Jehovas Zeugen

Kindeswohl? Ärztlicher Umgang mit Patienten, die als Zeugen Jehovas eine Blutransfusion ablehnen

(Letzter Bericht: 8/2018, 312) Die aktuelle Romanverfilmung „Kindeswohl“ des Autors Ian McEwan erzählt von einer Familienrichterin, gespielt von der Oscar-Preisträgerin Emma Thompson, die über Leben und Tod eines 17-jährigen Jungen entscheiden muss. Er ist an Leukämie erkrankt und braucht dringend eine Bluttransfusion. Seine Eltern sind Zeugen Jehovas und lehnen eine Blutspende aus religiösen Gründen ab. Die Richterin muss nun entscheiden, ob das Krankenhaus den Minderjährigen gegen seinen Willen und den seiner Eltern behandeln darf. Die Geschichte verdeutlicht eindrücklich das Dilemma der Richterin, verantwortlich zu urteilen.

Ausdrücklich wünschen sich Jehovas Zeugen für sich und ihre Kinder die beste medizinische Behandlung. Mit einer Ausnahme: Eine Bluttransfusion ist aus religiösen Gründen streng verboten. Für die Wachtturm-Gesellschaft ist Blut eng mit dem Leben als Ganzem verbunden. Einen Vers im Alten Testament (3. Mose 17,11) gibt die Neue-Welt-Übersetzung so wieder: „Die Seele des Fleisches ist im Blut“, während die Lutherbibel (2017) hier übersetzt: „Des Leibes Leben ist im Blut“. Die Lutherbibel betont die natürlichen Körperabläufe – nur ein funktionierender Blutkreislauf hält den Körper am Leben. Demgegenüber lädt die Bibelinterpretation der Zeugen Jehovas das Blut spirituell auf. Zwei Gründe führt die Leitende Körperschaft, das Leitungsgremium der Religionsgemeinschaft, an, warum Jehovas Zeugen eine Bluttransfusion ablehnen sollen: Gehorsam gegenüber Jehova und Respekt vor ihm als Lebengeber. Blut wird symbolisch überhöht und gänzlich mit dem Leben gleichgesetzt. Wie wichtig der Religionsgemeinschaft der Verzicht auf eine Bluttransfusion ist, wird daran ersichtlich, dass dieser Entschluss als ein zentraler Aspekt von Ehrfurcht vor dem Leben angesehen wird und deshalb im Katechismus „Was lehrt die Bibel wirklich?“ in einem eigenen Kapitel zur Sprache kommt. Ein Zeuge Jehovas beweist als wahrer Christ seine Ehrfurcht vor dem Leben dadurch, dass er weder einen Schwangerschaftsabbruch noch eine Bluttransfusion zulässt. In der Regel soll der einzelne Zeuge Jehovas zu dieser „tiefreligiösen Überzeugung“ nach einem sorgfältigen Bibelstudium kommen, bevor er Mitglied der Gemeinschaft wird.

Ein Musterformular für die spezielle Patientenverfügung über die Ablehnung von Fremdbluttransfusionen zur Dokumentation der persönlichen Gewissensentscheidung wird den Ortsgemeinden von der Zentrale in Selters zur Verfügung gestellt. Das Dokument sollte von jedem Zeugen Jehovas ausgefüllt und ständig bei sich getragen werden. Ein bundesweit vernetzter „Krankenhausinformationsdienst“ kann auf Anfrage Spezialisten nennen, die in der Lage sind, fremdblutsparende Behandlungen durchzuführen. In einigen Kliniken existieren sog. Krankenhaus-Verbindungskomitees, die vor Ort helfen, die Ablehnung von Bluttransfusionen als Teil des Selbstbestimmungsrechts der Patienten zu unterstützen. Dazu werden im Prämedikationsgespräch die operationstechnischen Alternativen zur Vermeidung von Fremdbluttransfusionen besprochen und festgelegt.

Wie sollen Krankenhäuser und die Notfallmedizin mit diesem Dilemma umgehen? Wird dem hippokratischen Eid oder dem Patientenwunsch Folge geleistet? Ärztlicherseits sind mittlerweile Strategien entwickelt worden, um den besonderen Bedürfnissen behandlungsbedürftiger Zeugen Jehovas religionssensibel zu entsprechen und alternative Strategien fremdblutfreier Therapien zu entwickeln. Liegt nämlich eine rechtsverbindliche Patientenverfügung vor, ist der Arzt an das Behandlungsveto des Zeugen Jehovas gebunden. Widersetzt er sich dem Willen des Patienten, um seinem ärztlichen Ethos „Leben erhalten und heilen“ zu folgen, macht er sich strafbar. Nach deutschem Recht ist er der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig und muss mit Schadensersatzansprüchen rechnen. Die Entscheidung für oder gegen den Einsatz von Blutprodukten stellt den behandelnden Anästhesisten vor medizinisch, rechtlich und ethisch komplizierte Herausforderungen und bringt ihn in eine moralische Ausnahmesituation, deren Belastungen erheblich sind. Das belegt ein aktueller Fallbericht in einer anästhesiologischen Fachzeitschrift (Der Anästhesist 76/2018, 126-130).

Dies gilt vor allem in der Notfallmedizin, wo beispielsweise nach einem schweren Unfall häufig Blutkonserven eingesetzt werden. Schwere Fälle einer Neugeborenen-Gelbsucht können manchmal eine Bluttransfusion erforderlich machen, um das Leben des Kindes zu retten. In solchen Fällen stehen medizinisch für unabdingbar notwendig gehaltene Maßnahmen persönlichen religiösen Glaubensansichten konträr gegenüber. Immer wieder gehen Todesfälle durch die Presse wie zum Beispiel ein Fall, bei dem durch Komplikationen bei einem Kaiserschnitt die Mutter gestorben ist, obwohl ihr vorher erklärt worden war, dass Blutkonserven medizinisch notwendig werden könnten und ihr Leben retten würden. Aus religiösen Gründen hatte sie den Einsatz vor der Operation ausgeschlossen. In einem anderen Fall klagte ein 17-jähriger Zeuge Jehovas gegen ein Kinderkrankenhaus in Sydney. Er wollte erreichen, nicht gegen seinen Willen eine Bluttransfusion zu erhalten, mit der er gegen seine aggressive Krebserkrankung behandelt werden sollte. Das Oberste Gericht des australischen Bundesstaats New South Wales lehnte die Berufungsklage ab. Es sei im Interesse des Staates, den Krebskranken bis zu seinem 18. Geburtstag am Leben zu erhalten. Sobald er volljährig sei, könne er über seine weitere Behandlung selbst entscheiden, so die Begründung des Gerichts.

In den 1990er Jahren bildete sich innerhalb der Zeugen Jehovas die Gruppe „AJWRB“ (Advocates for Jehovah’s Witness Reform on Blood), um eine Änderung in der Lehre über das Blut herbeizuführen. Durch die Aktivitäten der Arbeitsgruppe sollten medizinisch notwendige Behandlungen in Einklang mit der Blutdoktrin möglich werden. Die Initiativen der Gruppe sind allerdings im Sande verlaufen, und die rigide Haltung des Führungsgremiums hat sich durchgesetzt, wie das Präsidium der Religionsgemeinschaft in einer Stellungnahme zu ärztlicher Kritik bekräftigt: „Die Ablehnung von Bluttransfusionen basiert bei Jehovas Zeugen auf einem imperativen Glaubensgebot, das der Einzelne aufgrund seines Bibelstudiums vor Beginn der Mitgliedschaft als für sich bindend akzeptiert hat. Eine dieses Glaubensgebot ablehnende Reformbewegung innerhalb der Religionsgemeinschaft existiert nicht“ (Deutsches Ärzteblatt 99/2002, A999). Konsequent wird von der Religionsgemeinschaft die Übertragung von Vollblut und seiner vier Komponenten abgelehnt. Immerhin wird mittlerweile die Verwendung von Blutzubereitungen wie Blutverdünnung und Blutrückgewinnung der Gewissensentscheidung des einzelnen Mitglieds überlassen.

In dieser von den meisten Ärzten und Angehörigen als tragisch empfundenen Situation appellieren einzelne Ethikausschüsse in deutschen Krankenhäusern an den menschlichen Überlebenstrieb und bieten an, vertraulich eine Transfusion zu empfangen, ohne dass Angehörige davon erfahren. Diese Strategie wird offensichtlich häufiger angewendet. Bei einer Befragung von 40 Chefärzten der Chirurgie bzw. Anästhesie haben bis auf einen alle Befragten von mindestens einem Behandlungsfall berichtet, in dem sich der Patient im Gespräch unter vier Augen für die Einwilligung in eine Bluttransfusion entschied, obwohl er bekennender Zeuge Jehovas war (Lisa-Maria Bleiler, Strafbarkeitsrisiken des Arztes bei religiös motiviertem Behandlungsveto, Berlin 2010, 251).

Hält allerdings ein Patient unbeirrt am Transfusionsverzicht fest, bleibt einem Arzt bei einem geplanten Eingriff letztlich nur die Möglichkeit, die Behandlung im Vorfeld abzulehnen. Gegen die Ablehnung seiner Behandlung klagte kürzlich ein Schweizer Zeuge Jehovas. Dem Berner Krankenhaus war es ein zu hohes Risiko, ihren Patienten aus Glaubensgründen möglicherweise verbluten lassen zu müssen, deshalb hatte die Klinik die Behandlung abgelehnt. Die Strafanzeige mit dem Vorwurf der religiösen Diskriminierung ließ das Schweizer Bundesgericht nicht gelten. Die Ärzte hätten ein Anrecht darauf, ihren Beruf nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben, und der Patient könne sich ja anderswo behandeln lassen.

In einem ärztlichen Ratgeber zur Transfusionspraxis lautet ein Fazit: „Ein präoperativ interdisziplinär erarbeitetes Behandlungs-/Transfusionskonzept für Zeugen Jehovas ist nicht nur äußerst sinnvoll, sondern sollte klinikintern obligat sein; auch, um im jeweiligen Einzelfall einen operativen Eingriff abzulehnen bzw. den Patienten zu verlegen.“ Hier zeigt sich, dass die Religions- und Gewissensfreiheit einen hohen Wert darstellt, der sogar auch die Möglichkeit zur Selbstschädigung mit einschließt.


Michael Utsch