Karlheinz Stockhausens „Mittwoch aus Licht“ uraufgeführt
(Letzter Bericht: 7/2011, 268ff) „Es ist vollbracht!“ – Dieser Stoßseufzer dürfte sich wohl der Brust mancher Fans von Karlheinz Stockhausen entrungen haben. Denn dem 2007 verstorbenen Komponisten war es zu Lebzeiten nicht vergönnt, die Aufführung aller sieben, nach den Wochentagen benannten Teile seines Opernzyklus „Licht“ zu erleben, der mit insgesamt 29 Stunden Musik Wagners „Ring“ zu einem musikalischen Zwerg degradiert. Besonders am „Mittwoch aus Licht“ bissen sich die Opernhäuser (z. B. in Bonn und Bern) die Zähne aus, gehört doch zu diesem Teil das mittlerweile schon legendäre „Helikopter-Streichquartett“, ein Werk, bei dem die Streicher in einen Helikopter verfrachtet werden und während des Flugs ihre Instrumente spielen, sodass sich deren Klänge mit dem Knattern der Rotoren mischen. Die bisher allesamt gescheiterten Pläne, den „Mittwoch“ komplett auf die Bühne zu bringen (es waren bisher immer nur die einzelnen Teile zu hören), verhalfen der Oper schließlich zum Attribut „unaufführbar“.
Das Gegenteil bewies nun die Oper Birmingham mit einer Inszenierung von Graham Vick. In rekordverdächtig kurzer Zeit wurde der „Mittwoch“ als Teil des Begleitprogramms der Olympischen Spiele aus dem Boden gestampft, wobei Kathinka Pasveer, Stockhausens engste Mitarbeiterin, die Musiker und Musikerinnen zu Höchstleistungen animierte und damit garantierte, dass die Intentionen und Qualitätsansprüche des Meisters gewahrt blieben. Die Inszenierung war im Vergleich zur Uraufführung des „Sonntags“ in Köln (2011) eher sparsam, glänzte aber durch originelle Einfälle und einen Stockhausens Werk und Wesen angemessenen Humor. Die jungen Streicher und Streicherinnen des „ElysianQuartet“ (London) meisterten die Schwierigkeiten des „Helikopter-Streichquartetts“ ebenso mit Bravour wie ihre Flugangst und wurden dafür vom Publikum mit verdientem und frenetischem Beifall bedacht. Heimlicher Publikumsliebling war jedoch wohl ein nicht zwei-, sondern vierbeiniges Ensemblemitglied: das von zwei Tänzerinnen bewegte und vom Basler Sänger Michael Leibundgut (Bass) stimmlich hervorragend ausgestattete Luzikamel. Es ist Teil der 4. „Mittwochs“-Szene namens „Michaelion“, einer äußerst komplexen Komposition, in deren Verlauf Leibundgut dem Kamelkörper zu entschlüpfen schien und als „Operator“ Kurzwellenklänge „übersetzte“. Zuvor durfte sich das Luzikamel aber noch die Hufe polieren lassen und einen bezaubernden Tanz aufs Parkett legen.
Es gab im Publikum sicher nicht nur Stockhausen-Fans, sondern auch Besucher, die sich angesichts dieses Klamauks und Spektakels gefragt haben, was um Himmels Willen das alles soll – noch dazu in so etwas doch eigentlich „Seriösem“ wie einer Oper. In keiner der sieben „Licht“-Teile hat Stockhausen seiner kindlichen Lust und Freude an verrückten Einfällen so viel freien Lauf gelassen wie im „Mittwoch“.
Weitaus weniger zum Tragen kommt dafür in diesem Werk Stockhausens religiöse Überzeugung, die sich aus den verschiedensten Quellen wie dem auf dem Wege des Channelling übermittelten „Urantia“-Buch, dem Werk Sri Aurobindos und Hazrat Inayat Khans, der Theosophie und anderer Strömungen speiste, nachdem der Komponist sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vom rheinischen Katholizismus gelöst hatte (siehe MD 2/2008, 73ff). Der „Mittwoch“ ist über weite Strecken ein Loblied auf die Liebe und die Schöpfung des Kosmos, ein Gotteslob, das allerdings im nach dem „Mittwoch“ komponierten „Sonntag“ nochmals eine Steigerung erfahren sollte. So wird beispielsweise in der Szene „Michaelion“ gesungen: „Segen bringt Lob. / Lob, Dankbarkeit für die Wunder der Sterne, Planeten. / Alle Geister drehen in Spiralen sich zum Licht der Welt, / ewig steigend zu Gott, schöpfend im All ... Jauchzet jubelt Kinder, / jauchzet, jubelt, jauchzet, jubelt, / denn nie haben die Menschen so viel gewusst / über Himmelskörper, Sternenzelt! / Freuet euch: Mittwoch aus Licht im Michaelion / erzeugt Liebe, Hoffnung, Mut / für Luzifers Frieden mit Gott, / dem Schöpfer aller Universen, Kreaturen.“ Die „urantianischen“ Assoziationen sind dagegen weitaus seltener vorhanden als im „Sonntag“ oder gar im nach „Licht“ entstandenen, unvollendet gebliebenen Zyklus „Klang“, dessen letzte Teile ein klares Bekenntnis Stockhausens zum „Urantia“-Buch darstellen (siehe MD 8/10, 308ff, zum „Urantia“-Buch ausführlicher MD 9/2006, 341-350). Eine der wenigen Stellen, die einen Einfluss des „Urantia“-Buches bezeugen, ist die ebenfalls in „Michaelion“ zu hörende Bezeichnung des „Licht“-Protagonisten Michael als „Gottes Sohn, Kosmo-Creator, kosmischer Fürst“, denn gemäß „Urantia“-Buch ist Michael eben kein Erzengel, sondern ein „Paradiessohn“ Gottes, Schöpfer und Regent unseres Lokaluniversums (namens Nebadon) und identisch mit Jesus Christus.
Vielleicht sind es die weit fortgeschrittene Säkularisierung in Großbritannien und ein eher pragmatischer Umgang mit Religion, die dazu geführt haben, dass die dortigen Medien über Stockhausens unorthodoxe Glaubensauffassungen kaum ein Wort verloren, sondern sich verwundert-amüsiert auf die Streicher im Helikopter und das tanzende und singende Kamel fokussierten. In den deutschsprachigen Medien wurde dagegen einmal mehr (wie oft eigentlich noch?) mahnend der Finger gehoben: Von „metaphysischem Pathos“ sprach Jörn Florian Fuchs im „Deutschlandfunk“, von einer „nicht unproblematischen quasireligiösen, sektenhaften Weltanschauung“ Marco Frei in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Karlheinz Stockhausen war jedoch weder Sektenmitglied noch -gründer, und seine Weltanschauung war nicht quasi-, sondern vielmehr zutiefst religiös. Diese gebetsmühlenhaften Vorhaltungen aufgeklärter Feuilletonisten waren schon zu Stockhausens Lebzeiten ebenso albern wie vergebens, sie sind es jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod, erst recht. Schließlich wird bei Wagner-Opern ja auch nicht laufend auf den teilweise durchaus problematischen weltanschaulichen Hintergrund hingewiesen, sondern man konzentriert sich auf die Qualität des akustisch und optisch Gebotenen.
Doch gerade die Erkenntnis, dass Stockhausen nicht mehr ist, sorgte dafür, dass man den Ort des Geschehens – übrigens ein zum Abriss freigegebenes Fabrikgebäude – nicht ohne Wehmut verließ. Denn das musikalische Feuerwerk ließ einen schmerzlich spüren, wie groß die Lücke ist, die Stockhausen mit seinem Tod hinterlassen hat. Fast schien es, als seien die faszinierenden Klänge des „Mittwochs“ ein letzter Gruß des Komponisten aus den Tiefen jener Galaxien, in denen er stets seine wahre Heimat gesehen hat. Die Erde dagegen nahm er immer nur als einen Bewährungsplaneten wahr, auf dem alles einer fast unerträglichen Begrenzung unterworfen ist. Diese Begrenzung wenigstens ansatzweise aufzubrechen, ist Stockhausen mit dem „Mittwoch“ ebenso gelungen wie der Oper Birmingham mit der Umsetzung dieses Werks.
Christian Ruch, Chur/Schweiz