Projekts durch die Zeugen Jehovas gelobt: „Wir sind in der Schuld von Selters“. Aus Selters sprach Wolfram Slupina, der als „spiritus rector“ des Projekts angekündigt wurde. Am Beispiel des Umgangs von Frankreich versuchte er, die Opferrolle der Zeugen Jehovas zu verdeutlichen. Im ersten französischen Sektenbericht 1996 hätte seine Gemeinschaft auf der „schwarzen Liste“ der 173 gefährlichen Sekten gestanden. Danach wären die Mitglieder der Religionsgemeinschaft starken Repressionen ausgesetzt gewesen. Erst nach mehrjährigen Gerichtsprozessen hätte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Sommer 2012 entschieden, dass Frankreich 4,5 Millionen Euro an die Zeugen zurückerstatten müsse, da der Staat ihre Religionsfreiheit durch unrechtmäßige Besteuerung verletzt habe. Frankreich hatte nämlich alle Spenden an die Glaubensgemeinschaft rückwirkend für die Zeit von 1993 bis 1996 mit einer 60-prozentigen Steuer belegt, die nun laut Gerichtsbeschluss zurückgezahlt werden muss. Diesen juristischen Sieg deutete Slupina als einen Beleg staatlicher Unterdrückung einer religiösen Minderheit. Man kann das Urteil jedoch auch als eine formaljuristische Angelegenheit ohne Hintergedanken lesen. In ähnlicher Weise fasste der Vertreter des deutschen Zweigbüros von Jehovas Zeugen die Jahrzehnte andauernden Rechtsstreitigkeiten um den Körperschaftsstatus seiner Gemeinschaft zusammen. In drei der 16 Bundesländer (Baden-Württemberg, Bremen, Nordrhein-Westfalen) sei der Antrag auf Zweitverleihung der Körperschaftsrechte bislang abgelehnt worden und müsse nun vom Bundesverfassungsgericht geklärt werden.
Gerhard Besier, Hochschullehrer und Abgeordneter der Linken-Fraktion im sächsischen Landtag, wies in seiner Rede darauf hin, dass auch das Christentum früher eine Sekte gewesen sei, später aber zu Macht gekommen sei und konkurrierende Kleingruppen vernichtet habe. Er sprach die etwa 150 anwesenden Zuhörer – zumeist Zeugen Jehovas – direkt an und ermutigte sie zu mehr Selbstbewusstsein und Einforderung ihrer bürgerlichen Rechte. In den großen, verkrusteten Kirchen engagierten sich nur 3 bis 5 Prozent der Mitglieder, während der Einsatz der Zeugen vorbildlich und überzeugend sei.
Einen sachlichen Beitrag lieferte die Historikerin Katarzyna Stoklosa, die seit kurzem an der süddänischen Universität Sonderborg tätig ist. Sie schilderte die Situation in Spanien, wo nach dem Ende des Bürgerkriegs 1939 die Religionsgemeinschaft verboten worden wäre. 1949 hätte es nur noch 43 Verkündiger in Spanien gegeben, 1985 dagegen wieder 60 000.
Nach gut einer Stunde war die Buchvorstellung beendet, und viele strömten zum Verkaufsstand, um ihr Exemplar von den beiden Herausgebern signieren zu lassen. Neue Einsichten hat die Veranstaltung nicht vermittelt. Vielmehr versuchte sie das Bild der Unterdrückung einer kleinen, rechtschaffenen Glaubensgemeinschaft durch einen übermächtigen, bösen Staat zu unterstützen, was die meisten Teilnehmer als Bestätigung ihrer Weltsicht erlebt haben dürften.
Michael Utsch