Jesidentum und moderne Welt
Lebensansichten einer deutschen Jesidin
Die Zahl der in Deutschland lebenden Jesiden (auch: Yeziden; siehe das „Stichwort“: Yeziden, in MD 9/2009, 349-352) wird auf 30 000 bis 50 000 geschätzt. Sie kamen zunächst als Gastarbeiter, ab den 1980er Jahren auch zunehmend und in größerer Zahl als Flüchtlinge, um ethnisch und religiös motivierter Unterdrückung in der kurdischen Heimat zu entgehen. Die Jesiden sind Kurden, die Anfänge ihrer monotheistischen Religion reichen nach eigenen Angaben bis weit in vorchristliche Zeit in den Mithraskult zurück. Historisch greifbar wird sie mit dem eigentlichen Gründer bzw. Reformator, dem Sufi Scheich Adi Ibn Musafir (ca. 1075-1160).
Hatun Tuku ist deutsche Staatsbürgerin jesidischen Glaubens. Sie kam vor gut 20 Jahren aufgrund ihrer Verheiratung nach Deutschland. Einerseits teilt sie die Erfahrungen vieler Frauen, die aus Anatolien nach Deutschland gekommen sind und hier weitgehend ohne Kontakt zur deutschen Umgebung im Familienverband eingebunden blieben. Andererseits hat sie sich über den Laufsport und aus Unzufriedenheit über ihre Situation aus der kurdischen Parallelwelt, wie sie es nennt, Schritt für Schritt befreit und zu einer aktiven gesellschaftlichen Teilhabe gefunden. Mit ihrer Vergangenheit setzt sie sich teilweise kritisch auseinander, ohne die eigenen kulturellen Wurzeln zu verleugnen oder aufzugeben.
Wir dokumentieren den Text einer säkularen Jesidin, die auf sehr persönliche und authentische Weise Einblick gibt in ihr Leben und ihre Sichtweise von den Umbrüchen, in denen sich eine Diasporagemeinschaft wie die Jesiden in Deutschland wiederfindet. (Hatun Tukus Buch „Zwischen zwei Welten“ über ihre Lebensgeschichte wird in dieser Ausgabe des MD, S. 33f, besprochen.
Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind. Da ich aber eine Frau wurde, legte ich ab, was kindlich war (nach 1. Kor 13, 11).
Ich wurde in einem Dorf Südost-Anatoliens (auf dem Staatsgebiet der Türkei) geboren und kam als 20-Jährige aufgrund meiner Verheiratung nach Deutschland. In den Siebzigerjahren waren meine Geschwister und viele Verwandte, teils als Gastarbeiter, teils als Asylsuchende nach Deutschland gegangen, so dass ich nach dem Tod des Vaters allein mit meiner Mutter zurückblieb. Um der Einsamkeit und Langeweile im Dorf zu entgehen, ließ ich mich dazu bewegen, den Sohn eines Onkels mütterlicherseits, der in Deutschland gerade eine Berufsausbildung begonnen hatte und mir ein schönes Leben versprach, zu heiraten. So entsprach ich zunächst ziemlich genau dem Bild, das Necla Kelek in ihrem bekannten Buch als „fremde Braut“ beschreibt: „Die völlige Abhängigkeit junger Frauen aus Anatolien von den Familien ihrer meist in Deutschland geborenen Männer, die Unkenntnis der Sprache und Kultur ihrer neuen Heimat haben in den vergangenen Jahren zum weitgehenden Scheitern der Integration geführt. Diese Frauen führen in den Familien in Deutschland ein separiertes, ihrer anatolischen Tradition verpflichtetes Leben, sie erziehen ihre Kinder nach den Vorgaben dieser Kultur und sprechen mit ihnen nur türkisch oder kurdisch.“
Mit Neugierde und großen Erwartungen war ich nach Deutschland gekommen und daher ziemlich enttäuscht, dass ich mich alsbald in der verhassten dörflichen Enge und unter der sozialen Kontrolle der jesidischen Bewohnerschaft, dazu noch in beengten Wohnverhältnissen, wiederfand. Mein Ehemann sprach vorwiegend Kurdisch mit mir; nie hat er oder irgendjemand aus meiner Verwandtschaft mich auf die Notwendigkeit hingewiesen oder gar dabei unterstützt, die Sprache meiner neuen Heimat zu erlernen. Gravierende Sprach- und Bildungsdefizite bedeuten auch heute noch die große und unaufhebbare Beeinträchtigung meines Lebens und behindern (indirekt) das schulische Weiterkommen meiner Kinder.
Obwohl mein Vater im Ganzen liberal eingestellt war, neigte er wohl doch der Ansicht zu, dass Mädchen auf höhere Schulbildung gut verzichten könnten. (Von der Abwanderung meiner Geschwister hielt er übrigens auch nichts; er meinte, es sei besser zu bleiben, das Land zu bebauen und das Vieh zu versorgen.) Obwohl meine Eltern wohlhabend waren und den Besuch einer weiterführenden Schule (etwa in Batman) gut hätten finanzieren können, blieb mir dies versagt. Eine meiner Schwestern ließen sie völlig ohne Schulbildung aufwachsen; sie wurde mit einem erheblich älteren, verwitweten Mann unter Anwendung religiös motivierten psychischen Zwanges verheiratet und lebt heute, nach mehreren seelischen Krisen und Krankheiten, isoliert von der gesellschaftlichen Umwelt und in die Familie eingesponnen in Deutschland.
Ausstieg und Aufbruch
Ganz so, wie von Kelek oben skizziert, ist es mit mir dann doch nicht gekommen. Während der 15 Jahre des Eingeschlossenseins in der kurdisch-jesidischen Parallelwelt ließ ich mich – aufgrund meiner angeborenen Dickköpfigkeit und eines Traums vom besseren Leben, der mich ja zum Weggang aus der Heimat verlockt hatte – nie ganz unterkriegen. Ich ließ mir nicht ausreden, dass es – trotz der täglichen Plackerei, erst für die Schwiegereltern, dann für die eigene Familie (fünf Kinder) und trotz der Vorwürfe und Repressalien vonseiten der Verwandtschaft, die mich auf die Regeln des anatolischen Dorflebens verpflichten wollte – noch etwas anderes, etwas wie modernes Leben, Freiheit und Entfaltung eigener Möglichkeiten geben müsse. Ich begehrte mehrfach auf und versuchte immer wieder auszubrechen.
Schließlich gelang es, als ich nämlich anlässlich gesundheitlicher Beschwerden auf ärztlichen Rat zum (Lauf-)Sport fand. Nach einiger Zeit des Alleinlaufens fand ich den Mut, einige des Weges kommende einheimische Sportler anzusprechen und mich ihnen anzuschließen. Von diesen wurde ich in hilfsbereiter Weise aufgenommen, angeleitet und unterstützt. Mit den neu gewonnenen Freunden unternahm ich interessante Reisen und beteiligte mich an Wettkämpfen. In der Lokalpresse wurde ich als „erste jesidische Marathonläuferin“ stark herausgestellt – was ich zugegebenermaßen genoss. Ich war mir dabei aber immer bewusst, dass dies im Grunde nicht nur für mich, sondern für die kurdischen Frauen geschah, ja für alle Frauen „mit Migrationshintergrund“, denen mein Beispiel zur Ermutigung dienen mochte.
Höhepunkt dieser Aufwärtsentwicklung war die Weiterbildung zur interkulturellen Beraterin, die ich – von deutschen Freunden finanziell unterstützt – in den Jahren 2006 und 2007 durchlief. Heute arbeite ich als Übersetzerin und Beraterin in einem ökumenischen Sozialprojekt. Für mich ist Deutschland nunmehr das Land, das meinen Kindern zur Heimat geworden ist und in dem wir in Freiheit leben dürfen. Ich möchte nicht auf eine „kurdisch-jesidische Identität“ reduziert werden, sondern an den Werten dieses Landes teilhaben, indem ich sie als „deutsche Bürgerin“ lebe. Ich möchte nicht, dass junge Frauen und Männer, mit Berufung auf Tradition und Religion, nicht frei entscheiden können, ob, wann und wen sie heiraten. Es beschämt mich, dass Gewalt gegen Frauen auch ein jesidisch-kurdisches Problem ist. Ich hoffe, dass kurdische Kulturvereine und Begegnungszentren nicht Ausgangspunkt einer Selbstausgrenzung und Fixpunkte einer Parallelgesellschaft sind bzw. werden.
Wehmütiger Blick zurück
Andererseits litt und leide ich natürlich unter Heimweh und trauere der Welt nach, die ich um eines, so kommt es mir manchmal vor, recht zweifelhaften Glückes willen verlassen habe. Vor allem der Gedanke an das verödete Dorf, an mein in Trümmern liegendes Elternhaus und an meinen Vater berührt mich schmerzlich, dessen Grab gedanken- und herzlos sich selbst überlassen wurde (auch meine Mutter ist inzwischen abgewandert) und dem wir die jährlichen Besuche und rituellen Gaben vorenthalten, die unser Glaube vorschreibt. Obwohl ich „damals zu Hause“ viel gejammert und mich selbst bedauert habe, erscheinen mir heute die auf immer verlorene Heimat und unsere hier fast schon vergessenen Sitten und Gebräuche in einem versöhnlichen Licht.
Um wenigstens einiges davon für meine Kinder festzuhalten, habe ich meine Geschichte und die meiner Verwandten einer deutschen Freundin diktiert, die sie (mit Computerhilfe) zu Papier brachte. Diese naiv und „ungeschützt“ formulierten, auf persönliche Empfindlichkeiten nicht achtenden, sondern allein der Wahrheit verpflichteten Schilderungen wurden dann – vor allem in Diskussionen mit meinem Mann – erheblich gekürzt und durch eine geschönte und geglättete, allerdings langweiligere Version (mit geänderten Namen) ersetzt. Ein pensionierter Schullehrer, der gelegentlich auch den Kindern bei den Hausaufgaben hilft, hat den Text redigiert. Das kleine Buch fand bei Deutschen und insbesondere meinen Freunden freundliche Aufnahme, stieß jedoch bei Jesiden, die hauptsächlich gerüchteweise von ihm gehört und einige aus dem Zusammenhang gerissene Brocken aufgeschnappt hatten, mehrheitlich auf Ablehnung.
Der wesentliche Vorwurf gegen das Buch bestand darin, dass ich „im Grunde gegen die Jesiden“ sei. Dies bezieht sich zunächst auf die Kritik an gewissen Bräuchen (z. B. der Brautgeld-Praxis), ganz allgemein aber darauf, Familienangelegenheiten an die Öffentlichkeit gebracht zu haben. Der Hang zur Verheimlichung ist meiner Meinung nach letztlich eine Folge der sogenannten „Taqiyya“, d. h. des Verbergens des eigenen religiösen Bekenntnisses bei Zwang oder drohendem Schaden. Diese – bereits von den Manichäern geübte – Methode wurde und wird in der Verfolgungssituation auch von den Jesiden angewandt. Gemäß der Taqiyya sollten die geistlichen Würdenträger ihr Wissen nur den jeweils dafür ausersehenen, streng endogamen Kasten vorbehalten. Die als Selbstschutz gedachte Praxis erwies sich allerdings langfristig als nachteilig, da sie unter anderem eine Ursache für das niedrige Bildungsniveau der Jesiden ist. Sie ist daher insgesamt auf dem Rückzug, steckt aber noch in den Menschen drin.
Was weniger bemerkt wurde, ist meine am Jesidentum kritisierte Verquickung der religiösen mit der gesellschaftlichen bzw. politischen Sphäre. Der oberste weltliche Führer (Emir oder Mir, „Fürst des Scheichan“) steht über den geistlichen Führern, kann sie ernennen oder absetzen, was einem theokratischen Feudalsystem ziemlich nahekommt. Dieser Vorstellungswelt entspricht beispielsweise ein kürzlich bekannt gewordener „Gesetzentwurf der jesidischen Personalangelegenheiten“ des Obersten geistlichen Rates der Jesiden, in dem die Frauen diskriminiert und benachteiligt werden. Dagegen protestierte der Verein „Kaniya Sipî“ mit einem „Appell an die Weltöffentlichkeit und an die jesidische Öffentlichkeit“.1
Religiöse Unterweisung – aber wie?
Die 2007 erschienene EZW-Broschüre über die Jesiden (M. Affolderbach, R. Geisler)2 konzentriert sich auf die Religion und die religiöse Organisation der Jesiden, ohne auf derartige Probleme einzugehen. Die Verfasser stellen Bräuche und Traditionen dar und geben einen Überblick über das Jesidentum in seiner heutigen Gestalt. Dabei übernehmen sie allerdings auch idealisierende und harmonisierende Aussagen teilweise wörtlich und ohne kritische Distanz.3 Der in dem EZW-Text erwähnten religiösen Unterweisung stehe ich eher skeptisch gegenüber. Sollen meine Kinder lernen, dass die Jesiden nicht wie die anderen Völker aus einer Verbindung zwischen Adam und Eva hervorgegangen seien, sondern – noch vor der Erschaffung Evas – von Adam allein abstammten? Sollen sie akzeptieren, dass Gott das Menschengeschlecht in Form dreier Klassen oder Kasten (Scheichs, Pirs und Muriden) geschaffen habe und dass es Sünde sei, einen Menschen, der einer anderen Kaste angehört, oder gar einen Nicht-Jesiden zu heiraten? Natürlich werde ich, schon aus Pietät gegenüber meinem Vater, einem Mann wie Fakir Ali oder unserem Mir die nötige Ehrerbietung nicht versagen. Aber dass diese Lehren in dieser Weise jesidischen Kindern als Gottes Gebot oder Glaubenswahrheit im Schulunterricht vermittelt werden – nein!
Ich trete für eine religiös-kulturelle Unterweisung ein, und zwar im Sinne einer Wissensvermittlung, die auch andere Religionen und Weltanschauungen in den Blick nimmt und insbesondere die Nähe des Jesidentums zum Islam (Sufismus und Alevitentum) nicht verschweigt. Ein Großteil unserer sozial-religiösen Organisation und Glaubenslehre stammt ja von Scheich Adi (Adi Ibn Musafir, 1075–1162), einem islamischen Mystiker, dessen Anhänger die Adawiya-Bruderschaft ins Leben riefen, die sich mit der Zeit inhaltlich so weit von der islamischen Orthodoxie entfernte, dass ihre Verfolgung ausgerufen wurde. Scheich Adi ließ sich im vorislamischen Heiligtum Lalisch (Nordirak) nieder, das nach seinem Tod zum Zentralheiligtum der Jesiden wurde. Seine Wirkung wird darin gesehen, dass er heterodoxe Elemente des Islam, wie sie z. B. mit dem im Jahr 922 in Bagdad gekreuzigten Mystiker Hussein Ibn Mansur al-Halladsch in die Religion Mohammeds gelangt waren, mit den religiösen Überlieferungen der umliegenden Kurdenstämme zu verbinden suchte. Erst seit dieser Zeit (12. Jahrhundert) gibt es überhaupt „das Jesidentum“.
Umgang mit heiligen Texten
Wie schwierig bis heute die Konzeption einer angemessenen religiösen Unterweisung ist, erkennt man unter anderem an der Art und Weise, wie die jesidischen Gelehrten mit den religiösen Texten der Jesiden umgehen. Ich selbst empfinde, wenn ein Psalm (kurdisch qewl) von einem Qewal rezitiert oder etwa von meinem Bruder vorgelesen wird, Ehrfurcht und lasse mich von dem poetischen Klang der Verse bezaubern. Wenn ich aber eine deutsche Übersetzung lese, erfasst mich höchstes Unbehagen, denn was da geschrieben steht, ist oft unverständlich, wenn nicht gar widersinnig. Dazu ein Beispiel: Im jesidischen Glaubensbekenntnis (kurdisch Sahada dîn) heißt es, wir schuldeten den frommen (oder: heiligen) Männern Dank, „dass sie uns von den Ungläubigen abgespalten haben“4 bzw.: „dass wir getrennt blieben von den Häretikern, den Schweinen“5. Im Gesang von „Scheich Adi und den heiligen Männern“ erfahren wir nun, dass es sich bei den heiligen Männern nicht etwa um fromme Jesiden, sondern um islamische Gelehrte, Nachfahren des Propheten Mohammed handelt, die nach Lalisch gingen, um sich davon ein Bild zu machen.6 Wie kann ich meinen Kindern empfehlen, einen solchen Text ohne eine eingehende Erklärung als Bekenntnis ihres Glaubens anzunehmen?
Das heißt: Gebete und religiöse Texte der Jesiden bedürfen einer genauen und ausführlichen religionsgeschichtlichen Kommentierung, um sie für die heutige Zeit verständlich zu machen. Dazu ist aber eine wissenschaftliche Haltung und Arbeit vonnöten, zu der die Jesiden, auch die Gelehrten unter ihnen (oft im Rang eines Scheich oder Pir), derzeit gar nicht in der Lage zu sein scheinen. Wir brauchen ein aufgeklärtes Jesidentum, „das nicht mehr von einem religiösen Mythos her lebt, der als Bericht über historische Wahrheiten gilt, sondern von einer Theologie her, die den quasi historischen Bericht des Mythos zu einer Aussage über den Sinn einer religiösen Wahrheit transzendiert“7.
Religiöses Existenzminimum
Meine Kinder besuchen den christlichen Religionsunterricht: Ich bin sicher, dort lernen sie genug von dem, was nötig ist, um ein „guter Mensch“ zu sein (im Sinne dessen, was mein Vater mich lehrte und was eine jede Religion mit hohen ethischen Werten dazu weiß). Das in der EZW-Broschüre8 referierte Postulat des Oldenburger Forums, die Beschneidung sei für alle jesidischen Jungen verbindlich, ist unzutreffend bzw. anmaßend. Ich lehne die Genitalverstümmelung, sowohl bei Mädchen wie bei Jungen, generell ab. Zwar wurden meine beiden Söhne dem Verfahren unterzogen, weil wir über seine Bedeutung getäuscht worden sind; ich werde jene aber zu gegebener Zeit auf die Tatsache hinweisen, dass es sich – zwecks Taqiyya (siehe oben) – um eine Übernahme aus dem Islam handelt und ihnen Römerbrief 2 zu lesen geben. Als engagierte Tierschützerin lehne ich die barbarische Schächtung von Hunderten von Schafen, das Stieropfer und den Hahnenkult beim alljährlichen „Fest der Versammlung“ in Lalisch ab. Eine Wallfahrt dorthin oder gar eine Teilnahme am Fest kann ich nicht als religiöse Pflicht akzeptieren.
Was bleibt als religiöses Existenzminimum? Neben der rituellen Taufe (kurdisch bisk) und ein oder zwei großen Festen im Jahresverlauf wohl nur die Hochzeitsfeiern und Begräbnisriten; alles andere wird „im tötenden Licht einer fremden Welt“9 verschwinden. Das ist unser selbstverschuldetes Schicksal: Wären wir in der angestammten Heimat geblieben, hätten wir vielleicht – unter nachlassendem Verfolgungsdruck und zunehmender kultureller Autonomie – unseren Glauben noch Jahrhunderte praktizieren können. Andererseits: Hätte ich dann jemals eine freiheitliche Gesellschaft kennengelernt, in der die Menschen- und insbesondere die Frauenrechte geachtet werden, hätte ich Wettkampfsport treiben, ein Buch über mein Leben publizieren, an Seminaren in einer Leibniz-Universität teilnehmen oder meinen jüngsten Sohn ein Kepler-Gymnasium besuchen lassen können? So bleibt die Einsicht, dass es auf dieser Erde kein ganz gutes und auch kein ganz böses Ereignis gibt und dass mein Schicksal sowie das meiner Familie zwecks Läuterung genau so und nicht anders von Tausi-Melek, dem „Engel Pfau“, ausgebrütet worden ist.
Hatun Tuku, Garbsen
Anmerkungen
2 M. Affolderbach / R. Geisler, EZW-Texte 192.
3 Etwa aus C. Issa, Das Yezidentum, vgl. dagegen J. Düchting, Die Kinder des Engel Pfau.
4 EZW-Texte 192, 31.
5 C. Issa, Das Yezidentum, 229.
6 Vgl. ebd., 54.
7 Gernot Wießner, s. ebd., 11.
8 EZW-Texte 192, 12.
9 Gernot Wießner, „... in das tötende Licht einer fremden Welt gewandert“. Geschichte und Religion der Yezidi, in: Robin Schneider (Hg.), Die kurdischen Yezidi, Göttingen 1984, 31-46.
Literatur
Affolderbach, Martin / Geisler, Ralf, Die Yeziden, EZW-Texte 192, Berlin 2007
Düchting, Johannes, Die Kinder des Engel Pfau – Religion und Geschichte der kurdischen Jesiden, Köln 2004
Issa, Chaukeddin, Das Yezidentum – Religion und Leben, Oldenburg 2008
Kaplan, Ismail, Das Alevitentum – Eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Köln 2004
Kelek, Necla, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln 2005 Rohnstock, Katrin / Pasch, Ralf, Mein Leben im Schatten der Blutrache – Die Geschichte der Gülnaz Beyaz, München 2008
Tuku, Hatun, Zwischen zwei Welten. Die Geschichte einer Jesidin in Deutschland, Berlin 2009