Kein Teil der Welt (Roman)
Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 432 Seiten, 22,00 Euro.
„Oben an der Decke flog eine winzige Motte gegen die Neonröhren, sie raste ins Licht, immer und immer wieder, prallte ab und fiel irgendwann tot auf uns herab.“ Nach ihrem Romandebüt „Tigermilch“ erzählt Stefanie de Velasco mit ihrem neuen Roman die Geschichte von Esther, die kurz nach der Wende mit ihren Eltern unfreiwillig nach Ostdeutschland, der ursprünglichen Heimat ihres Vaters, zieht, um dort für „Jehova Menschen zu fischen“. Wie die Autorin selbst wächst auch Esther in einer Familie von Jehovas Zeugen auf: gottkonformes Verhalten, extensives „Bibelstudium“, das sie zu wissensakrobatischen Höchstleistungen treibt (Bibelwissen abfragen zählt zu den Lieblingsbeschäftigungen am familiären Abendtisch), kaum Kontakte zu den „Weltmenschen“, kein weltliches Engagement, und überall im Hintergrund lauert der große Verführer Satan, der verhindern will, dass man am Tag des Weltuntergangs (Harmagedon) auf der richtigen Seite steht.
Die Fassade der vermeintlich heiligen und reinen Welt, in der Esther sich fragt, „ob Mutter jemals einen Milchfleck auf ihrer Kleidung hatte“, beginnt mit Sulamith, der besten Freundin von Esther, zu bröckeln. Sulamith, die mit ihrer Mutter aus Rumänien floh und im Ankunftslager von Jehovas Zeugen angeworben und versorgt wurde, verliebt sich in den „Weltmenschen“ Daniel und übernimmt somit die Rolle der Aussteigerin, die durch eine Beziehung zu einem Nicht-Zeugen ihren Anfang nimmt. „Wie war es möglich, dass ein Weltmensch wie Daniel glücklich war, obwohl er im Reich Satans lebte?“
Sulamiths tragisches Ende, kurz vor dem Umzug der Familie in die ehemalige DDR, ist Esthers Anfang ihrer eigenen Entfremdung von der pseudoidealen Welt der Zeugen. Die Saat, die Sulamiths kritische Nachfragen in Esthers heile Welt legte, beginnt aufzugehen. Anschaulich legt die Autorin frei, wie schwierig es sich für Esther darstellt, den Rissen in der bis dato sicher geglaubten Welt nachzugehen, sie auszuweiten und es zu wagen, durch sie hindurchzublicken. Die Gewissensbisse, die sie immer wieder in ihre vertrauten Gewohnheiten zurückfallen lassen, speisen sich aus der Angst, ihre Neugierde auf ein Außerhalb sei letztlich das Werk satanischer oder dämonischer Einflüsse. Noch schwerer wiegt indessen der drohende Gemeinschaftsentzug, der wie ein Damoklesschwert über allem hängt. Aus der Beratungsarbeit mit ehemaligen Mitgliedern von Jehovas Zeugen weiß man, dass dieser Faktor enorme Bindekräfte nach innen besitzt, besonders für diejenigen, die die Glaubensansichten längst nicht mehr teilen, aber dennoch unfähig sind, ihre sozialen Bindestrukturen zu verlassen. De Velasco ermöglicht ihrer Protagonistin schließlich den Ausstieg über ihren Onkel, einen ehemaligen Zeugen, und über eine Schulfreundin, die sie vorerst bei sich aufnimmt.
Was de Velascos Roman lesenswert macht, ist die Art und Weise, wie es ihr gelingt, beide Seiten, also die Außen- und die Innenperspektive, jeweils für sich sprechen zu lassen. Man hat als Leser nie den Eindruck, hier wolle jemand pauschale Schwarz-Weiß-Malerei betreiben, indem die „böse Sekte“ auf der einen Seite gegen die „gute Welt“ auf der anderen Seite ausgespielt würde. So gelingt es der Autorin, die Leserinnen und Leser in die Abläufe und Gespräche der Gemeinschaft mit hineinzunehmen und ihnen zu verstehen zu geben, weshalb die Gemeinschaft letztlich einen gutgemeinten Totalitarismus darstellt. Der Verweis auf die höhere Wahrheit, der man sich zu unterwerfen habe, macht in dieser Konsequenz vieles möglich.
Die Mutter, von de Velasco wunderbar als stramme Ideologin gezeichnet, ist liebevoll und fürsorglich – aber eben nur, solange sich das Verhalten doktrinkonform zeigt. Die Darstellung der Mutter erinnert stark an die Figur Elizabeth Jennings aus der amerikanischen Erfolgsserie „The Americans“, die eine stramme kommunistische Ideologin verkörpert, aber gleichzeitig eine liebevolle Mutter ist. Wie der Zuschauer schwankt auch der Leser in „Kein Teil der Welt“ zwischen Sympathie und Ablehnung gegenüber der liebevollen und gleichzeitig totalitär verbohrten Mutter. Cola, ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das sich in Ostdeutschland der Gemeinschaft annähert, beteuert Esther gegenüber einmal, dass ihre Mutter sie wirklich liebe, und Esther antwortet: „Es ist keine Liebe.“
Hier liegt de Velascos Kerngedanke, der schließlich jenseits aller Ambivalenzen und Grautöne doch einen sittlichen Maßstab markiert, dem Jehovas Zeugen letztlich nicht gerecht werden können. Die einzige Wahrheit für Esther bestand in der Freundschaft zu Sulamith. Nur innerhalb dieser einen Freundschaft war sie so anerkannt, wie sie war; unabhängig davon, dass sie mit ihr zahlreiche Kämpfe und Streitereien ausgefochten hat. Alles andere – außerhalb jener echten Freundschaft – bleibt für Esther letztendlich als perfekt orchestriertes tragisches Theaterstück, in dem sie „halb Kind, halb alte Frau“ ist, zurück. Tragisch deshalb, weil Jehovas Zeugen davon überzeugt sind, Gutes zu tun. Tragisch auch, weil, unter ideologischen Voraussetzungen, soziale und materielle Sicherheit dort durchaus gewährleistet wird.
Es verwundert nicht, dass Esther am Ende den Glauben und die biblischen Geschichten unter diesen Vorzeichen ablehnen muss, um von ihrem Gott loszukommen, der ihr Leben zerstört, weil seine Wahrheit statt frei unfrei macht. Schließlich bleibt Sulamiths Frage als metaphysischer Stachel zurück, auf den Esther keine Antwort (mehr) hat: „Wir sind wie Öfen …, wir brennen, aber wofür?“ Bei Esther hinterließ die Antwort der Zeugen eine „versalzene Seele“.
De Velascos Roman gibt einen behutsamen Einblick in die inneren Abläufe bei Jehovas Zeugen. Gerade dadurch gelingt es ihr besonders gut, die totalitären Gefahren, die sich häufig unbewusst hinter guten Absichten verbergen, plastisch herauszuarbeiten.
Johannes Lorenz, Frankfurt a. M., 01.01.2021