Roland Kurz

Kein Platz für Zwischentöne

Die Traktatmission von Jack T. Chick

Am 23. Oktober 2016 verstarb Jack Thomas Chick (geb. 1924). Nach eigener Aussage war er 1948 durch den evangelikalen Radioprediger Charles E. Fuller bekehrt worden1 und hatte durch ihn seine Pflicht zur Mission erkannt. Er entschloss sich, diese als Literaturmission in Form von leicht lesbaren Comicstrips zu erfüllen, und gründete die Traktatmission „Chick Publications“ mit Sitz in Ontario, Kalifornien. Seit 1964 werden Traktatcomics in 141 Sprachen veröffentlicht. Ende 2016 wurde vonseiten der Chick Publications ein Nachruf auf ihren Gründer in Form von Videoclips veröffentlicht.

Seit spätestens 1985 existiert ein Vertrieb in Deutschland (Chick Gospel Literatur), der seit dem Jahr 2000 den Internetauftritt www.chick-gospel.de betreibt. Seit einiger Zeit werden auch kostenlose Apps für Smart- und I-Phones bereitgestellt. Ende 2016 waren 57 verschiedene Traktate in deutscher Sprache zum Stückpreis von 19 Cent lieferbar. Bestellbare und vergriffene Traktate können kostenlos online gelesen werden. Auf www.chick.com, der Internetseite von Chick Publications, finden sich mehrsprachige Onlineausgaben der Traktate, ebenso ein Glaubensbekenntnis und weitere Aussagen über Glauben und Bibel. Neben der englischen existieren auch eine spanische und eine chinesische Version dieses Internetauftritts.

Unter den heutigen Autoren von Chick Publications nimmt David W. Daniels eine Sonderstellung ein. Er tritt in eigens für YouTube gedrehten Videos als Kritiker der katholischen Kirche auf und scheint das neue Gesicht von Chick Publications zu werden. 1987 hat er nach eigener Aussage sein Studium am evangelikalen Fuller Theological Seminary mit dem Master of Divinity abgeschlossen.

Viele Jahre hatte Alberto Rivera (1935 – 1997) die antikatholische Ausrichtung von Chick Publications maßgeblich bestimmt, die weit über das unter amerikanischen Fundamentalisten übliche Maß hinausgeht. Nach eigenen (nirgendwo bestätigten) Angaben war Rivera früher Jesuitenpriester. Als Spion horchte er nichtkatholische Gemeinden und Bibelschulen aus, um dem Orden Material zuzuspielen. 1965 brach er radikal mit dem Katholizismus, vor welchem er seitdem warnte. Vorträge von ihm sind auf der Homepage von Chick Publications abrufbar.

Die Traktate und ihre Botschaft

Die 24-seitigen Traktate sind nur 12,7 mal 7,2 cm groß (Querformat) und durchgehend als Schwarz-Weiß-Comics gehalten. Grundsätzlich erzählen sie die Geschichte einer Hauptperson, die irgendwann aufgefordert wird, sich zu Christus zu bekennen, um nicht in die Hölle zu kommen. Lehnt sie dieses einmalige Rettungsangebot ab, wird sie keine weitere Chance zur Umkehr erhalten und verfällt Satan.

Die Seite 23 ist in allen Ausgaben fast identisch: Ausgehend von der These, die Bibel weise den Weg zum Himmel (begründet mit Joh 14,6), wird der Leser aufgefordert, Christus als seinen Heiland anzuerkennen. Dazu sind vier Schritte nötig (Bekenntnis der Sünde, Reue, Bekenntnis zum stellvertretenden Kreuzestod Christi, Bitte um Rettung).2 Diese werden anschließend in einem vorformulierten Gebet zusammengefasst.

Dann beginnt ein neues Leben, das mit klaren Handlungsanweisungen verbunden ist: tägliche Bibellektüre und Gebet, Gemeinschaft in einer Versammlung, in der die Bibel vollständig als Gottes Wort gilt und die oberste Autorität ist. Anschließend soll man sich „entsprechend dem Gebot taufen lassen“ und missionieren, angeleitet durch das bei Chick Publications käuflich zu erwerbende Buch „Der nächste Schritt“. Daraus lässt sich Chicks Taufverständnis rekonstruieren: „Getauft“ wird der Mensch in dem Moment seiner Erweckung, wenn er also Christus als persönlichen Erlöser empfängt und der Heilige Geist den Täufling „geistlich beerdigt“ und wiedergeboren hat.

Nach Auffassung von Chick Publications geben lediglich die in einer von Erasmus von Rotterdam redigierten Sammlung neutestamentlicher Schriften (Textus Receptus)3 enthaltenen Texte das bewahrte Wort Gottes wieder. Da sich die englischsprachige4 King-James-Bibel (KJV) von 1611 auf diese Quelle und auf den von den Leviten bewahrten Text des Alten Testaments stütze, sei sie die einzig gültige und verbalinspirierte Quelle des Wortes Gottes. Durchgehend untermauern die Traktate ihre Aussagen mit passenden Bibelstellen. Schriftzitate, die Chicks Thesen infrage stellen könnten, werden ignoriert. Die neuere Forschung zu den biblischen Texten wird ebenfalls ignoriert.

Israel und die katholische Kirche

Chick stellt die Geschichte der Menschheit als andauernden Kampf zwischen Gott und Satan dar, beginnend mit Adam bis zum Jüngsten Tag, an dem Christus sein Königreich etablieren wird. Israel und der katholischen Kirche weist Chick dabei besondere Rollen zu.

Als Reaktion auf Satans Herrschaft über die Völker der Welt habe Gott Israel zum Licht für alle Nationen erwählt. Der Untergang aller Reiche, die sich gegen das jüdische Volk wandten (das Ägypten der Pharaonen, Römisches Reich, Drittes Reich, British Empire) bzw. Dürrekatastrophen in nordafrikanischen Ländern, die ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen haben, beweisen für Chick, dass Segen und Fluch5 bis heute wirksam sind. Er erwartet einen Dritten Weltkrieg, in dem Russland – für Chick das biblische Magog – zerstört werde, sobald es sich gegen Israel wende. Dieser Krieg erfülle die Endzeitvision der Offenbarung, die Schlacht von Harmageddon (Offb 16,16).

Für die Verfolgung und das jahrhundertelange Leben in der Diaspora sieht Chick die Verantwortung beim jüdischen Volk selbst: „Israel forgot God, ignored His laws and did evil. So God gave them over to their enemies … They rebelled against God’s laws and were scattered across the world. They became known as the ‚Wandering Jew‘.“6

Spätestens hier verschränkt sich Chicks Israelbild mit seiner Sicht der katholischen Kirche. Geprägt von Riveras (s. o.) Antikatholizismus vertritt er die These, Satan bediene sich der katholischen Kirche für seinen Kampf gegen Gott. Dabei sei diese Kirche in Wahrheit ein Abbild der schon im Alten Testament bekämpften altbabylonischen Religion, was der Marienkult belege. Dieser kopiere die Verehrung der Muttergöttin Semiramis und ihres Babys durch die Babylonier.

In ihrem Kampf gegen Gott habe die von Satan gelenkte katholische Kirche wiederum den Islam (quasi als „Werkzeug des Werkzeugs“) für sich rekrutiert, indem sie seit Augustins Zeiten Spione nach Arabien entsandte, um die Ankunft eines großen Anführers vorherzusagen. Mohammed war folglich eine Marionette Satans, um einerseits jene Araber zu kontrollieren, die sich nicht zum Katholizismus bekannten, und andererseits Juden und nordafrikanische Christen zu vernichten, die sich dem Katholizismus verweigerten.

Allerdings zerbrach diese Allianz nach Mohammeds Tod. Zwar eroberten die Muslime Afrika planmäßig und töteten Juden wie (nicht römisch-katholische) Christen, jedoch strebten sie nun selbst die Weltherrschaft an, woran die Kreuzzüge sie hindern sollten. Jahrhunderte später hätten Konkordate die Einflusssphären (Türkei an Muslime, Libanon an Vatikan) zwischen Rom und „dem Islam“ aufgeteilt, das ursprüngliche Ziel, Juden und nichtkatholische Christen zu vernichten, wurde so weiterverfolgt. In diesem Sinne ermächtigte das Konkordat von 1933 Hitler zur Judenvernichtung, wobei die Gestapo eine von Dominikanermönchen unterwanderte Organisation der Jesuiten war.7 Aktuell versuche der Vatikan mit einer neuen Inquisition, die USA zu katholisieren.

Trotz ihrer Sonderstellung müssten auch Juden missioniert werden, um nicht – wie alle, die sich nicht zu Christus bekennen – in die Hölle zu kommen. Da „Chick sei Dank“ inzwischen bekannt sei, dass nur die (satanische) katholische Kirche und ihre Handlanger Juden verfolgt hätten, aber niemals wahre Christen, gebe es nun für Juden keinen Grund mehr, Jesus Christus nicht als den Messias anzuerkennen.8 Damit verändert sich deren Rolle: Die Funktion des erwählten „Lichts für alle“ müssen sie an die wahren Christen, die Traktatmissionare, abtreten, werden also vom Lichtträger zum Missionsobjekt zurückgestuft.

Einschätzungen

Chicks zahlreiche Aussagen wurzeln in der antimodernistischen Ausrichtung des amerikanischen Fundamentalismus.9 Seine Weltanschauung ist streng dualistisch. Die Geschichte ist als globaler und zielgerichteter Kampf zwischen Gott und Satan zu deuten, der zur apokalyptischen Scheidung der Menschheit in Reich Gottes und Hölle führen wird. Bis dahin stehen sich ein ständig bedrohter „gläubiger Rest“ – zunächst Israel und nichtkatholische Christen, dann ergänzt und abgelöst durch Traktatmissionare – und eine „hurerische Welteinheitskirche“10 gegenüber. Diese bildet sich aus der katholischen Kirche, die aus der heidnischen babylonischen Religion hervorging, und allen von der katholischen Kirche unterwanderten und instrumentalisierten Konfessionen, Religionen (u. a. Islam) und Institutionen. Im Rahmen dieser Weltgeschichte wird der einzelne Mensch, so die meisten der Traktatgeschichten, durch persönliche Ansprache von Vertretern beider Gruppen aufgefordert, sich zu entscheiden. Seiner Entscheidung entsprechend wird er gerettet oder verfällt der Hölle.

Der Dualismus ist mit verschwörungstheoretischen Überlegungen verbunden. Die römisch-katholische Kirche wird als mächtiges teuflisches Werkzeug dargestellt, das global agiert und intrigiert. Chicks Weltanschauung verhindert jede Kritik. Nachfragen kommen entweder von Unwissenden, die überzeugt werden können, oder von verdeckten feindlichen Spitzeln, die zu enttarnen und zu bekämpfen sind. Für Zwischentöne ist kein Platz, da es immer ums Ganze, um Himmel oder Hölle, geht.

Auch wenn die Bibel als verbalinspirierte Quelle und irrtumsfreie Norm gelten soll, wird sie lediglich als „Steinbruch“ verwendet: Texte werden oft unabhängig von ihrem biblischen Kontext zitiert, biblische Aussagen, die die eigene Anschauung zumindest infrage stellen können, durchgehend ignoriert. Durch diese Vorgehensweise, verbunden mit aggressiver Rhetorik, wird die auf Befreiung und Angstüberwindung zielende christliche Botschaft in überaus fragwürdiger Weise verkehrt.

Das in den Chick Publications vertretene Taufverständnis erinnert zwar an evangelikal geprägte Freikirchen und deren Betonung der Bekehrung, wie auch das Glaubensbekenntnis (statement of faith) und die Berufung auf die Bibel. Die „Theologie“ der Traktatmisson kann aber weder als freikirchlich noch als evangelikal bezeichnet werden. Die in jedem Traktat geforderte Verbindung mit einer Gemeinschaft, die die Bibel als unhinterfragbar, da verbalinspiriert, anerkennt, bleibt daher – mangels Ansprechpartnern – unkonkret. Weder werden solche Gemeinschaften benannt, noch werben (Frei-)Kirchen und größere Missionsgemeinschaften mit Chicks Traktaten. Lediglich Exoten wie Ingo Breuers Internetauftritt www.gutebotschaft.com oder www.mission-fuer-jesus.de verweisen auf die Traktate – wobei hier vermutet werden kann, dass sie Chicks aggressive Ideologie kaum kennen und sich von der ansprechenden Comicform blenden lassen.

Den klassischen Traditionen der Traktatschriften (Gemeinschaftsbewegung, Brüderbewegung, Pfingstbewegung)11 können die Chick Publications nicht zugeordnet werden, da weder eine Glaubensgemeinschaft als Wurzel erkennbar ist noch eine Gemeinschaftsgründung bzw. Vertiefung einer bestehenden Gemeinschaft angestrebt wird. Chick Publications ist ein einzelgängerisches, streng hierarchisches Verkündigungsunternehmen, das zunehmend auf neue Medien setzt und das den Kontakt zu konkreten christlichen Kirchen und Gemeinschaften weitgehend verloren hat.

In der Auseinandersetzung mit Chicks Ideologie lohnt es sich, die weitgehend nachweisfreie Argumentation von Chick Publications und die fragwürdige Verabsolutierung einer englischsprachigen Bibelausgabe zu thematisieren: Chick Publications preist Meinungen und Hypothesen als Tatsachen an und baut dabei auf Angstszenarien und die Aufforderung, Dinge unreflektiert zu glauben. Und was nicht passt, wird zur Not auch realitätsunabhängig passend gemacht. So gesehen können die Verantwortlichen der Traktatmission als Propheten jenes postfaktischen Denkens und Argumentierens gesehen werden, das bedauerlicherweise immer stärker um sich greift. Mit einer authentischen christlichen Mission haben die ideologisch überfrachteten Traktate nichts zu tun.


Roland Kurz


Anmerkungen

  1. Die Sendung des evangelikalen Radiopredigers wurde ab 1937 in den USA landesweit ausgestrahlt. Fuller war neben Walter A. Maier der Radioprediger mit den größten Reichweiten (vgl. Hansjörg Biener: Christliche Rundfunksender weltweit, Stuttgart 1994, 51).
  2. Die Schritte entsprechen den „vier geistlichen Gesetzen“ Bill Brights, des Gründers von „Campus Crusade for Christ“ (vgl. dazu Hansjörg Biener: Massenmedien für Christus, München 1997, 35).
  3. Eine von Erasmus von Rotterdam redigierte Textsammlung neutestamentlicher Schriften, auf die die meisten Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts zurückgehen.
  4. Übersetzungen in andere Sprachen sind für Chick irrelevant; Gott habe die engl. Sprache auserwählt.
  5. „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen“ (Gen 12,3, ähnlich 27,29).
  6. Jack T. Chick: Somebody Angry?, 2008, 11f.
  7. Vgl. Jack T. Chick: Holocaust, 1984, 5.
  8. Vgl. ebd., v. a. 22f.
  9. Vgl. Matthias Pöhlmann/Christine Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, hg. im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Gütersloh 2015, 249f.
  10. Biener: Massenmedien für Christus (s. Fußnote 2), 38.
  11. Vgl. ebd., 68.