Helga Kuhlmann

Kann „Gerechtigkeit“ Kriterium für eine Bibelübersetzung sein?

I. Textgerechtigkeit

1. Gerechtigkeit kann nicht nur Kriterium einer Bibelübersetzung sein, sondern Gerechtigkeit im Sinn von Textgerechtigkeit muss es sogar sein. Darin besteht kein Dissens. Textgerechtigkeit aber hat bereits zwei Pole, den jeweiligen Ausgangstext und die Sprache, in die übersetzt wird. Denn nicht nur Bibelübersetzungen, sondern jede Übersetzung strebt danach, einem Ausgangstext gerecht zu werden und ihn in der Sprache der jeweiligen Gegenwart lesbar und hörbar zu machen. Abstrakt stimmen auch dieser Aussage viele zu.

2. Selbstverständlich müssen dabei der Ausgangstext und die einzelnen Worte des Ausgangstextes gedeutet werden wie die Gegenwartssituation und die Gegenwartssprache, in die übersetzt wird. Insofern fließen in jede Übersetzung interpretative Überlegungen ein. Wer übersetzt, ist sich dessen bewusst.

3. Schleiermacher hat darüber hinaus in seiner Übersetzungstheorie ausgeführt, was schon im antiken Übersetzungswissen bekannt war, dass jede Übersetzung nur dazu beitragen kann, sich dem im Ausgangstext Gesagten anzunähern. Pointiert kommt dies in der Einleitung des Buches Jesus Sirach zur Sprache. Schleiermacher ging davon aus, dass jede Epoche, jede Interpretationsgemeinschaft und sogar jede einzelne Person von einer bestimmten Sprache geprägt ist und eine von mehreren gesprochene Sprache durch ihren Sprachgebrauch ihrerseits prägt. Übersetzung ist, so betrachtet, immer ein mehrdimensionales Geschehen.

4. Auf einen vierten Aspekt jeder Übersetzung, insbesondere aber einer Bibelübersetzung möchte ich hinweisen. Sprache drückt nicht nur Wirklichkeit aus, sondern gestaltet Wirklichkeit. Die Sprache des heiligen Buches einer Religionsgemeinschaft beeinflusst in höchstem Maß das Selbstverständnis und die Gestalt dieser Gemeinschaft. Christen vertrauen darauf, dass in den liturgischen Vollzügen, die immer (auch) verbal gestaltet sind, sowie in der Lesung der Texte aus den heiligen Schriften der göttliche Geist selbst durch die gelesenen, gesprochenen, gesungenen Worte spricht, dass sich Gott im Wort selbst mitteilt. Dennoch hat so eindringlich wie wenige Martin Luther darauf aufmerksam gemacht, dass die Lektüre der Schriften der Bibel in keiner Weise garantiert, dass Gott aus ihnen spricht. Luther unterscheidet das lebendige, Menschen bewegende und weltverändernde göttliche Wort von den möglicherweise auch toten Buchstaben der Schrift. Ohne den Heiligen Geist als Lebendig- und Heiligmacher können sogar die biblischen Texte stumm bleiben.

In der Erfahrung der Wirkmächtigkeit des Wortes liegt, so sehe ich es, ein Grund für die Heftigkeit der Reaktionen auf die Bibel in gerechter Sprache. Hier wird der Wortlaut von vertrauten Texten verändert, mit denen Menschen gelebt haben und leben, hier geraten Texte aus den bekannten Fugen, sie fallen aus ihren alt-bekannten Rahmen, Texte, auf die sich Menschen verlassen haben, aus denen sie immer wieder ihre Kraft bezogen haben.

Nicht alle aber bekommen Angst vor der neuen Übersetzung. Viele entdecken, dass durch die ungewohnten Übersetzungen die Texte auf neue Weise sprechen, die ihre Lebendigkeit schon verloren hatten, dass der Gehalt der vertrauten Texte erweitert wird, dass sich Texte Menschen neu aufschließen, die als verschlossen, als unzugänglich wahrgenommen worden waren. Die Erfahrung der Macht der Sprache verlangt besondere Sorgfalt im Bemühen um Textgerechtigkeit.

5. Die Hochschätzung der Bibel, und das bedeutet vom Beginn des Protestantismus an der übersetzten und damit allen Christen zugänglichen und in diesem Sinn verständlichen Bibel, trifft für die protestantische Konfession in besonderer Weise zu, die für Konfliktfälle gegenüber einer Über- oder Gleichordnung der Lehre über die Schrift das theologische Erkenntnisprinzip „sola scriptura“ zum Maßstab erklärt hat. Der Grundsatz des sola scriptura, der auch als Motto dieses Tages gewählt ist, wurde in der Reformationszeit gegenüber der römisch-katholischen Position formuliert und bedeutete, dass sich im Fall der Uneinigkeit unter Christen über bestimmte wichtige Fragen, wenn die kirchliche Lehre über diese Fragen anders urteilte als dies von den biblischen Texten her einsichtig gemacht werden konnte, aus protestantischer Sicht für die Begründung der eigenen Position dem aus der Schrift Erkannten der Vorrang gegenüber dem aus der Lehre Erkannten einzuräumen wäre.

Ich kann schwer begreifen, dass manche meinen, die neue Übersetzung wolle die Geltung des reformatorischen sola scriptura in Frage stellen. Was kann das Motiv für die Mühen einer neuen Übersetzung in die gegenwärtige Sprache sein, einer Arbeit, die keinen Auftrag einer Institution oder eines Verlags erfüllt, sondern die sich durch ermutigende Resonanzen auf Übersetzungen einzelner biblischer Textpassagen vor allem beim Deutschen Evangelischen Kirchentag bestärkt wissen konnte, wenn nicht die Überzeugung, dass in den Texten der Bibel auch heute ein hoher Gewinn für das gegenwärtige Leben zu entdecken ist, dass die Texte noch heute so viel Kraft geben und Orientierung zeigen können, dass es sich lohnt, den Aufwand der Übersetzungsarbeit mit allen Risiken in sie hineinzustecken? Dies zur Textgerechtigkeit.

II. Theologische Gerechtigkeitskriterien

6. Der Titel der Bibel in gerechter Sprache akzentuiert neben der Selbstorientierung am Anspruch der Textgerechtigkeit die theologischen Gerechtigkeitskriterien, an denen sich die Übersetzung ausrichtet. Die Bibelübersetzung sieht sich Gerechtigkeitskriterien gegenüber verpflichtet, die zum Thema zentraler theologischer Debatten der letzten Jahrzehnte wurden. Neue theologische Deutungen des Geschlechterverhältnisses in der jüdisch-christlichen Tradition, neue theologische Deutungen des Verhältnisses zwischen christlicher und jüdischer Religion sowie Erkenntnisse der sozialgeschichtlichen Bibelinterpretation legen es nahe, auch in wissenschaftlichen Bibelübersetzungen berücksichtigt zu werden. In der Literaturwissenschaft ist Sprachgerechtigkeit seit Jahrzehnten ein eingeführtes Kriterium der Textbeurteilung, seit einigen Jahren existieren Übersetzungen der biblischen Texte nach ähnlichen Gesichtspunkten auch in andere Sprachen.

Die drei in der Bibel in gerechter Sprache hervorgehobenen Gerechtigkeitsaspekte, die neben der Textgerechtigkeit die Übersetzung prägen, sind im Verständnis biblischer Gerechtigkeit begründet. Besonderes Gewicht kommt dabei der Bundestreue Gottes zu seinem erwählten Volk zu, der göttlich gewährten und Menschen aufgetragenen gleichen Würdigung von Männern und Frauen, von jüdischen und nicht-jüdischen, von herrschenden, wohl habenden und sozial untergeordneten, schwachen Menschen. In Gal 3,28 begegnen diese Aspekte konzentriert: „Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, da ist nicht männlich und weiblich: denn ihr seid alle einzig-einig im Messias Jesus.“ Während der letzten Jahrzehnte haben Synoden deutscher Landeskirchen, EKD-Synoden, Kirchentage sowie Vollversammlungen des ÖRK Gerechtigkeit in diesen Hinsichten zu ihren Themen gewählt. Die Bibelübersetzung in gerechte Sprache geht theologisch davon aus, dass die Gerechtigkeit zwischen Gott und den Menschen von der Gerechtigkeit unter Menschen nicht zu trennen ist, dass das Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes sowie die Bitten um diese Gerechtigkeit unterschiedliche Teile der Bibel verbinden. Sie bestimmen schon die biblische Rechtfertigungsbotschaft, die in der reformatorischen Theologie neu zur Geltung kam. Gerechtigkeit wird in biblischen Texten als göttliche Gabe und Aufgabe gedeutet.

In der Ausrichtung auf göttliche und menschliche Gerechtigkeit erkennt die Übersetzung ein zentrales Thema der biblischen Textüberlieferung, das in den unterschiedlichen Büchern der Bibel in unterschiedlichen Facetten entfaltet wird. Die Worte der hebräischen und griechischen Sprache für Gerechtigkeit umfassen weit mehr als Fairness: Göttliche den Menschen zuteil werdende Gerechtigkeit befreit, sie ermöglicht Vertrauen, sie verbreitet Freundlichkeit, sie stiftet verlässliche Beziehungen Unterschiedener, sie küsst den Frieden, sie versöhnt und verbindet, sie wirkt heilsam. Sie wird unverdient als Gnade zuteil. Sie korrigiert bestimmte verengte Vorstellungen menschlichen Rechts. Gerechtigkeit beschreibt keinen statischen, schon realisierten Zustand, sondern eine Gabe, eine Verheißung und eine Aufgabe, die Menschen in Bewegung setzt, auf die sie sich zu bewegen.

7. Darf sich eine Bibelübersetzung von einem theologischen Kriterium wie dem der Gerechtigkeit leiten lassen? Mit Luther sieht sich die Bibelübersetzung darin einig, dass Übersetzungen ein theologisches Profil enthalten und enthalten sollen. Im Sendbrief vom Dolmetschen zeigt Luther, dass er nicht nur keine Scheu hat, die Übersetzung an der durch den Heiligen Geist gewährten theologischen Erkenntnis der Wahrheit auszurichten, sondern dies geradezu als Verpflichtung betrachtet. Seinen Zusatz des „solus“ im Brief an die Gemeinde in Röm 3,28 begründet Luther nicht nur mit der „Art der Sprache“, sondern, so Luther: „der Text und die Absicht des Paulus fordern und erzwingen es unwiderstehlich.“ (153)1 Luther ist sich sicherer als sich eine gegenwärtige Übersetzung aus heutiger translationswissenschaftlicher Sicht sicher sein kann, die Intention der Autoren der biblischen Texte erfassen zu können. Dass die neue Übersetzung aber intentional darauf zielt, die Inhalte der biblischen Texte angemessen und gegenwärtig verständlich zur Geltung zu bringen, ist schwerlich zu bestreiten. „Mich wundert aber, dass man sich in dieser offenkundigen Sache so sperren kann ... Was ist’s denn nun, dass man so tobt und wütet, verketzert und verbrennt, obwohl die Sache im Grunde selbst klar daliegt? ... Die Sache bekennen sie als recht und strafen die Rede von derselben Sache als Unrecht. Keine Sache aber kann zugleich recht und unrecht sein.“ (155) So Luther weiter, zu einem anderen Thema als die Bibel in gerechter Sprache, aber in einer Frage, ob eine bestimmte aus den Bibeltexten gewonnene theologische Erkenntnis die Übersetzung leiten darf oder nicht. Als drittes Argument über das sprachliche und das theologische Argument hinaus fügt Luther für seinen Zusatz des „sola“ in seine Übersetzung eine Gegenwartsdiagnose an: „die Gefährdung der Leute ... zwingt (dazu), dass sie nicht an den Werken hängen bleiben, den Glauben verfehlen und Christus verlieren – besonders zu dieser Zeit, da sie schon so lange an Werke gewöhnt und (nur, H. K.) mit Macht davon loszureißen sind.“ (155f)

Drei unterschiedliche Arten von Argumenten führt Luther zur Begründung seiner Übersetzung hier an: 1. die Sprache – hier nennt Luther sprachliche Aspekte des Ausgangstextes wie der Gegenwartssprache –, 2. die Theologie des Textes sowie 3. die besonderen geschichtlich gegebenen Umstände seiner Gegenwart, in deren Sprache er den Text übersetzt. Auch die neue Bibelübersetzung begründet ihre Übersetzungen mit diesen drei Arten von Argumenten: sprachlich, theologisch und gegenwartsdiagnostisch.

III. Das Verhältnis zwischen Textgerechtigkeit und theologischen Gerechtigkeitsaspekten

8. Nachdem die unterschiedlichen Akzentuierungen der Bedeutung von Gerechtigkeit in der Bibel in gerechter Sprache erläutert wurden, stellt sich nun die Frage nach ihrem Verhältnis. Meine These lautet: Die Sensibilität für die theologischen Gerechtigkeitsaspekte bleibt dem Sinn des Ausgangstextes und damit der Textgerechtigkeit untergeordnet. Diese Sensibilität ermöglicht es, auf Dimensionen der Ausgangstexte aufmerksam zu machen, die in vielen Übersetzungen nicht zum Ausdruck kommen. Durch andere Übersetzungen sind die Texte in bestimmter Weise interpretiert worden, die keineswegs deren einzige Deutung wiedergibt und die in mehreren Fällen dazu beiträgt, dass die in den Texten enthaltenen Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Christen verdeckt werden, sowie dazu, dass im Text genannte Personengruppen als Männer und Gott als männlich vorgestellt werden. Durch diese Missverständnisse wird der Bedeutungsreichtum der Ausgangstexte unangemessen eingeschränkt. Viele, die die neue Übersetzung neben einer anderen lesen und hören, sehen sich daher in ihrem Verständnis der biblischen Texte bereichert.

Manche Kritiker behaupten, die neue Bibelübersetzung sei keine Übersetzung, sondern eine Interpretation. Viele nehmen so wenig von der Einleitung zur Kenntnis, dass sie nicht einmal wahrnehmen, dass neben der Textgerechtigkeit ein theologisches und nicht ein modisches oder nur politisches Gerechtigkeitsverständnis die Übersetzung leitet. Manche meinen, das theologische Profil der Übersetzung werde den Texten übergestülpt. Wie in der Auseinandersetzung um denselben Vorwurf an die Bibelübersetzung Martin Luthers kann dies letztlich nur an Beispielen diskutiert werden.

Zunächst ist dem aber zu entgegnen, dass selbstverständlich auch in dieser Übersetzung nicht getilgt wird, dass beispielsweise laut 1. Kor 14,9 Frauen in Gemeindeversammlungen zu schweigen haben, dass Tamar vergewaltigt wird (2. Sam 13,14), dass Eva nach 1. Tim 2,11 der Verführung erlag. Ebenso wenig wird verschwiegen, dass der Mann nach 1. Kor 11,3 sowie nach Eph 5,23 als Haupt der Frau bezeichnet wird. Texte, die dem theologischen Gerechtigkeitsprofil der Bibel in gerechter Sprache nicht entsprechen, werden selbstverständlich mitübersetzt. Wo Frauen bei grammatisch männlichen Worten der Ausgangssprache mitgemeint sind, werden sie in der Übersetzung „sichtbar“ gemacht. So neu, wie es manchen erscheint, ist dieser Vorgang bei der Wiedergabe biblischer Texte nicht. Er begegnet bereits selten in den biblischen Texten selbst, wo in 2. Kor 6,18 inklusiv dem Text des Alten Testaments 2. Sam 7,14 den Söhnen die Töchter hinzugefügt werden. Auch Martin Luther verwendet männliche und weibliche oder geschlechtsinklusive Worte, an Stellen, die er so beurteilt, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen gemeint seien. Z.B. übersetzt er das griechische Wort „hyioi“ mit „Kindern“ in Röm 8,14.

Analoges ist zur Differenz zwischen jüdischer und christlicher Religion zu sagen. Dass Jesus Konflikte mit jüdischen Menschen hatte, wird übersetzt. Differenzen werden nicht verschwiegen, sondern als Differenzen unter Juden erkennbar. Darin, dass die Übersetzung zeigt, dass Jesus selbst jüdisch ist, stülpt sie dem Text nichts Fremdes über, sondern bringt das in den Texten Vorausgesetzte angemessener zur Geltung, als wenn dies nicht berücksichtigt würde. Die Übersetzung erinnert daran, was zur Zeit der Abfassung der Texte noch präsent war, vielen zeitgenössischen Leserinnen und Lesern gegenwärtig aber nicht mehr klar ist: dass Jesus selbst Jude war. Falls die Übersetzung in Einzelfällen entgegen den eigenen Intentionen der Bibel in gerechter Sprache historische und theologische Missverständnisse fördert oder im Ausgangstext begründete theologische Antijudaismen abschwächt, sollten diese Übersetzungen verbessert werden.

Noch einmal: Durch die Sensibilität für die theologischen Gerechtigkeitskriterien teilt die neue Übersetzung Gehalte und Dimensionen der Ausgangstexte mit, die frühere Übersetzungen nicht enthielten. Dies möchte ich an einem Beispiel zeigen. So werden in Psalm 90,2 zwei Worte verwendet, die „geboren werden“ bzw. „in Schmerzen gebären“ bedeuten können, im ersten Fall auch „zeugen“. Die revidierte Lutherübersetzung lautet hier: „Ehe die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt: „Bevor die Berge geboren wurden und du unter Wehen Erde und Erdkreis geboren hast – durch alle Zeiten bist du, Gott.“ In der Bibel in gerechter Sprache wird eine körperliche und in diesem Fall weibliche Metaphorik auf Gott bezogen erkennbar, während in der Luther-Übersetzung Gott als Schaffender, als Schöpfer begegnet, nicht als gebärende Gottheit. Dass die körperliche Aktivität des Gebärens (oder des Zeugens) „el“, „Gott“ zugeschrieben wird, wird in der Luther-Übersetzung unsichtbar. Theologisch Gebildete haben gelernt, das Schaffen Gottes durch das Wort als Alternative zu dem in anderen Traditionen bekannten „Gebären“ oder „Zeugen“ in Schöpfungsgeschichten zu verstehen. Dass neben der Schöpfung durch das Wort aber nicht nur das Gebären, sondern auch das Wort für Mutterschoß, das zugleich Erbarmen bedeutet, Gott zugeschrieben wird, hat erst die jüngere, geschlechtersensible Theologie erarbeitet. Diese Erkenntnis wird in der neuen Bibelübersetzung berücksichtigt und nicht, wie in mehreren früheren Übersetzungen, durch die Übersetzung aus dem Text entfernt. Statt dass eine dem Text fremde Übersetzungsabsicht den Text verfälscht, wie Kritiker dies meinen, ermöglicht die durch die theologischen Debatten der letzten Jahrzehnte gewachsene Sensibilität für bisher verborgen gebliebene Dimensionen der Ausgangstexte, im übersetzten Text zu zeigen, dass Gottes schöpferische Aktivität im Ausgangstext nicht auf das Wort beschränkt bleibt, sondern als körperliches Gebären (oder genauso körperlich: als Zeugen, ein anregender Gedanke, den ich hier nicht weiter verfolge) gedacht werden konnte.

Auch wenn noch nicht alles gelungen ist und manches noch konsequenter durchdacht werden muss, so bieten doch der Ansatz und vielfältige Umsetzungen die Chance, den Textgehalt, der in den traditionellen Übersetzungen gehört und gelesen werden konnte, um Aspekte und Dimensionen zu bereichern, die in den Ausgangstexten enthalten sind, auch wenn sie erst durch historisch bedingte Aufmerksamkeiten und Sensibilitäten entborgen und entfaltet werden können.

9. Gottesnamen und -benennungen in der Bibelübersetzung: Abschließend möchte ich skizzieren, wie sich die Orientierung an Textgerechtigkeit und an den genannten theologischen Gerechtigkeitsaspekten in den Übersetzungen des Eigennamens Gottes und anderer Gottesbenennungen niederschlägt.

Die Übersetzung „Herr“ für die vier Buchstaben des Gottesnamens treffen sicherlich nicht den Ausgangstext. Sie nähern sich der Übersetzung des Ersatzworts für den in jüdischen Traditionen nicht ausgesprochenen Gottesnamens an: „adonaj“, das wörtlich übersetzt etwa „meine Herren“ bedeutet. Im Unterschied zum Deutschen wird dies Ersatzwort im Hebräischen ausschließlich für die Anrede Gottes verwendet, nicht zugleich für menschliche Herren.

Die Übersetzungslösungen des unübersetzbaren Eigennamens Gottes in der Bibel in gerechter Sprache halte ich für eine deutlich bessere Annäherung an den Gottesnamen als „Herr“ und für eine wesentlich textgerechtere Lösung. Zunächst markiert die graphische Grauunterlegung, dass an diesen Stellen das Tetragramm steht. Zweitens wird eine in der jüdischen und christlichen Tradition bewährte angenäherte Lesemöglichkeit vorgeschlagen, die wie „der“ bzw. „die Ewige“ und die oder der Lebendige dem im Tetragramm enthaltenen Verbstamm nahe kommen, die mit der jüdischen Tradition verbinden wie die schon genannten Ersatznamen, wie aber auch „adonaj“, der bzw. die Heilige, und „ich bin da“. Drittens wird durch die Möglichkeit, Gott grammatisch weiblich und männlich zu benennen, dem Missverständnis vorgebeugt, Gott sei männlich oder zumindest eher männlich als weiblich. Die Intention der Symmetrie männlicher und weiblicher Gottesmetaphorik ist das Ergebnis einer theologischen Reflexion, die ihre Gründe u.a. darin findet, dass in Gen 1,27 männliche und weibliche Gottesbildlichkeit gleichgestellt werden und dass von Gott in Hosea 11,9 ausgesagt wird: „Denn Gott bin ich und kein Mann.“ Auch hier übersetzt die revidierte Luther-Übersetzung dem Ausgangstext ferner als die Bibel in gerechter Sprache: Dort heißt es: „... und kein Mensch“, hier steht im Hebräischen das Wort „isch“, das Mann im Gegenüber zu ischah / Frau bedeutet. Mit der theologischen Erkenntnis, die in Gen 1,27, im Bilderverbot, in Hosea 11,9, Gal 3,28 und an anderen Stellen ausgesagt wird, macht die Bibel in gerechter Sprache ernst, indem sie der männlichen Metaphorik, der männlichen Rede von Gott und der männlichen Anrede Gottes gegenüber der weiblichen kein Übergewicht einräumt. Keineswegs wird Gott in der neuen Übersetzung vorrangig weiblich benannt oder grammatisch bezeichnet, vorrangig werden in der Bibel in gerechter Sprache für das Tetragramm die Übersetzungslösungen „Gott“ und „Adonaj“ gewählt, erst dann folgt „die Lebendige“. Denn die Übersetzenden sind sich darin einig, dass Gott die Grenzen irdischer Männlichkeit und Weiblichkeit transzendiert. Wenn aber Gott als Person angesprochen wird, kann – so ist die deutsche Sprache strukturiert – auf männliche und weibliche grammatische Formen nicht verzichtet werden. Vom Bilderverbot her, das Gott die Ehre darin gibt, dass Gott sich selbst in der Gestalt und in der sprachlichen Gestalt zeigt, die ihm/ihr entspricht, ist es entscheidend, dass Gott nicht in einem Geschlecht fixiert wird.

Die Möglichkeit, Gott auch als „die Lebendige“ anzusprechen, bringt für viele Menschen das Sprechen mit Gott in Bewegung. Sie fragen, ob tatsächlich derselbe Gott mit diesem Namen angesprochen werden kann oder ob hier eine andere Gottheit begegnet. In dem Sinn irritiert die neue Übersetzung, sie fordert heraus, sie drängt dazu, über Selbstverständlichkeiten der Gottesrede und der Gottesanrede neu nachzudenken. Auch die Übersetzerinnen und Übersetzer selbst sind in diesen Lernprozess geraten. Dennoch halten wir es aus den hier nur knapp genannten Gründen für theologisch angemessen, Männlichkeit und Weiblichkeit in der Gottesmetaphorik und in der Gottesanrede gleichzustellen, und zwar nicht, weil wir gerade dazu Lust haben oder gern einmal politisch korrekt sind, nicht weil uns Feministinnen oder Politgruppen verführt haben, sondern tatsächlich aus dem Grund heraus, dass es unserer in den biblischen Texten begründeten Wahrheitserkenntnis entspricht.

Noch eine Bemerkung zu „kyrios“ im NT. Zunächst ist dem Missverständnis zu entgegnen, in der neuen Übersetzung würde kyrios nie als „Herr“ übersetzt. Das stimmt nicht. Neben dieser Übersetzung wird „kyrios“ wiedergegeben mit „zu dem wir gehören“, „dem wir vertrauen“ und als „Macht über uns“. Darin erkenne ich keine Verfälschung des christologischen „Herr-Seins“, sondern die Bemühung, das „Herr-Sein“ Jesu Christi so auszudrücken, dass die damit bezeichnete Relationalität nicht ausschließlich in einer sozial fixierten Hierarchie zur Geltung kommt, wie sie ja christologisch auch nicht gemeint ist. Der „kyrios“ des Neuen Testaments wird zum „doulos“, dieser kyrios geht den Weg in die Niedrigkeit, dieser kyrios durchkreuzt traditionelles kyrios-Sein. Wenn das am Seitenrand der Bibel in gerechter Sprache als Glossarbegriff sichtbare „kyrios“ in diesen Umschreibungen übersetzt wird, wird damit zum einen die qualitative Differenz zwischen dem kyrios und den ihm Vertrauenden, die Ehrung und die Anerkennung ausgesprochen. Darüber hinaus werden die innere Loyalität der Menschen, die sich Jesus anschließen, die Erfahrung der „Attraktion“, ihres Angezogen-Werdens und der Vertrauenswürdigkeit des Gesalbten mitgeteilt. Das Kyrios-Sein wird so übersetzt wie es in den Ausgangstexten gemeint ist: Diesem Kyrios gegenüber doulos oder doule zu sein, unterbricht die sozial gegebenen Hierarchien. Es bedeutet, ihm zu vertrauen, die eigene Person ihm anzuvertrauen, sich als zugehörig zu ihm zu erkennen, sich selbst an ihm auszurichten, ihn als Macht über die eigene Person anzuerkennen.

10. Andere sehen in uns Pietisten, eine Sekte, manche halten den Vorwurf der Ketzerei für angebracht, der ja an der Wiege des Protestantismus eine erhebliche Rolle gespielt hat und in der Frage der Teilnahme am heiligen Abendmahl noch immer nicht zurückgenommen wurde. Meinen diese Kritiker, dass Spaltungen tatsächlich der richtige Weg sind unter denen, denen nicht nur die christliche Gemeinschaft, die gleiche Würde von Männern und Frauen, die Gemeinschaft zwischen Juden und Christen, sondern auch die Texte der Bibel und deren Inhalte wichtig sind? Können sie sich nicht darüber freuen, dass unzählige Menschen neu begonnen haben, die Bibel zu lesen und sich mit ihren Inhalten auseinanderzusetzen, dass sich Gemeindegruppen bilden, die mit Engagement Lutherbibel und Bibel in gerechter Sprache im Vergleich lesen, wie wir es schon vor der Veröffentlichung der Übersetzung empfohlen haben, dass sich in Wohngemeinschaften, Seminaren, Konfirmandengruppen und Familien über Generationen hinweg Menschen über die Bibel streiten, dass die Bibel in der Presse so wichtig ist wie kaum ein christliches Thema der letzten Jahre?

Mit Luther sieht sich die neue Bibelübersetzung darin einig, dass sie allen freistellt, gelesen zu werden oder nicht. Der Rat der EKD scheint diese Freiheit den für Gottesdienste Verantwortlichen nicht zuzutrauen – in der Regel sind dies universitär und kirchlich ausgebildete Theologinnen und Theologen – und meint, Maßregelungen treffen zu müssen, die Verwunderung und Befremdung bei evangelischen und katholischen Christinnen und Christen hervorrufen.

Wie reagierte Luther darauf, dass drei Monate nach dem Erscheinen seines NT eine kirchlich autorisierte Übersetzung erschien? „Wer’s nicht haben will, der laß mir’s stehen. … Wer mein Dolmetschen nicht will, der lasse es beiseite. Der Teufel danke dem, der es nicht mag oder es ohne meinen Willen und Wissen schulmeistert. Soll’s geschulmeistert werden, so will ich’s selber tun. Wo ich’s nicht selbst tue, da lasse man mir mein Dolmetschen in Frieden und mache jeder, was er will, für sich selbst und lasse sich’s wohl gehen.“ (150f)

Ganz so sehen wir es nicht. Wir wünschen uns eine faire, sachliche, auf einzelne Übersetzungen bezogene Auseinandersetzung, mit dem Ziel, die Übersetzung weiter zu verbessern.


Helga Kuhlmann, Paderborn


Anmerkung

1 Die Zahlen im Text beziehen sich auf: Karin Bornkamm/ Gerhard Ebeling (Hg.), D. Martin Luther, Ein Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen 1530, in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Band 5, Frankfurt am Main 1982, 140-161.