Kinder aus Polygamisten-Sekte befreit
(Letzter Bericht: 11/2007, 428f, vgl. auch 7/2006, 273f) Im April 2008 hat die Polizei im US-Bundesstaat Texas in einer mehrtägigen Aktion die Ranch einer Polygamisten-Sekte gestürmt und mehrere hundert Frauen und Mädchen befreit. Die Polizei-Razzia wurde durch den anonymen Anruf einer 16-Jährigen von der Ranch ausgelöst, die von Zwangsheirat, Vergewaltigung, Misshandlungen und Polygamie berichtete. Die Betroffenen lebten in einer entlegenen Kolonie der „Fundamentalist Church of Latter-Day Saints“, einer Splittergruppe der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (Mormonen). Der Anführer dieser fundamentalistischen Abspaltung der Mormonen, Warren Jeffs, der von seinen Anhängern als Prophet betrachtet wird, hatte die große texanische Ranch im Jahr 2003 erworben, um dort seine treuesten Anhänger speziell zu schulen. Jeffs, der bis zu seiner Festnahme zu den zehn meistgesuchten Verbrechern der USA gehörte, wurde aber im Jahr 2006 gefasst und im vergangenen Jahr unter anderem wegen Beihilfe zu Vergewaltigung zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt.
In dem zeitnah angesetzten Sorgerechtsprozess hat nun der Bundesstaat Texas das Sorgerecht für 416 Kinder übernommen. Die zuständige Kinderschutzbehörde konnte sich schnell mit dem Argument durchsetzen, dass die Kinder in ihrem bisherigen gesellschaftlichen Umfeld sexuellem Missbrauch und Zwangsheirat ausgesetzt seien. Die Ermittlungen gestalteten sich jedoch schwierig, weil viele Kinder niemandem außerhalb der Sekte vertrauten. Manche gaben wechselnde Auskünfte über ihr Alter und ihren Namen, andere weigerten sich, Angaben über ihre Eltern zu machen. Eine unbekannte Zahl weiblicher Sektenmitglieder kehrte auch wieder auf die Ranch zurück. Betroffene und Experten bestätigen, dass die Behandlung und Therapie von Sektengeschädigten langwierig ist und eine hohe religionswissenschaftliche und psychotherapeutische Kompetenz erfordern.1
Nach Angaben von Experten hat die „Fundamentalist Church of Latter-Day Saints“ rund 10 000 Anhänger, von denen die meisten an der Grenze zwischen den US-Staaten Utah und Arizona leben. Sie hatte sich von der offiziellen Mormonen-Kirche getrennt, nachdem diese 1890 die Polygamie aufgegeben hatte.2
Michael Utsch
Anmerkungen
1 Siehe D. Layton, Selbstmord im Paradies. Innenansichten einer Sekte, Frankfurt 2008 (über Jim Jones’ Volkstempel-Sekte); K. Jones, Nicht ohne meine Schwestern. Gefangen und missbraucht in einer Sekte, Bergisch Gladbach 2008 (über David Bergs Kinder Gottes); A. Deikman, Them and Us: Cult Thinking and the Terrorist Threat, Berkeley 2003 (psychologische Analyse); vgl. auch H. Freund, „Colonia Dignidad“. Der Öffnungsprozess einer „geschlossenen Gemeinschaft“, in: MD 5/2008, 180-185.
2 Die Polygamie war unter anderem deshalb aufgegeben worden, damit der Staat Utah, in dem die Mormonen sehr viele Anhänger haben, Aufnahme in das Staatenbündnis der USA erlangen konnte.