Jesus-Begeisterung auf der Straße
(Letzter Bericht: 7/2000, 253f) Am 11. September nahmen ca. 40 000 Christinnen und Christen am Jesus-Tag 2004 in Berlin teil, zu dem ein Gebetsmarsch, ein Gottesdienst am Brandenburger Tor und zahlreiche Aktivitäten unter dem Motto "Wege in die Stadt" gehörten. Zusammengekommen waren erwecklich geprägte Christinnen und Christen aus evangelischen Landeskirchen, Freikirchen, der katholischen Kirche, der Pfingstbewegung und verschiedenen charismatischen Zentren und Initiativen zum gemeinsamen Feiern, Beten und Handeln. Was katholische und evangelische Charismatiker, Pfingstler und Repräsentanten der Deutschen Evangelischen Allianz miteinander verbindet, ist ihre Jesus-Begeisterung. Sie brachten diese auf Plakaten, in Gebeten, in Aktionen, in missionarisch-evangelistischen Projekten zum Ausdruck. In Gebeten gedachten sie u.a. der Opfer des Terrorismus vom 11. September 2001. Ansonsten erinnerte der Jesus-Tag an Kirchentage und Christival-Veranstaltungen. Für viele hatte die Veranstaltung auch Eventcharakter.
Beim Jesus-Tag 2004 gingen evangelikale und pfingstlich-charismatisch geprägte Christinnen und Christen gemeinsam auf die Straße und in die Öffentlichkeit der Hauptstadt. Sie artikulierten dabei ihre besondere Form der Frömmigkeit, für die u.a. charakteristisch ist: die persönliche Erfahrung von Glaube und Bekehrung, das intensive Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller Glaubenden, die Bereitschaft zum persönlichen Engagement in Evangelisation und Mission, das intensive Leben mit der Bibel. Für Charismatiker und Pfingstler kommen greifbare Zeichen des Berührtwerdens von göttlicher Kraft noch hinzu: Zungenrede/Sprachengebet (eine enthusiastische Gebetssprache), Heilungen, Visionen, prophetische Eindrücke... Vor allem außerhalb Europas, in Afrika, Asien, Südamerika stößt dieser Frömmigkeitsstil zunehmend auf Resonanz und ist zu einer zentralen Ausdrucksform des Protestantismus geworden. Auch in Deutschland haben Evangelikale und Charismatiker an Gewicht gewonnen. Da ihnen insbesondere die Kommunikation mit jungen Menschen gelingt, werden sie auch in Zukunft das christliche und kirchliche Leben mitbestimmen und herausfordern.
Der Jesus-Tag verdeutlichte die seit einigen Jahren gewachsenen Koalitionen und Allianzen zwischen Pfingstlern, Charismatikern und Evangelikalen. Ihre Zusammenarbeit wird selbstverständlicher. Die Türen zwischen pentekostalen und evangelikalen Strömungen sind offener geworden. Evangelikal geprägte Christen beteiligen sich an der Lied- und Lobpreiskultur der charismatischen Bewegung. Pfingstler und Charismatiker nehmen ihre spezifischen Anliegen und Themen wie Heilung, Prophetie und Zungenrede zurück und verbünden sich mit Evangelikalen vor allem im Zusammenhang von missionarischen Projekten. Gleichzeitig bleiben auf beiden Seiten auch Vorbehalte bestehen. Manche Evangelikale haben den Eindruck, zunehmend "pentekostalisiert" zu werden, ein Eindruck der sich in globaler Perspektive kaum entkräften lässt. Charismatiker und Pfingstler fürchten, ihr enthusiastisches Profil zu verlieren. Die frühere Jesus-Marsch-Bewegung war fraglos radikaler, in ihren Sprachformen militanter, in ihrer theologischen Ausrichtung fragwürdiger, in der Öffentlichkeit umstrittener. Beim Jesus-Tag wurden aus den Sprachformen der geistlichen Kriegführung und dem Kampf mit Geistern und Dämonen Fürbittengebete. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden den Jesus-Tag allerdings nach wie vor als Jesus-Marsch verstehen. Der Leiterkreis sorgte dafür, dass im Programmheft, beim Gottesdienst, bei der Verdeutlichung der Ziele des Jesus-Tages eine unanstößige und verständliche Sprache gesprochen wurde und auf umstrittene Themen, die bei früheren Jesus-Märschen eine große Rolle spielten (prophetische Proklamationen, endzeitliche Selbstdeutungen, Hervorhebung göttlichen Handelns mit Deutschland ...), verzichtet wurde. Weitere Abgrenzungen und Unterscheidungen traf man allerdings nicht, weder bei Zulassung der Stände auf der Messemeile noch im Programmheft, in dem für den bunten Markt charismatischer Möglichkeiten und Unmöglichkeiten geworben wird, so beispielsweise für "Heilungsfeldzüge" von Benny Hinn.
Eine durchaus offene Frage ist, inwiefern ein Gebetsmarsch mit seinen Transparenten und Bannern und der Sprache, die auf ihnen gesprochen wird, geeignet ist, das Evangelium in den heutigen säkularen und gleichzeitig multireligiösen Kontext zu kommunizieren. Die goldene Krone, die getragen wurde, die zahlreichen israelischen (!) und deutschen Fahnen, die gold- und silberfarbenen Flaggen und Banner riefen nicht nur Zustimmung, sondern auch Irritation hervor. Die demonstrative Solidarität mit Israel ist durchaus begrüßenswert. Zu fragen ist jedoch: Mit welchen Kräften in Israel verbündet man sich und welche endzeitlichen Erwartungen bilden den Hintergrund des Israelengagements vieler Charismatiker? Ist das Israelengagement mit einer erkennbaren friedensethischen Perspektive verbunden?
Jesus-Begeisterung ist in dem Maße hilfreich für das allen Christen aufgetragene Zeugnis ihres Glaubens, in dem sie verbunden bleibt mit einer ganzheitlichen Zuwendung zum Menschen, der Achtung der christlichen Tradition und der Einsicht, dass missionarische Praxis und die Suche nach ökumenischer Gemeinschaft zusammengehören. Die Verantwortlichen des Jesus-Tages waren offensichtlich darum bemüht, ihr christliches Zeugnis für frömmigkeitsmäßig anders geprägt Christinnen und Christen zustimmungsfähiger auszusprechen als dies bei früheren Jesus-Märschen der Fall war. Dies kam u.a. im Gottesdienst am Brandenburger Tor zum Ausdruck.
Reinhard Hempelmann