Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich
Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2010, 410 Seiten, 16,95 Euro.
Wie in allen europäischen Wohlfahrtsstaaten ist die Jugend in Deutschland, demografisch gesehen, zu einer bedrohten Art geworden. Grund genug, sich anhand der 16. Shell-Jugendstudie über sie zu informieren. Was ihre Ergebnisse angeht, sei zuvor ein einschränkendes Wort gesagt: Die soziale Realität lässt sich nicht einfach wie eine Datei oder eine Ware abrufen. Langwierige und für den Laien wenig durchschaubare Methoden der Datenerhebung gehen voraus, die wiederum die Bewertungen und Präferenzen der Projektmitarbeiter widerspiegeln. Das mag einem nun schmecken oder nicht – vermeiden lässt es sich nicht. In diesem Fall ist die Untersuchung stark auf Topthemen der öffentlichen Meinung fokussiert, wie etwa Wirtschaftskrise, Globalisierung, Klimaveränderung, Toleranz, Afghanistankrieg, Benachteiligung von Unterschichten und Zuwanderern. Reiches Datenmaterial zu den Befindlichkeiten, Aktivitäten und Einstellungen deutscher Jugendlicher zwischen 12 und 25 Jahren ist herausgekommen, die sowohl statistisch-quantitativ aus einer repräsentativen Stichprobe herausgefiltert wurden wie durch freie Gespräche mit einzelnen Probanden. Wie lauten die hauptsächlichen Resultate?
Die gegenwärtige Jugend präsentiert sich überwiegend als eine positiv eingestellte, leistungs-, bildungs- und bindungsbereite, zufriedene, ideologiefreie Generation, allerdings in der sozialen Skala nach unten hin mit abnehmenden Bejahungen. Materielle Werte scheinen wieder mehr an Bedeutung zu gewinnen, sogar die allgemeine Lebenszufriedenheit und das Befürworten der Globalisierung und der Demokratie wurden an ein bestimmtes erwünschtes oder erreichtes Wohlstandsniveau gekoppelt. Den großen Institutionen (Parteien, Großunternehmen, Kirchen, Bundesregierungen) wird weiterhin starkes Misstrauen entgegengebracht, selbst der bestbenoteten Polizei nur ein mittelgroßes Vertrauen. (Das Vertrauen in die Wissenschaft oder in die Medien wurde leider nicht abgefragt.) Die Tagespolitik ist eine lebensferne Welt, die auf wenig Interesse stößt, wenngleich öffentliche Angelegenheiten nicht gänzlich außerhalb des jugendlichen Gesichtskreises liegen. „Im Zentrum steht der persönliche Erfolg in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft.“ Die Gegenprobe, inwieweit das Misstrauen in tatsächlichen Defiziten der (genannten und anderer) Institutionen wurzelt, war natürlich nicht Teil der Studie, doch kann sie sich Anspielungen nicht verkneifen. „Angesichts vieler ungelöster politischer und sozialer Probleme und einer Tendenz der Machtelite, sich von der breiten Masse abzukoppeln, hätte eine fehlende Skepsis allerdings auch verwundert.“ Ja, die Machteliten – wer sind sie? Korrupte Politiker, geldgierige Manager, egoistische Verbandsfunktionäre oder gar das Opus Dei? Wir erfahren es nicht. An anderer Stelle ist ebenso vage von „den Mächtigen in Wirtschaft und Politik“ die Rede, denen sich „Jugendliche ... ausgeliefert sehen“. So stabilisieren sich Vorurteile. Umso bemerkenswerter ist in diesem Zusammenhang, wie hoch die Familie bei Jugendlichen im Kurs steht, auch wenn man eine eigene (noch) nicht gründen kann oder will. Die verbreitete Aussage, „dass es heute für alle Menschen verbindliche moralische Regeln geben muss, damit die Gesellschaft funktionieren kann“, zeugt eher von einer gesunden Alltagssoziologie als von Extremhaltungen, die in der Studie nicht auszumachen sind. Im Detail müssen natürlich manche Differenzierungen gemacht werden. Der geduldige Leser findet sie neben einem Berg von Zahlen, Korrelationen und Koeffizienten. Anregende und aufschlussreiche Passagen sind vermischt mit offen oder unterschwellig einherspazierenden Werturteilen, mit Irrtümern über die berühmten Jugendstudien Helmut Schelskys aus den 1950er Jahren und mit Unverständnis der Nachkriegsphase der Bundesrepublik. Am Ende des Buches stehen neben Anmerkungen zur Methodik etwas altkluge Ratschläge an Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Pädagogik, wie man es denn nun richtig machen sollte.
Der Themenbereich Religion und Religiosität wird nicht so ausführlich behandelt wie in der letzten Studie aus dem Jahr 2008, weil gravierende Einstellungsveränderungen nicht aufgetreten sind. Es bestätigt sich die religiöse Dreiteilung unseres Landes: Religion (bzw. Gott) hat für die Lebensführung allenfalls auf dem Territorium der alten Bundesrepublik noch eine gewisse Bedeutung bei Jugendlichen, wenn auch gemeinhin eine nicht gerade starke; „eine Konfessionsbindung ist selbstverständlich, aber die Religiosität steht oft auf relativ schwachen Füßen“. Im Gebiet der ehemaligen DDR leben dagegen an die drei Viertel der Jugendlichen völlig außerhalb der christlichen Konfessionen. Der Interpret kommentiert: „Es verbleibt die Erkenntnis, dass viele Westdeutsche sich eine letzte Rückversicherung bei Religion erhalten wollen, während viele Ostdeutsche mit diesem Kapitel schon seit längerem abgeschlossen haben.“ Ein Pfarrer wäre demnach so etwas wie ein Versicherungsvertreter, der im Osten arbeitslos geworden ist. Ebenso verblüfft eine andere Mitteilung: „Interessant ist, dass in letzter Zeit Katholiken wegen des Missbrauchsskandals innerhalb ihrer Kirche ernsthaft darüber nachdenken, ob sie evangelisch werden sollten. Das heißt, sie wollen christlich-konfessionell bleiben, aber nicht in einem Umfeld, in dem Missbräuche von Kindern und Jugendlichen seit Jahrzehnten geduldet und vertuscht wurden“ (ohne Quellenangabe). Müssen wir uns jetzt auf eine Konversionswelle vorbereiten? Die dritte religiöse Provinz sind die nicht den beiden großen Konfessionen zugehörigen religiösen Jugendlichen. Hier geht es natürlich um den Islam (was die Verfasser nicht deutlich auszusprechen wagen), denn orthodoxe Christen oder Juden sind – statistisch gesehen – eine zu vernachlässigende Minderheit. „Religiöse Vitalität ist dagegen bei den Migrantenkulturen zu beobachten, die sich mit ihrer Zuwendung zur Religion immer weiter von der einheimischen Kultur wegbewegen.“ Sie „nehmen den Gottesglauben viel ernster ..., die Lebensbedeutung des Gottesglaubens ... ist sogar noch deutlich gestiegen“. Zu beobachtende Abwehrhaltungen gegen Religion lässt der Autor nicht als Intoleranz gelten. „Eher wäre an eine Art allergische Reaktion auf die kulturelle Besserwisserei der religiösen Eiferer zu denken, die der religiös und kulturell liberalen Mehrheit unseres Landes zunehmend suspekt ist.“ Auch hier bleibt offen, ob es sich um einen Befund handelt oder eine Sprechblase. Andere Passagen, die Religiosität mit Merkmalen wie Zufriedenheit oder dominanten Normen und Werten verbinden, sind nicht so emotionsbeladen, also empirisch valider.Fazit: Mit dieser Shell-Jugendstudie liegt ein gewaltiges Stück Meinungsforschung vor, das jetzt die Jugendsoziologie und Religionspädagogik einzuarbeiten hat. Man darf darauf gespannt sein.
Rainer Waßner, Hamburg