Karlheinz Stockhausens Spätwerk KLANG - die Vertonung eines „Sektenbuchs“?
(Letzter Bericht 2/2008, 73ff) Als der Komponist Karlheinz Stockhausen (1928-2007) vor rund zweieinhalb Jahren starb, hinterließ er sein letztes großes Werk, den Zyklus „KLANG – Die 24 Stunden des Tages“, unvollendet. Die Teile bzw. Stunden 22 bis 24 konnte der Komponist nicht mehr fertigstellen. Trotzdem wurden die vorliegenden Werke, also die 1. bis 21. Stunde, im Mai 2010 bei der Kölner MusikTriennale erstmals in ihrer Gesamtheit aufgeführt. Dabei bot KLANG, wie schon der zwischen 1977 und 2003 hervorgebrachte Opernzyklus „LICHT – Die sieben Tage der Woche“, auch einen interessanten Einblick in den synkretistischen Glaubenskosmos Stockhausens, der sich ab ungefähr Ende der 1960er Jahre vom frommen rheinischen Katholiken zu einem an verschiedensten Traditionen orientierten Künstler entwickelte.
Die ersten beiden Teile und Stunden mit den Titeln HIMMELFAHRT (vgl. MD 7/2005, 274) und FREUDE stützen sich in ihren Libretti auf eine im weitesten Sinne christliche Tradition. Für FREUDE – eine beeindruckende Komposition für zwei Harfen und Gesang – verwandte Stockhausen den Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“, und ursprünglich sollte das Werk sogar den Titel PFINGSTEN tragen. Geradezu rührend ist die „HIMMELS-TÜR“ betitelte vierte Stunde: Ein Percussionist trommelt mit großer Virtuosität gegen eine hölzerne Pforte, die ihn erst einlässt, als er sie bis zur Erschöpfung mit seinen Schlägen bearbeitet hat. Ihm folgt ein kleines Mädchen, das wesentlich müheloser, aber auch neugierig und vorsichtig ebenfalls durch die Himmelspforte schlüpft. Die KLANG-Teile bzw. -Stunden drei bis zwölf sind weitgehend rein instrumentale Kompositionen und insgesamt kann man wohl sagen, dass die ersten zwölf Kompositionen zum gefälligeren Teil des Zyklus gehören.
Eine echte Herausforderung für die Ohren ist dagegen COSMIC PULSES (13. Stunde), eine enorm komplexe, aber auch faszinierende Komposition für elektronische Musik, die Stockhausens Anspruch, das Ungehörte und Unerhörte hörbar zu machen, zweifellos erfüllt. Schwere Kost sind dann auch die Stunden 14 bis 21, denn sie bauen auf den Klangschichten von COSMIC PULSES auf, befremden aber sicher auch durch ihre Titel und Gesangslibretti. Diese Teile heißen HAVONA, ORVONTON, UVERSA, NEBADON, JERUSEM, URANTIA, EDENTIA und PARADIES, mit Ausnahme des letzteren wohl für viele Konzertbesucher völlig unbekannte Wortkreationen. Sie stammen aus dem „Urantia-Buch“, einer Kosmologie, die von höheren Wesen übermittelt worden sein soll und 1955 in Chicago erstmals veröffentlicht wurde (vgl. MD 9/2006, 341-350). Havona, Orvonton, Uversa, Nebadon, Jerusem und Edentia sind Namen von im Urantia-Buch näher beschriebenen Universen und Himmelssphären, Urantia dagegen ist der Name der Erde.
Es fällt auf, dass vor allem Musiker immer wieder vom inhaltlich sehr komplexen bis nahezu unverständlichen Urantia-Buch begeistert und inspiriert gewesen sind. Zu ihnen zählen z. B. Elvis Presley, Jimmy Hendrix, Janis Joplin, Jerry Garcia von der Gruppe „Grateful Dead“ sowie die Band „The Moody Blues“ und die Jazzrock-Formation „Weather Report“. Letztere nannte eine ihrer Kompositionen ebenfalls „Havona“. Karlheinz Stockhausen hatte das Buch Anfang der 1970er Jahre während einer Tournee in den USA kennengelernt, aber erst mit Beginn der Arbeiten an LICHT in sein Werk einfließen lassen. Die Begeisterung des Komponisten für das Buch wurde von der Musikwissenschaft lange nicht thematisiert – sei es, weil man den Meister vor noch größerer Häme schützen wollte, sei es, weil diese wichtige Quelle für das Schaffen des Komponisten entweder nicht ernst oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen wurde. Dies hat sich mittlerweile geändert. Stockhausen selbst hat sich öffentlich nie sehr ausführlich zum Urantia-Buch geäußert. Im privaten Gespräch sagte er 1999, er habe längst nicht das ganze, über 2000 Seiten starke Werk gelesen, doch das, was er gelesen habe, sei für ihn wahr. Dazu zählt vor allem die im Urantia-Buch thematisierte Rebellion Luzifers gegen Michael, die auch in LICHT eine wichtige Rolle spielt.
Jene KLANG-Teile, die sich explizit auf das Urantia-Buch beziehen, sind alle in Stockhausens letztem Lebensjahr, also 2007, entstanden. Möglicherweise hat der Komponist zuvor so etwas wie eine Relecture des Buchs betrieben, liegt es doch seit 2005 erstmals auf Deutsch vor (mittlerweile ist bereits die zweite Auflage im Handel). Diese deutsche Version hat Stockhausen auch öfters verschenkt, wobei er zum Verfasser dieser Zeilen wenige Monate vor seinem Tod meinte: „Ich erzähle jetzt vielen Leuten, was ich im Jenseits so alles vorhabe. Die sind dann völlig fassungslos, und ich sag’ zu ihnen, ‚Ich geb’ Ihnen was zu lesen’.“
So kam es wohl, dass Stockhausen in KLANG kein Blatt vor den Mund nahm, sondern sich freimütig und vor allem wesentlich expliziter als noch in LICHT zu seinem Glauben an den Inhalt des Urantia-Buchs bekannte. Im Stück HAVONA singt der Bass etwa: „Gott – Deine Kinder streben Schritt für Schritt – von URANTIA zu JERUSEM in NEBADON – lernen weiter durch UVERSA – und das große ORVONTON – über EDENTIA bis zu HAVONA – und von HAVONA zum PARADIES ...“
Die Medienschaffenden reagierten erwartungsgemäß rat- und verständnislos, als sie anlässlich der Kölner KLANG-Aufführung (wohl zum ersten Mal) mit dem Urantia-Buch konfrontiert wurden. Jörn Florian Fuchs verwandte im „Deutschlandradio“ im Zusammenhang mit dem Urantia-Buch das Attribut „esoterisch“, Rainer Nonnenmann im „Kölner Stadt-Anzeiger“ sogar das Etikett „Sektenbuch“. Auf eine Wertung verzichten wollte dagegen wohl Olaf Weiden in der „Kölnischen Rundschau“, der allerdings schrieb, dass auf dem Urantia-Buch nach seinem erstmaligen Erscheinen in den USA „bald eine Glaubensgemeinschaft“ basiert habe (was so nicht stimmt, es gibt bisher nur lose organisierte Leservereinigungen). Das Publikum dagegen schien sich an all den unbekannten Namen und seltsamen Texten nicht sonderlich zu stören. Die zahlreichen Stockhausen-Fans unter den Zuhörern kennen eben „ihren“ Meister und sind seine nicht gerade mehrheitsfähige Spiritualität schon gewohnt – sie haben deshalb einfach die Musik und ein einmaliges Konzertereignis genossen.
Christian Ruch, Chur/Schweiz