Johann Hinrich Wicherns vergessenes Erbe
Impulse für eine evangelische Apologetik zwischen Innerer Mission und Publizistik
Die evangelische Weltanschauungsarbeit ist wie auch die organisierte evangelische Publizistik ein Kind der Inneren Mission. Beide Arbeitsfelder sind untrennbar mit dem Namen Johann Hinrich Wichern verbunden. Vor 200 Jahren, am 21. April 1808, wurde der evangelische Theologe und Begründer der Inneren Mission in Hamburg geboren.1 Das Wichern-Gedenkjahr 2008 ruft mit vielfältigen Veranstaltungen und Sonderpublikationen die Verdienste, aber auch die Licht- und Schattenseiten der sicherlich bedeutendsten sozialpolitischen Persönlichkeit der evangelischen Kirche in Erinnerung.2 An dieser Stelle soll aus gegebenem Anlass besonders auf die praktisch-theologischen Impulse Wicherns für das Zusammenwirken von Diakonie, Innerer Mission, Volksmission, Apologetik und Publizistik eingegangen werden.3
„Wort und Tat“
Auf Wicherns Initiative geht die Einrichtung des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, einem Vorläufer des heutigen Diakonischen Werkes, zurück.4 Die organisierte Armenfürsorge, die Wichern umfassend in Angriff nahm, war eine Reaktion auf die dramatische Lage, die sich durch vielfältige Krisen akut verschärft hatte. Die Wirtschaft begann zu stagnieren. Hinzu kamen Missernten und Hungersnöte in der Zeit von 1845 bis 1847. Die Industrielle Revolution (ca. 1760-1850) brachte in Deutschland den vierten Stand, das Proletariat, hervor. Nach 1850 prägte es sich vollständig aus. Die abhängige Lohnarbeiterschaft umfasste den Großteil der Bevölkerung. Ihr Einkommen bewegte sich oft am Rand des Existenzminimums. Ein Massenpauperismus nie gekannten Ausmaßes setzte ein. Städtische und ländliche Unterschichten, die unaufhaltsam anwuchsen, standen vor der materiellen Verelendung. Doch die Kirche blieb weitgehend stumm und übernahm die Position des distanzierten Beobachters. Sie versäumte es, sich auf die Seite der Armen zu stellen, abgesehen von einzelnen Pfarrern, die rasche Hilfe einforderten.
Die religiös-weltanschauliche Situation in Deutschland begann sich Mitte des 19. Jahrhunderts grundlegend zu wandeln. Dies hing auch mit veränderten religionsrechtlichen Bedingungen zusammen. So konnten in dieser Zeit religiöse Bewegungen angelsächsischen Ursprungs ihren Einfluss vergrößern. Vor allem in den Industriezentren, v. a. in Schlesien, Sachsen, Württemberg und im Rheinland, sowie in den Großstädten Berlin und Hamburg konnten diese Bewegungen hohe Wachstumsraten verzeichnen. In diesen Gemeinschaften artikulierte sich religiöser, aber auch sozialer Protest. Die wachsende Anonymität in den Großstädten, der nachlassende Zusammenhalt innerhalb der kirchlichen Großstadtgemeinden, die zunehmende Säkularisierung der Kirchen und ihre Anbindung an die Monarchie, die Vorbehalte gegenüber einer liberalen theologischen Richtung, die den Wunder- und Endzeitglauben eliminieren wollte, bildeten die Hauptmotive für das Anwachsen überschaubarer, meist endzeitlich ausgerichteter sektiererischer Gemeinschaften.5
Wichern entfaltete 1848 in seiner berühmten Stegreifrede bei einer Kirchenversammlung in der Lutherstadt Wittenberg das Programm einer umfassenden Liebestätigkeit. So forderte er, der künftige Kirchenbund solle die „innere Mission“ in seinen Aufgabenkatalog aufnehmen. Die Kirche habe, so sein Vorwurf, zu lange die Nöte der Arbeiter und Handwerker ignoriert und damit christentumsfeindlichen Strömungen in die Hände gearbeitet. Wichern schwebte als eigentliches Ziel die „Verchristlichung der Gesellschaft“ vor.6 Die vielfältigen Krisenherde jener Jahre ließen kommunistische Lösungsansätze besonders attraktiv erscheinen. Das Wirken der Kirche wurde indes in der Öffentlichkeit als obrigkeitsgetreue Vertröstungsstrategie wahrgenommen. Unter den Arbeitern dominierte ein atheistischer Kommunismus. Im Februar 1848 war das Kommunistische Manifest erschienen. Wichern erinnerte seine Kirche nachhaltig an ihre diakonische Aufgabe. Der zu bildende Central-Ausschuß sollte die bislang vielfältigen karitativen Initiativen bündeln und koordinieren.
Evangelische Öffentlichkeitsarbeit
Wichern wollte nicht nur der Verelendung der Massen entgegenwirken. Auch die Gebildeten sollten für das Evangelium gewonnen werden. Vor dem Hintergrund dieses evangelischen Öffentlichkeitsanspruches forderte Wichern immer wieder: „Es muß das Evangelium wieder von den Dächern gepredigt werden, wenn die Massen anders nicht zu erreichen sind.“ 1849 legte Wichern in seiner „Denkschrift an die deutsche Nation“ ein umfassendes Programm für die Entfaltung einer evangelischen Öffentlichkeitsarbeit vor. Sie entstand unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49, deren eigentliche Ursache er in den sozialistischen-kommunistischen Ideen erblickte, die unter der geistig und seelisch Verarmten einen großen Aufschwung erlebt hatten.
Die Kirche sollte, so seine Forderung, dieser Entwicklung mit einer breiten Volkserziehung begegnen. An die Seite der sozialen Tat sollte die evangelische Publizistik treten.7 Nach 1848 ist sie maßgeblich von Wichern geprägt worden. So regte er die Gründung evangelischer Presseverbände an und forderte evangelische Redakteure ein, die das Faktische betonen und das – damals in kirchlichen Periodika übliche – Erbauliche zurückstellen sollten. Nach seinen Vorstelllungen sollte die evangelische Publizistik insgesamt professionalisiert werden.8 Damit sollte den veränderten gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung getragen werden. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der literarisch-publizistische Markt enorm ausgeweitet. Informationsbedürfnis und Bildungshunger nahmen in der Bevölkerung stetig zu: „Die zeitgenössischen Medien der Zeitungen und Zeitschriften, der Bücher und Flugschriften hatten eine immense Ausdehnung erfahren und zur Verdichtung der öffentlichen Kommunikation maßgeblich beigetragen. Rund die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung gehörte vermutlich schon zu der Millionenzahl der Leser von Zeitungen und Zeitschriften. Die Tagespresse erreichte mit einer Gesamtauflage von 300 000 Exemplaren rund drei Mill., das Zeitschriftenwesen rund 500 000 Leser; 330 000 Druckschriften erschienen allein im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Schriftsteller und Journalisten übten ihre Tätigkeit noch fast ausschließlich nebenberuflich aus. Die unaufhaltsame Kommerzialisierung der Medien eröffnete jedoch allmählich den ersten Wagemutigen eine Chance, von Prosa, Poesie und Publizistik leben zu können – mehr schlecht als recht, aber die ‚Verberuflichung’ des Schriftstellers und Journalisten begann sich abzuzeichnen.“9 Damit war der literarisch-publizistische Markt zu einem neuen gesamtgesellschaftlichen Faktor für das geistige Klima jener Jahre geworden. Technische Innovationen in der Drucktechnik sorgten für eine ebenso rasche wie weite Verbreitung von unterhaltenden und belehrenden Stoffen.
Wichern erschien die evangelische Publizistik als probates Mittel für die „Hebung des sittlichen Massenverderbens im Christenvolke“. Volksliteratur, Flugschriften und religiöse Zeitschriften sollten die Predigt in der Kirche ergänzen, um an die entchristlichte Bevölkerung heranzukommen. Die „Verelendung der Massen“ führte er nicht auf gesellschaftliche oder ökonomische, sondern allein auf religiöse Ursachen zurück. Liberalismus, Sozialismus, ein nach dem Kulturkampf wieder erstarkter Katholizismus und die Wissenschaftsgläubigkeit der Gebildeten forderten die evangelische Publizistik zu Apologetik und Polemik heraus. Die Motivationen apologetischer Publizistik standen in engem Zusammenhang mit politischen, aber auch geistes-, kultur- und pressegeschichtlichen Entwicklungen. Das politisch-soziale Anliegen der Inneren Mission ließ das Individuell-Moralische in den Hintergrund treten. Die Begegnung des Evangeliums mit der Welt erforderte für den Verbandsprotestantismus ein stärkeres Eingehen auf die Lebenswirklichkeit der Menschen in sozialer wie auch religiöser Hinsicht.
Wichern hielt die evangelische Publizistik für das geeignete Instrumentarium, um das soziale Engagement der Kirche in weite Kreise der Öffentlichkeit hineinzutragen. Hinter seinen Überlegungen stand auch ein apologetisches Motiv. Durch das publizistische Engagement der Kirche sollte der „kommunistischen“ und liberalen Propaganda effektiv entgegengetreten werden. Die „widerchristlichen Mächte“ wollte er mit ihren eigenen publizistischen Mitteln schlagen. Wichern berücksichtigte alle damals zur Verfügung stehenden Medien und wollte sie insbesondere für die Volksbildung einsetzen. Die vier wichtigsten publizistischen Mittel waren für ihn christliche Volksliteratur, Flugschriften, Zeitschriften und Kolportagen. Er selbst bediente sich in Gestalt von Reden auf Kirchentagen und Vorträgen primär originärpublizistischer Formen, die durch die medial vermittelte Publizistik wie religiöses Bild, Flugschriften, Zeitung, Zeitschrift und Buch ergänzt wurden und öffentlichkeitswirksam das Anliegen der Inneren Mission vertraten.
Die seit September 1844 von Wichern herausgegebenen Fliegenden Blätter aus dem Rauhen Haus zu Horn bei Hamburg berichteten regelmäßig und ausschließlich – und das war ein Novum inmitten der zeitgenössischen kirchlichen und säkularen Presselandschaft – über soziale und kirchenspezifische Ereignisse. Die publizistischen Beiträge des Hamburger Theologen standen ganz im Zeichen der religiösen Überzeugungswerbung und forderten zur sozialpolitischen Tat auf. Wichern wollte das soziale Engagement der Kirche in weite Kreise der Öffentlichkeit hineintragen. Damit verband sich auch ein apologetisches Motiv. Mit einer evangelischen Publizistik sollte antikirchlichen Tendenzen, wie sie für Wichern in der sozialistischen und kommunistischen Presse zum Ausdruck kamen, effektiv entgegengetreten werden.10
Außerdem sah Wichern in populärwissenschaftlichen Stoffen einen negativen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung: „Sie [die Großstädte] stehen da, gesättigt mit Früchten einer von Gott entfremdeten Intelligenz, ausgestattet mit allem Prunk einer Sinne-verwirrenden Genußsucht, verzehrt von der rastlosen Betriebsamkeit zur Erhaltung und Erhöhung des irdischen Lebens, in ihren Massen verführt durch den Schein einer irreleitenden Literatur und durch Predigt, welche das Wort Gottes verfälscht hat. [...] die Disposition zum Separatismus und zu dem verschiedenartigsten Sektenwesen nimmt an manchen Stellen bedrohlich Überhand und zieht zum Teil die besten Kräfte an sich.“11
Wichern empfahl Traktatgesellschaften zur christlichen Literaturverbreitung und die Einrichtung von Volksbibliotheken mit bibelorientierten und volkstümlichen Lesestoffen. Aber auch die Tagespresse als geistige Macht wurde von Wichern entdeckt. Seit 1850 lässt sich ein Wandel im Verhältnis der Inneren Mission zur Tageszeitung beobachten. „Nicht mehr Bekämpfung, sondern christliche Präsenz in ihr“ – so lautete das neue Motto. Die Gründung des ersten evangelischen Presseverbandes, des „Evangelisch-Sozialen Preßverbandes“ (ESP) der Kirchenprovinz Sachsen, im Jahre 1891 erlebte Wichern indes nicht mehr.
Beim ESP handelte es sich um den ersten evangelischen Presseverband, der eigene Presseerzeugnisse herstellte und gleichzeitig die weltliche Tagespresse belieferte. Er war einerseits Reaktion auf die zeitgenössischen sozialen Herausforderungen, zum anderen der Versuch, eine publizistische Gegenbewegung zum Anwachsen der sozialistischen Presse zu schaffen.
Rund ein Jahrzehnt später nahm die Zahl der Presseverbände in den einzelnen Landeskirchen und Kirchenprovinzen deutlich zu. Zwischen 1890 und 1914 entstanden 29 evangelische Landespresseverbände. Am 3. Februar 1910 wurde in Wittenberg als Dachorganisation der bestehenden Presseverbände der „Evangelische Preßverband für Deutschland“ (E.P.D.) gegründet. Damit gelang ein erster Schritt zur Organisation, Systematisierung und Zentralisierung evangelischer Pressearbeit. Sie begann sich zunehmend von der Verbandsstruktur der Inneren Mission zu lösen und entwickelte sich zum eigenen kirchlichen Handlungsfeld. Bereits Wichern hatte die Tagespresse als neues Feld entdeckt. Unermüdlich suchte er bei seinen vielen Reisen auch das Gespräch mit Presseleuten. Er wollte eigene Pressevereine gründen. Die Zeit war dafür noch nicht reif. So haben schließlich die evangelischen Presseverbände das publizistische Erbe Wicherns angetreten. Die inhaltliche Ausrichtung dieser evangelischen Pressearbeit bewegte sich jedoch weiterhin auf der Linie, die Wichern vorgegeben hatte.
Rechristianisierung der Gesellschaft und die Rolle der Apologetik
Wichern hatte mit dem umfassenden Programm der Inneren Mission auch den Blick für die apologetische Herausforderung geschärft, indem er auf die geistige Not des Volkes aufmerksam machte. Er hielt es für ein Gebot der Stunde, dass die Kirche sich mit den aktuellen „Widersachern“ des Glaubens auseinandersetzen müsse. Apologetik sei gefordert. Sie steht für ihn im Dienst der „Verchristlichung der Bildung“, ein Impuls, der die praktische Arbeit des Central-Ausschusses für Jahrzehnte bestimmen sollte. Wichern forderte ein energisches apologetisches Vorgehen von Kirche und Gemeinden, worin er auch die wissenschaftliche Theologie einbezogen wissen wollte. Institutionalisiert wurde die apologetische Arbeit mit der Gründung des Central-Ausschusses für Innere Mission, der vorrangig darauf zielte, Gebildete für die Kirche zurückzugewinnen.
Symptomatisch für den Ruf nach einer starken gemeindebezogenen Apologetik war Wicherns Vortrag über „Die Verpflichtung der Kirche zum Kampf gegen die heutigen Widersacher des Glaubens in ihrer Bedeutung für die Selbsterbauung der Gemeinde“12 auf dem Kongress für Innere Mission in Brandenburg im Jahr 1862. Die Innere Mission sollte nach Wicherns Vorstellungen die Liebestätigkeit wie auch die Volksmission umfassen und sich besonders auf Familie, Staat und Kirche erstrecken, die er als Organismen aus der Hand des Schöpfers betrachtete. In ihrer Zusammenschau bildeten sie den christlichen Gesellschaftsorganismus und waren einander durch Christus als dem lebendigen, persönlichen Prinzip zugeordnet. Wichern wollte das Volk zum christlichen Glauben zurückführen. In seinem Brandenburger Vortrag ging er zunächst auf die apologetische Aufgabenstellung für die Kirche ein. Die Kirche müsse sich, so seine Forderung, mit den aktuellen Widersachern des Glaubens auseinandersetzen. Es sei notwendig, „daß gegen dies Widersachertum einmüthige Zeugenstimmen erhoben werden und sich zur Aufnahme des Kampfes vereinen.“13 Dabei hatte er besonders Gegner im Blick, die die fundamentalen Positionen des christlichen Glaubens – wie Trinitätslehre oder Mittlerschaft, Versöhnungstat und Auferstehung sowie Herrschaft Jesu Christi – grundsätzlich in Zweifel zogen oder ablehnten. Weitere christentumsfeindliche Strömungen diagnostizierte er bei Repräsentanten der höheren Bildung, bei Naturforschern und Medizinern, bei Philosophen und Philologen, bei Kulturschaffenden und Journalisten sowie bei Künstlern und Industriellen. Doch die maßgebliche Schuld für die Entfremdung dieser Personenkreise trage die Kirche: „Wie viel hat die Kirche, d. h. wie viel haben wir Alle mit verschuldet, solche Zustände, solche Feindschaft, solches Widersacherthum gegen die Gemeinde Gottes zu erwecken und zu befestigen? Und vergessen wir nicht, daß das, was wir also als Schuld tragen, nicht nur unsere, nicht nur Schuld eines Geschlechtes, sondern eine von Geschlecht zu Geschlecht überkommene und von uns ererbte Schuld ist.“14 Liberalismus, Säkularismus, die weltliche Presse und das um sich greifende „Unzuchtwesen“ offenbarten nunmehr ihre zerstörende Wirkung und verursachten tiefen Unglauben.
Wichern nahm auch das entstandene Sektenwesen aufs Korn, wozu er besonders den „Baptismus“ und den Methodismus zählte. Beide seien für diese Entwicklung mitverantwortlich, da sie sich vom Kampf der Kirche gegen die Widersacher des Glaubens in Form des Konventikelwesens zu entziehen suchten: „Es kommt nicht bloß darauf an, Angefochtenes zu vertheidigen, Bestrittenes zu behaupten, sondern ebenso sehr vorzudringen, anzugreifen zur Wiedergewinnung des Verlorenen und Eroberung der bis dahin noch nicht oder nur nach Sitte und Gesetz, nicht durch geistige Siege erworbenen und besessenen Provinzen. (...) Man sehe dem Feinde und seinem Wirken gerade in’s Gesicht, ihn zu erforschen und kennen zu lernen. Dazu ist es nöthig, Schriften und Blätter, in denen er sein Angesicht erhüllt, kennen zu lernen und zu studiren.“15
Wicherns apologetisches Programm orientierte sich an Positionen und publizistischen Maßnahmen der christentumsfeindlichen Strömungen. Subjekt apologetischen Handelns sei jedoch im Sinne der Reformation das Priestertum der Glaubenden, die Gemeinde, die für diese Aufgabe zuzurüsten sei. Hier müsse die kirchliche Bildungsarbeit einsetzen, die mit der Einrichtung von Gemeindebibliotheken unbedingt zu fördern sei. Wichern suchte für das apologetische Engagement der Gemeinde auch die wissenschaftliche Theologie zu gewinnen: „Die Theologie hat namentlich das Gebiet der Apologetik mit neuen Kräften aufzunehmen und zugleich für den unmittelbaren Dienst für die Gemeinde zu verarbeiten. Der Kampf ist aber nicht ein bloß theoretischer, sondern greift in gleichem Umfang in das praktische Leben ein und hat sich da auf allen Gebieten umzusehen.“16
Die Zeitschrift Fliegende Blätter, die seit Januar 1849 als „Organ des Central-Ausschusses für die innere Mission der deutschen-evangelischen Kirche“ erschien, widmete sich auch apologetischen Fragestellungen. 1854 hatte das Blatt 3 500 Abonnenten, das Beiblatt erreichte 7 000 Leser. Vorrangige Zielgruppe war der Kreis der Helfer und Mitarbeiter der Inneren Mission sowie die Hilfsbedürftigen selbst. Einzelne Artikel setzten sich kritisch mit Aberglauben und Okkultismus sowie mit Wissenschaftsgläubigkeit, Sozialismus und Atheismus auseinander. In den 1870er und 1880er Jahren beschäftigten sich mehrere Artikel mit der Wahrsagerei bzw. mit dem „modernen Schwindel“ im Anzeigenteil der großen Tageszeitungen: „Sehr charakteristisch ist der Schwindel, der, wie in anderen großen Städten, so auch in Berlin mit der Wahrsagerei getrieben wird. Daß Traum- und Punkturbücher, sowie die s.g. ‚Planeten’ in den verschiedensten Läden und Buden feilgeboten werden, ist an der Tagesordnung. Weniger bekannt wird es sein, in welchem Umfange Schwindlerinnen die Leichtgläubigkeit und den Aberglauben mit ihrer Wahrsagerei auszubeuten wissen. Fast jede Nummer des Berliner Intelligenzblattes (das mit seiner Fülle von Announcen für die Kunde der sittlichen und gesellschaftlichen Zustände Berlins kein zu übersehender Fundort ist) bringt eine Reihe von Reclamen derartiger Weiber, die ihre Kunst anpreisen und anpreisen lassen. Sicherlich würden sie die Insertionskosten sparen, wenn sie nicht auf ein großes Publikum rechnen könnten. Beispielsweise setzen wir die bezüglichen Inserate dreier Nummern des Intelligenzblattes, die uns zufällig vor Augen kamen, und zwar aus einer Woche des vorigen Juli, wortgetreu hierher. (...) Wahrsagerin. Aus Dankbarkeit gegen die Wahrsagerin aus Rußland, deren Prophezeiungen in kurzer Zeit eingetroffen sind, mache ich das geehrte Publikum auf dieselbe aufmerksam. Stralauerstraße No. 44, vorn 1. Etage. Daß die Berliner Presse oder diejenigen Wortführer, die sonst für die ‚Aufklärung’ so eifrig besorgt sind, gegen dieses Unwesen auch nur ein Wort haben, haben wir bis jetzt noch nicht gehört.“17
Organisation der evangelischen Apologetik
Für die zukünftige apologetische Arbeit, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zum festen Arbeitsfeld der Inneren Mission entwickelte, hatte Wichern den theologischen wie publizistischen Kodex aufgestellt, an dem sich die praktische Tätigkeit der Inneren Mission nachhaltig orientieren sollte.18 Die Apologetik sollte keineswegs nur verteidigen, sondern zum Angriff übergehen. Zunehmend wurde der öffentliche Bereich entdeckt. Soziale Liebestat und Verkündigung des Evangeliums durch unterschiedliche publizistische Formen bestimmte die Arbeit des Central-Ausschusses in den weiteren Jahren. Hinzu kam die Volksbildungsarbeit. Ihr entsprang auch die Apologetik, die bei Wichern ganz im Dienst der beruflichen Bildung und seelsorgerlich-geistigen Pflege im Horizont eines christlichen deutschen Volkes stand. Damit sollten die Gebildeten als Teil der so genannten „entchristlichten Masse“ zurückgewonnen werden. Um die Jahrhundertwende widmeten sich auch andere Organisationen wie Vereine der Inneren Mission und regionale kirchlich-apologetische Kommissionen der praktischen Apologetik. Als Veranstaltungsformen begegneten hier neben einschlägigen Vorträgen vor allem so genannte Instruktions- und Lehrkurse nach britischem und amerikanischem Vorbild.
Wicherns apologetisches Anliegen wurde bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb der Inneren Mission nicht weiterverfolgt. Erst 1903 setzte sich der Hamburger Pfarrer Friedrich Mahling umfassend mit zeitgenössischen geistigen und religiösen Strömungen kritisch auseinander. Um die Jahrhundertwende nahmen in den Landeskirchen und Kirchenprovinzen einzelne Landesvereine der Inneren Mission die „Begründung und Verteidigung der christlichen Wahrheit für Gebildete“ auf. Doch zur Institutionalisierung der apologetischen Arbeit im Bereich der Inneren Mission kam es erst im Jahr 1904, als der Central-Ausschuß die Kommission für Apologetik und Vortragswesen einsetzte. Sie vermittelte Vorträge, veranstaltete Kurse und unterhielt Kontakte zu verwandten apologetischen Organisationen. Im Zentrum ihrer Tätigkeit stand – neben Koordinierungsaufgaben der unterschiedlichen regionalen apologetischen Initiativen – die Organisation von Fortbildungsveranstaltungen für Pfarrer, Lehrer und Interessierte in der Metropole Berlin. Seit der Gründung hielt die Apologetische Kommission, deren Vorsitz ab 1909 der Berliner Theologieprofessor Reinhold Seeberg (1859-1935) übernommen hatte, in regelmäßigen Abständen apologetische Instruktionskurse an der Berliner Universität ab. Sie hatten das Ziel, den Nachweis zu erbringen, „dass mit allen gesicherten Ergebnissen wissenschaftlichen Erkennens das Christentum durchaus vereinbar sei“.19 Die Nachfrage nach apologetischen Kursen und Vorträgen war immens. In jenen Jahren tauchte immer wieder der Gedanke auf, eine Zentralstelle einzurichten, die die geistige Auseinandersetzung mit den verschiedenen Strömungen umfassend aufnehmen sollte. Die Einrichtung von hauptamtlichen Apologeten war ein Ziel, das auch Seeberg verfolgte. Es sollte aber noch bis Anfang der 1920er Jahre dauern, bis der Central-Ausschuß sich zur Einrichtung einer „Apologetischen Centrale“ mit einem „Berufsapologeten“ durchringen konnte.20
Von Spezialbereich der Inneren Mission zum kirchlichen Handlungsfeld
Johann Hinrich Wichern stellte seiner Kirche nicht nur die diakonische, sondern auch die publizistische wie auch apologetische Aufgabe vor Augen. Im Rahmen der Rechristianisierung der Gesellschaft gehörten für Wichern Gemeindeaufbau, Apologetik und Mission untrennbar zusammen. Die Apologetik verband er mit kirchlicher Bildungsarbeit, die offensiv in die öffentliche Auseinandersetzung mit den Geistesströmungen einzutreten habe. Dies schloss für ihn das Studium und die theologische Analyse des Schrifttums der unterschiedlichen geistigen und religiösen Strömungen seiner Zeit ausdrücklich mit ein. Das apologetische Engagement wollte Wichern jedoch eng auf die Gemeinde bezogen wissen. Sie war für ihn das Subjekt apologetischen Handelns, weswegen die Gemeindeglieder entsprechend zu schulen und auszubilden seien. Wichern betrachtete die Tätigkeitsfelder Apologetik und Publizistik im Kern als öffentliche Mission – ein Gedanke, der Jahrzehnte später in der literarischen Arbeit der Apologetischen Centrale seinen nachhaltigen Widerhall finden wird.
In der Evangelischen Kirche hat sich die Weltanschauungsarbeit ebenso wie die organisierte evangelische Publizistik in den letzten 150 Jahren von einem Sonderarbeitsbereich der Inneren Mission zu einem eigenständigen kirchlichen Handlungsfeld entwickelt. Als Ende der 1960er und in den 1970er Jahren einzelne Landeskirchen dazu übergingen, hauptamtliche Stellen von Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen einzurichten, so waren sie in der Regel organisatorisch in die volksmissionarischen Ämter integriert. Weltanschauungsarbeit sollte eng mit Volksmission bzw. Innerer Mission verknüpft sein – ein Impuls, den Johann Hinrich Wichern vor über 150 Jahren entwickelt hatte. Und schließlich ist an die Geschichte und an das apologetische Tätigkeitsprofil der seit fast 50 Jahren bestehenden Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zu erinnern.21 Heute ist sie eine unselbständige Einrichtung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Doch die ersten Impulse zu ihrer Gründung kamen aus dem Bereich des Verbandsprotestantismus, der für die 1937 von NS-Stellen gewaltsam geschlossene Apologetische Centrale verantwortlich gezeichnet hatte. Noch 1938 hatte der Vorstand des Central-Ausschusses überlegt, die apologetische Arbeit unter der Bezeichnung „Wichern-Institut“ neu aufzunehmen. Doch die Pläne zerschlugen sich. 1960 wurde schließlich die apologetische Arbeit mit der Bezeichnung Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen unter der Leitung von Kurt Hutten in Stuttgart neu aufgenommen. Bis vor kurzem war das Diakonische Werk auch personell im Kuratorium der EZW vertreten.
Die organisierte Apologetik ist ein Kind der Inneren Mission. Wichern forderte praktische und organisatorische Konsequenzen für diese kirchliche Aufgabe ein. Bereits innerhalb kurzer Zeit war sie – wie auch das evangelische Pressewesen – der verbandsprotestantischen Organisationsstruktur entwachsen. Ihre Ausgangsbedingungen und Fragestellungen haben sich heute grundlegend gewandelt. Doch die evangelische Weltanschauungsarbeit bleibt nach wie vor aktuell und theologisch notwendig – um Gottes und der Menschen willen.
Matthias Pöhlmann
Anmerkungen
1 Aus aktuellem Anlass sind mehrere Veröffentlichungen erschienen, die die Verdienste Wicherns würdigen; den besten Literaturüberblick bietet Werner Raupp, Art. Wichern, Johann Hinrich, in: BBKL XVI (1999), 1473-1503. Die Internetversion www.bautz.de bietet aktuelle Literaturnachträge.
2 Vgl. die Initiative des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland: www.wichern2008.de.
3 Zum Zusammenhang von Innerer Mission, Volksmission und Apologetik vgl. Theodor Strohm, Innere Mission, Volksmission, Apologetik. Zum soziokulturellen Selbstverständnis der Diakonie. Entwicklungslinien bis 1937, in: Jochen-Christoph Kaiser / Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938, Stuttgart 1996, 17-40.
4 Zur Gesamtgeschichte vgl. Ursula Röper / Carola Jüllig (Hg.), Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998, Stuttgart 22007.
5 Vgl. hierzu insgesamt Helmut Obst, Außerkirchliche religiöse Protestbewegungen der Neuzeit (= KGE III/4), Berlin 1990.
6 Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 127f.
7 Helmut Hinze, Innenpolitische Prozesse der 1880er Jahre und die Entwicklung des evangelischen Pressewesens im deutschen Kaiserreich, in: Jochen-Christoph Kaiser / Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938, Stuttgart 1996, 165-172, hier 165ff.
8 Vgl. den Überblick von Roland Rosenstock, Evangelische Presse im 20. Jahrhundert (Christliche Publizistik, Bd. 2), Stuttgart / Zürich 2002, 36ff; zu Einzelheiten: Hans Hafenbrack, Wichern als Publizist. Zehn Thesen, in: Volker Herrmann / Jürgen Gohde / Heinz Schmidt (Hg.), Johann Hinrich Wichern – Erbe und Auftrag. Stand und Perspektiven der Forschung (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts 30), Heidelberg 2007, 211-220.
9 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815-1845/49, München 1987, 521.
10 Gottfried Mehnert, Evangelische Presse. Geschichte und Erscheinungsbild von der Reformation bis zur Gegenwart (= Evangelische Presseforschung, Bd. 4), Bielefeld 1983, 138.
11 Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke, hg. v. Peter Meinhold, Bd. 1: Die Kirche und ihr soziales Handeln (Grundsätzliches und Allgemeines), Berlin / Hamburg 1962, 212f.
12 Johann Hinrich Wichern, Die Verpflichtung der Kirche zum Kampf gegen die Widersacher des Glaubens in ihrer Bedeutung für die Selbsterbauung der Gemeinde, Hamburg 1863.
13 Ebd., 1.
14 Ebd., 30f.
15 Ebd., 25. 27.
16 Ebd., 27f.
17 In: Fliegende Blätter 28 (1871), 323-325, Hervorhebung des Inserats durch den Verfasser.
18 Vgl. im Einzelnen meinen Aufsatz: Weltbildwandel im Spiegel symptomatischer Leitbegriffe. Verbandsprotestantische Krisenbewältigung zwischen „Geisteskampf“ und „Dienst am Volksganzen“ von 1900 bis 1932, in: Manfred Gailus / Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, 81-102.
19 Otto Zöckler, Geschichte der Apologie des Christentums, Gütersloh 1907, 610f.
20 Zum Ganzen vgl. Matthias Pöhlmann, Kampf der Geister. Die Publizistik der „Apologetischen Centrale“ (1921-1937), KoGe 16, Stuttgart 1998.
21 Zum Ganzen vgl. Matthias Pöhlmann / Reinhard Hempelmann / Hans-Jürgen Ruppert, Die EZW im Zug der Zeit. Beiträge zu Geschichte und Auftrag evangelischer Weltanschauungsarbeit, EZW-Texte 154, Berlin 2000.