Tom Bioly

„Kein gutes Buch“

Die Bibel aus Sicht eines Skeptikers

Im Februar 2013 wurde mit „The Skeptic’s Annotated Bible“ das Lebenswerk des US-Amerikaners Steve Wells1 in Buchform veröffentlicht.2 Es handelt sich dabei um das Ergebnis einer Fleißarbeit. Im Verlauf von nach eigenen Angaben über 20 Jahren hat der Autor die gesamte Bibel in der englischen King-James-Übersetzung unter verschiedenen Gesichtspunkten mit kritischen Anmerkungen versehen. Seine Überzeugung lautet: „Nur die wenigsten, die an die Bibel glauben, haben sie tatsächlich auch gelesen.“ Hätten sie sich nämlich durch diese lange, zähe und sich ständig wiederholende Lektüre gequält, wären sie angesichts all der Grausamkeiten, Widersprüche und falschen Prophezeiungen in ihrem Glauben aufs Heftigste erschüttert worden. In Wells’ Umgang mit der Bibel und seiner Haltung zum Glauben zeigen sich beispielhaft Wesensmerkmale der Religionskritik der „Neuen Atheisten“.

Der gedruckten Ausgabe ging bereits seit 1999 das gleichnamige Online-Projekt3 voraus, das seitdem besonders der anglo-amerikanischen Skeptiker-Szene als eine ihrer wichtigsten „Quellen“ zur Bibelkritik dient. Der Auftritt wurde später um nach dem gleichen Muster erarbeitete Durchsichten des Korans sowie des Buches Mormon erweitert. Obwohl man der Internetseite ihr Alter in technischer Hinsicht anmerkt, erweist sie sich durch ihre Übersichtlichkeit und die verschiedenen Suchmöglichkeiten nach Stichwort, Abschnitt oder Kategorie als praktikabel. Das zur Verfügung gestellte Diskussionsforum wird bis heute rege genutzt, was momentan angesichts der Buchveröffentlichung nicht überrascht.

Die ebenfalls schon länger erhältliche CD-Version zeugt zwar abermals vom Fleiß des Urhebers, erfreute sich aber im Zuge der schnellen Verbreitung des Internets nur spärlicher Popularität. Durch die jetzt erhältliche gedruckte Form dürfte sie langsam, aber sicher endgültig in der Versenkung verschwinden.

Noch 2008 hatte Wells über die Skepsis der Verlage geklagt, denen er sein Werk vorgelegt hatte.4 Es gab Vorbehalte gegenüber den hohen Produktionskosten sowie dem bis dahin nicht in Erscheinung getretenen Autor. So griff dieser schließlich zum Selbstverlag.

Hintergrund und Absicht

Der Verfasser gibt an, er sei selbst einmal Christ gewesen5, dann aber ausgerechnet durch umfassende Bibellektüre davon abgekommen. Einen Studienabschluss erlangte er in Botanik, Arbeit fand er als Industrie-Statistiker. Somit gesellt er sich in die Reihe der publizistisch tätigen „Neuen Atheisten“ aus dem (biologisch-)naturwissenschaftlichen Spektrum wie etwa Richard Dawkins oder Ulrich Kutschera. Bereits 2010 war von ihm „Drunk with Blood“6 erschienen. Darin nimmt er speziell die, wie er es formuliert, „biblischen Gewalttaten Gottes“ in den Blick und empört sich darüber.

Wells’ Absichten wirken an einigen Stellen inkonsistent: Einerseits betont er, nur Anregungen zu einer selbstständigen Auseinandersetzung mit der Bibel liefern zu wollen. Andererseits macht er von vornherein klar, dass man, objektiv (!) betrachtet, als vernünftiger Mensch nur zu dem Ergebnis kommen könne, diesem Buch mit Ablehnung zu begegnen. Für ihn steht fest: Die Bibel ist weder unfehlbar noch zur moralischen Orientierung geeignet, und der biblische Gott ist weder ein liebender noch ein friedlicher.7 Somit liegt sein konkretes Ziel darin, ein Gegengewicht zur „Bibelpropaganda“, wie er sie in den Vereinigten Staaten erlebt, zu etablieren. Die Skeptic’s Annotated Bible solle dementsprechend „Bibelgläubige“ oder Sympathisanten zu einem Umdenken bewegen. Außerdem wolle sie Religionskritikern weitere Argumente aufzeigen, um damit ihre Position festigen und verteidigen zu können.8 Erstaunlich bedeckt hält sich Wells damit, welchen Wert eine solche Gesinnung über ihren intellektuellen Selbstzweck hinaus birgt.

Zwei wichtigen Einwänden an seiner Methode kommt er (auf der Internet-Präsenz) zuvor.9 Dem Hinweis darauf, dass bei Weitem nicht alle Christen die Bibel wörtlich verstünden, hält er entgegen, man müsse sie auch nicht unbedingt wörtlich nehmen (was er selbst schließlich doch tut), aber zu allen Teilen gleichermaßen ernst. Tatsächlich hat diese Kritik an einem „Rosinenpicken“ durchaus ihre Berechtigung. Problematischer gestaltet es sich mit Blick auf Wells’ exegetische Qualifikationen. Darin, dass er ausschließlich die King-James-Übersetzung benutzt hat, sieht er selbst keinen Mangel, sei doch die Schlechtigkeit der Bibel ganz offensichtlich.10 Auch habe er sie in ihrer Gesamtheit sicher weit gründlicher gelesen als die meisten Christen. Damit hat er möglicherweise formal recht, er geht aber wiederum davon aus, dabei stets ein objektiver Betrachter gewesen zu sein.

Aufbau des Werks

Auf über 1500 Druckseiten arbeitet sich Wells durch die gesamte King-James-Übersetzung, auf einer Seitenhälfte jeweils der Bibeltext, auf der anderen seine Bemerkungen. Aus einigen biblischen Büchern, beispielsweise der Genesis oder den Großen Propheten, nimmt er sich fast jeden Vers ganzer Kapitel (gelegentlich zusammenfassend) vor. Dagegen finden sich zum Beispiel bei den Kleinen Propheten manchmal nur ein bis zwei Anmerkungen pro Kapitel.

Was die Kommentare der Skeptic’s Annotated Bible ausmacht, ist ihre Strukturierung in 14 unterschiedlichste Kategorien. Dazu gehören neben zu erwartenden wie „Gewalt“, „Ungerechtigkeit“ oder „Widersprüche“ auch höchst subjektive wie „Absurdität“, „unreine Sprache“ oder „falsche Prophezeiungen“. Das wirft die Frage auf, ob Wells sich seiner Beanspruchung theologischer Deutungshoheit bewusst ist. Wie ein Zugeständnis wirkt zunächst die Kategorie „gutes Zeug“ („good stuff“). Auch diese dient jedoch in erster Linie dem Ziel, den vorgeblich geringen Anteil moralisch wertvoller Passagen am Gesamtwerk der Bibel sowie deren Inkonsistenz aufzuzeigen. Alle 14 Kategorien werden durch Symbole, mitunter Smileys, markiert. Sie bieten trotz ihres teilweisen Kitschs eine recht gute Orientierung, zumal auf die Farbenfreude der Online-Version verzichtet wurde.

Als Anhang werden auf den Seiten 1597 bis 1631 Übersichten zu allen mutmaßlichen biblischen Widersprüchen sowie „Gottes Tötungen“ mitgeliefert, Letztere greifen offenkundig auf „Drunk with Blood“ zurück.

Beispiele

In ihrem Streben nach „Vollständigkeit“ enthält die Skeptic’s Annotated Bible allerhand Offensichtliches, etwa den Verweis auf zwei unterschiedlich geartete Schöpfungsberichte (Gen 1-2). Exegetisch wird dies freilich schon seit langem ausführlich problematisiert und abgehandelt.

Ein Teil der angebrachten Kritik ist unter verschiedenen Gesichtspunkten selbst kritikwürdig. Vieles davon steht im Zusammenhang mit Wells’ wortwörtlichem Verständnis. So echauffiert er sich beispielsweise über den an keiner anderen Stelle gerügten Inzestvorfall Lots mit seinen Töchtern (Gen 19,30-38), ohne die offensichtliche Polemik gegen Moabiter und Ammoniter darin zu erkennen – den hier eigentlich fragwürdigen Gegenstand.

Bei genauem Hinsehen kann man allerdings auch Innovatives finden. Leider hat es diesbezüglich die vielleicht spannendste Kategorie nur noch auf die Website und nicht mehr ins Buch selbst geschafft, da sie erst im Zuge der US-Präsidentschaftswahlen 2012 entstand: „Politik“, womit hier Vereinnahmungen seitens konservativer US-Politiker gemeint sind. So zog unter anderen der republikanische Senator James Inhofe den nach der Sintflut bestimmten kontinuierlichen Verlauf der Natur (Gen 8,22) als Beweis gegen den Klimawandel heran.11

Sofern man die Bibel nicht als über jedwede Komik erhaben ansieht, bringen schließlich einige Formulierungen den Leser durchaus zum Schmunzeln. Dazu gehört der Kommentar zu den kultischen Anweisungen um Bundeslade und Stiftshütte (Ex 25-31): „Gott verschwendet sieben ganze Kapitel auf Anleitungen, wie man Tische, Vorhänge, Kerzen, Kerzenlöscher, Gürtel, Mützchen, Parfüm usw. basteln soll.“12

Wahrnehmung und Reaktionen

Die Veröffentlichung als Buch hat der Skeptic’s Annotated Bible erneut Aufmerksamkeit und Lob, vor allem von offensiv-atheistischer Seite beschert. Der „apokalyptische Reiter“ Sam Harris wirbt dafür13, und mit Peter Boghossian hat es ein bekennender atheistischer Missionar14 auf die Umschlagseite geschafft. Es wird sogar schon von ersten kleinen Verteilaktionen berichtet.15

Kritik ist ausdrücklich erwünscht. Dazu wurde zum einen das bereits erwähnte Forum eingerichtet, zum anderen werden christliche Reaktionen auf der Website verlinkt.16 Die meisten davon entstanden bereits vor Erscheinen des Buchs und reichen von Aufsätzen und Blogeinträgen bis zu ganzen Internetseiten17, die sich der Widerlegung von Behauptungen aus der Skeptic’s Annotated Bible widmen. Es lässt sich bereits erahnen, dass die Urheber dieser Gegenprojekte zumeist aus fundamentalistischen Kreisen stammen. So erschöpfen sich ihre Anstrengungen auch, wie Wells richtig bemerkt, hauptsächlich in der Glättung von Widersprüchen. Dabei argumentieren sie oft dogmatisch (indem z. B. die Mehrzahl „Elohim“ als Dreieinigkeit gedeutet wird) oder, was naturwissenschaftliche Kritik angeht, in altbekannten kreationistischen Mustern. Kurioserweise begegnen sich damit atheistische und fundamentalistisch-christliche Deutung in Bezug auf ihr wörtliches und unhistorisches Verständnis. Um sich aber mit Teilen der Bibel, die aus heutiger Sicht tatsächlich moralisch befremdlich erscheinen, kritisch auseinanderzusetzen, erweist sich diese Methode nicht als sonderlich hilfreich. In welchem Maße die geführten Diskussionen in eine Überarbeitung der Skeptic’s Annotated Bible einfließen, lässt sich nicht erkennen.

Überdies kann man bisher den Einfluss des Werks auf das religionskritische Spektrum im deutschsprachigen Raum nur erahnen. Eine Übersetzung wird es wohl aus drei Gründen nicht geben: Zunächst wäre der Aufwand enorm, zweitens erwiese sich Wells’ Fixierung auf die King-James-Übersetzung als Schwierigkeit, und schließlich ist das Englische mittlerweile keine allzu große Verständnisbarriere mehr. Die Wirkung dürfte also insgesamt mit Blick auf die gemeinhin starke Rezeption anglo-amerikanischer Literatur und Vorbilder nicht zu unterschätzen sein.

Abschließende Überlegungen

Aus theologischer Sicht ist der undifferenzierte, unhistorische und literalistische Umgang Steve Wells’ mit der Bibel gewiss zurückzuweisen. Man sollte jedoch vorsichtig damit sein, das Projekt deswegen vorschnell als unnützes Machwerk abzutun, allein schon aufgrund seiner Bedeutung innerhalb der religionskritischen Szene.

Würdigung verdient es darüber hinaus für das Verdienst, überhaupt erst einmal einen Beitrag zur Bibelkenntnis in religionsdistanzierten Milieus zu leisten. Auch darf nicht aus dem Blick geraten, wie wichtig eine grundsätzliche Kritik an wortwörtlichem Biblizismus allgemein und besonders in den Vereinigten Staaten ist, wo noch immer rund ein Drittel der Bevölkerung diesem Verständnis anhängt.18

Das kann freilich Wells’ mitunter ungenaues Arbeiten zugunsten der Quantität nicht vollständig aufwiegen. Am heftigsten zu beanstanden ist neben der nicht einhaltbaren Vorgabe eines objektiven Standpunktes, dass der Autor zwei wesentliche Vorurteile zementiert: erstens die Annahme, nur eine wörtliche Auslegung der gesamten Bibel sei eine ernst zu nehmende; zweitens die überhebliche Überzeugung, Glaube könne nur durch unzureichende Kenntnis oder eben einen Mangel an Vernunft zustande kommen.

Der vielleicht größte Erkenntnisgewinn aus der Lektüre des Buches – oder bereits aus einem Blick auf die Internetseite – kann für Christinnen und Christen darin liegen, Einsichten in die Fremdwahrnehmung der eigenen religiösen Grundlagenschrift zu erhalten. Wells’ Argumentation gegen die Bibel dürfte weitgehend repräsentativ für viele Religionskritiker auch hierzulande sein. Ein Bewusstsein darüber, woran genau jene Anstoß nehmen und welche Konsequenzen sie daraus ziehen, scheint mir in zweierlei Hinsicht wertvoll: sowohl für fruchtbare Gespräche mit Vertretern dieser Auffassung als auch für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben.


Tom Bioly


Anmerkungen

1 Nicht zu verwechseln mit dem 2009 verstorbenen britischen Journalisten und Künstler Steven Wells.

2 Steve Wells, The Skeptic’s Annotated Bible, Moscow (Illinois) 2013.

3 www.skepticsannotatedbible.com.

4  Vgl. www.nexuszine.wordpress.com/2008/09/10/interview-steve-wells-from-the-skeptics-annotated-bible .

5 Er habe sogar ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, katholischer Priester zu werden. Vgl. ebd.

6 Mittlerweile in zweiter Auflage: Steve Wells, Drunk with Blood. God’s killings in the Bible. Moscow (Illinois) 2013.

7 Vgl. Steve Wells, Einleitung zur Skeptic’s Annotated Bible.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. im Folgenden www.skepticsannotatedbible.com/faq

10 Wozu er zum Vergleich Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ heranzieht, das mittlerweile für alle möglichen Positionen vereinnahmt wird.

11 Vgl. www.rightwingwatch.org/content/james-inhofe-says-bible-refutes-climate-change.

12 Nach Steve Wells, The Skeptic’s Annotated Bible, 110.

13 U. a. auf seiner Facebook-Präsenz: www.facebook.com/pages/Sam-Harris/22457171014

14 Siehe z. B. Peter Boghossian, A Manual for Creating Atheists, Charlottesville (Virginia) 2013. Diese „Anleitung“ war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes zwar noch nicht veröffentlicht, Titel und Ankündigung sprechen aber bereits für sich.

15 Vgl. www.onlineathens.com/local-news/2013-08-14/atheist-texts-delivered-georgia-state-parks.

16 Vgl. www.skepticsannotatedbible.com/christian.

17 Siehe z. B. www.berenddeboer.net/sab/index, wo als Ergebnis ebenfalls jahrelanger Arbeit jede einzelne Anmerkung der Skeptic’s Annotated Bible zu entkräften versucht wird.

18 Vgl. z. B. www.gallup.com/poll/148427/say-bible-literally.