Shell Deutschland Holding (Hg.) Klaus Hurrelmann, Mathias Albert (Konzeption u. Koordination)

Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck

Shell Deutschland Holding (Hg.), Klaus Hurrelmann, Mathias Albert (Konzeption u. Koordination), Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck, 15. Shell Jugendstudie, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2006, 506 Seiten, 14,95 Euro.


Die vorliegende Shell Jugendstudie ist die 15. Untersuchung, die das Unternehmen seit 1953 hat anfertigen lassen. Die Studien „sollen helfen, die Situation der Jugendlichen in Deutschland zu verstehen, ihre Sorgen nachzuvollziehen und einen Beitrag zu einer gesellschaftspolitischen Diskussion zu leisten“. (11) Als zentrale Aussage im Vergleich zur letzten Studie von 2002 gilt: „Der Optimismus hat (…) einer etwas gemischteren Sichtweise Platz gemacht.“ (15) Zwar hat nach wie vor jeder zweite der Befragten eine eher zuversichtliche Vorstellung von der eigenen Zukunft, 42 Prozent sehen sie „eher gemischt“ und nur acht Prozent eher düster. Aber 2002 waren diese Werte durchweg positiver (56 – 37 – 6). Hauptsorge der Jugendlichen ist es, den Arbeitsplatz zu verlieren oder keine adäquate Beschäftigung finden zu können: Das befürchten 69 Prozent (2002: 55 Prozent). Auch die Angst vor einer schlechten wirtschaftlichen Lage und Armut nahm zu: von 62 Prozent (2002) auf derzeit 66 Prozent.

Der Bielefelder Soziologe Klaus Hurrelmann, gemeinsam mit seinem Kollegen Mathias Albert Koordinator der Studie, sieht „junge Frauen auf der Überholspur“. (66) Bei einer Pressevorstellung des Buches prognostizierte er sogar einen „Kampf der Geschlechter“ anstelle eines „Kampfes der Generationen“. Darauf deute der Schulerfolg hin. 47 Prozent der Mädchen gehen derzeit aufs Gymnasium, 40 Prozent der Jungen (2002: 43 – 39). Ähnliche Relationen ergeben sich beim Ehrgeiz, das Abitur zu machen (55 Prozent der Mädchen, 47 Prozent der Jungen). (67)

Auch in Bezug auf sog. Sekundärtugenden stehen die Mädchen in einem günstigeren Licht. Schon in der Studie von 2002 war, verglichen mit den achtziger Jahren, eine merkliche Wiederbelebung von Werten und Tugenden wie Freundschaft, Verantwortung, Fleiß und Ehrgeiz oder Recht und Ordnung festgestellt worden. Dieser Trend setzt sich fort. (17) Aufgeschlüsselt nach „Wertkomplexen“ stellen die Autoren Unterschiede in der Selbsteinschätzung zwischen den Geschlechtern fest – wie man sie nach herkömmlichen Vorstellungen auch vermutet hätte. Mädchen schätzen Begriffe wie Freundschaft, Familienleben, viele Kontakte, Unabhängigkeit, Eigenverantwortung, Kreativität, Gesetz und Ordnung, Fleiß und Ehrgeiz, Umweltbewusstsein, Sozialengagement und Gottesglauben höher – Jungen hingegen Begriffe wie Lebensgenuss, Lebensstandard, Selbstdurchsetzung, Macht und Einfluss, Geschichtsstolz, Politikengagement. (182)

Einer Vermutung widersprechen jedoch die Autoren der Studie: Der „Renaissance der Religion“ konnten sie nicht entdecken. Zwar seien Jugendliche im Zusammenhang mit dem Tod Papst Johannes Pauls II. oder dem Weltjugendtag in Köln im vergangenen Jahr besonders präsent gewesen. Das liege daran, dass viele eine prinzipiell wohlwollende Einstellung zur Kirche hätten, 69 Prozent fänden „gut, dass es die Kirche gibt“, und die meisten (88 Prozent) sind im Westen konfessionell gebunden. (216) Dennoch haben Wertesystem und praktisches Verhalten der meisten Jugendlichen „nur eine mäßige Beziehung zu kirchlich-religiösen Glaubensvorgaben“. Im Osten Deutschlands bezeichnen sich 79 Prozent der Jugendlichen als konfessionslos. (205) Die Autoren der Studie folgern: „Die neuen Länder sind damit (...) ein weitgehend konfessionsfreies Gebiet und bringen damit eine völlig andersartige Komponente in die religiöse Kultur Deutschlands ein.“ (205) Bei ausländischen Jugendlichen (17 Prozent) bzw. bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund (12 Prozent) ist die Konfessionslosigkeit weitaus seltener. (205)

Es sind erhebliche Unterschiede zwischen den Religionsgemeinschaften festzustellen. Insgesamt sagen 30 Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 25, sie glaubten an einen „persönlichen Gott“. Katholiken sagen das zu 41 Prozent, Protestanten zu 30 Prozent, Muslime aber zu 64 Prozent. Muslime sind zugleich am stärksten von ihrem Elternhaus religiös geprägt. Übrigens glauben auch 6 Prozent der konfessionslosen Jugendlichen an einen persönlichen Gott. (210) Insgesamt stoßen die Kirchen zwar auf eine recht breite Zustimmung. 68 Prozent bemängeln jedoch, dass „die Kirchen keine Antworten auf die Fragen haben, die sie wirklich bewegen“. (218)

Die Autoren der Studie schreiben, dass es in Deutschland „drei verschiedene Kulturen der Religiosität“ gibt: „Religion light“ im Westen, ungläubiger Osten und die „echte“ Religion der Migranten. (221ff)

Fast jeder zweite Jugendliche (46 Prozent) glaubt, dass sein Leben „durch irgend eine Art Schicksal oder Vorbestimmung“ gelenkt bzw. beeinflusst wird. (211f) Immerhin 22 Prozent vermuten astrologische Einflüsse. (212) Die Autoren der Studie bedauern, dass Vergleichszahlen fehlen und stellen fest, dass die große Verbreitung „jedenfalls bemerkenswert“ ist. (212)

Insgesamt erweist sich auch diese Studie wieder als hoch interessant. Die Kirchen finden hier eine Fülle wichtiger Daten. Die eigentliche Arbeit beginnt jedoch nach der Lektüre: Was tun, um die zu erreichen, die den Kirchen (noch?) recht freundlich gegenüberstehen, aber finden, dass diese auf die entscheidenden Fragen keine Antworten haben?


Andreas Fincke