Klammheimliche Machtübernahme?
(Letzter Bericht: 7/2013, 269f) Es geschah ohne jeden Paukenschlag. Im Zusammenhang mit belanglosen lehrmäßigen Kurskorrekturen nennt der „Wachtturm“ in der für den internen Gebrauch bestimmten Studienausgabe vom 15. Juli 2013 „nebenbei“ auch eine bedeutsame Änderung. Es geht um eine Frage, die viele Zeugen Jehovas (ZJ) geradezu umtreibt: Wen meinte Jesus im Gleichnis vom „treuen und verständigen Sklaven“ (Matth 24,45ff, Luk 12,41ff nach der Neue-Welt-Übersetzung1)?
Nach bisheriger Deutung sind alle mit Gottes Geist „gesalbten“ Christen gemeint, somit die ganze Kirche; der nun verkündeten neuen Lehre zufolge aber meinte Jesus die „Leitende Körperschaft“an der Spitze der ZJ-Organisation!
Mag diese Lehre auch harmlos und naiv erscheinen, es ist doch zu fragen, ob Jesu Gleichnis hier nicht für menschliche Machtansprüche missbraucht wird – noch mehr: für eine klammheimliche Machtübernahme. Wir haben es mit dem bisherigen Gipfel einer Entwicklung zu tun, die mit der Wachtturm-Lehre begann, die dem treuen und klugen Haushalter gegebene Verheißung, vom wiederkommenden Christus „über seinen ganzen Besitz gesetzt“ zu werden, sei schon jetzt erfüllt. „Christus Jesus ... setzte diesen Sklaven als Klasse über seine ganze irdische Habe“ (Der Wachtturm vom 1.3.1952, 71). Konkretisiert wurde dieser Anspruch unter anderem in einer früheren Wachtturm-Ausgabe: „Jawohl, diese ‚Güter‘ sind unter die Rechtsgewalt des gesalbten Überrests gesetzt worden, dessen gesetzlich leitende Körperschaft durch die Watch Tower Bible & Tract Society wirkt“ (Der Wachtturm vom 1.10.1950, 296).2
Wenn es nun im Wachtturm vom 15. Juli 2013 heißt: Nein, nicht der „gesalbte Überrest“ der Kirche Christi ist der „treue Sklave“, sondern die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas, stellt sich die Frage, wie die Leitende Körperschaft diese Selbsterhöhung begründet. Zunächst versucht sie zu zeigen, dass Jesu Gleichnis vom „treuen und verständigen Sklaven“ sich nicht – wie bisher angenommen – seit dem Jahr 33 unserer Zeitrechnung erfüllte, sondern erst „in der Zeit des Endes“, 1914, um dann auf die für sie entscheidende Begründung einzugehen: „Setzt sich der treue Sklave aus allen geistgesalbten Christen auf der Erde zusammen? Nein. Tatsache ist: Nicht alle Gesalbten sind daran beteiligt, ihre Glaubensbrüder in der ganzen Welt mit geistiger Speise zu versorgen.“ Schlussfolgerung: Nur bei der Leitenden Körperschaft, deren Sitz in Brooklyn (New York) ist, handelt es sich um den „treuen und verständigen Sklaven“. Die anderen ZJ mit himmlischer Hoffnung gelten zwar auch als „Gesalbte“, zählen jedoch fortan nicht mehr zu diesem „kollektiven Sklaven“, weil sie ja nicht an der Herstellung der „geistigen Speise“ beteiligt seien.
Haben wir es nicht mit einer Art „Staatsstreich von oben“ zu tun, wenn zur Absicherung des Machtmonopols der Leitenden Körperschaft in Brooklyn nunmehr sie und sie allein als der „treue Sklave“ anerkannt werden will? Die Frage drängt sich auf, weshalb die Leitende Körperschaft sich zu der Befürchtung veranlasst sieht, die beanspruchte Monopolstellung könnte ihr streitig gemacht werden.
Um zu einer schlüssigen Antwort zu kommen, ist hier zunächst an zweierlei zu erinnern: 1. In den Reihen der ZJ gibt es zwei „Klassen“ mit unterschiedlicher Hoffnung und Berufung: Eine Minderheit, die „Klasse der Gesalbten“, hat die Hoffnung, einst im himmlischen Teil des Königreiches Gottes bei Christus zu leben und mit ihm zu regieren; die große Masse der ZJ dagegen hegt die Hoffnung, schon binnen Kurzem das Ende dieser Welt „im Fleische“ zu überleben und danach als „Untertanen des Königreiches“ die paradiesische neue Erde zu bewohnen. 2. Die alljährlich im „Jahrbuch der Zeugen Jehovas“ veröffentlichte Statistik hat gezeigt, dass seit Jahrzehnten die Zahl der Gesalbten, also der ZJ mit „himmlischer Berufung“, ständig abnahm,3 während die „Klasse“ der ZJ mit „irdischer Hoffnung“ inzwischen schon mehr als sieben Millionen zählt. Diese Tendenz war seit 1935 durch die „Gesalbten“ im Watchtower-Führungsstab zielstrebig initiiert und dann in Wort und Schrift massiv unterstützt worden. Dies ging so weit, dass bis etwa 1950 Beauftragte der Wachtturm-Gesellschaft landauf, landab immer wieder Einzelpersonen die „himmlische Hoffnung“ systematisch auszureden versuchten.
Nun das für die Leitende Körperschaft höchst Unerfreuliche und als bedrohlich Empfundene, durch das der tiefere Grund für die genannte Lehränderung erkennbar wird: In den letzten Jahren wandten sich immer mehr Glieder der „irdischenKlasse“ überraschenderweise der himmlischen Hoffnung zu – offenbar bewusst deswegen, weil sie durch intensives Bibelstudium bemerkt hatten: Das Neue Testament kennt nur eine Hoffnung oder Berufung: die himmlische (Eph 4,4; Phil 3,12-22; Kol 3,1-4: Hebr 3,1). Die Folge war, dass die Zahl der „neuen Gesalbten“ in den letzten Jahren zur Überraschung und zum Verdruss der Brooklyner Leitenden Körperschaft ständig zunahm (der Statistik nach etwa 4000 in zehn Jahren – und wie hoch ist die Dunkelziffer?).
Das musste bei der Leitenden Körperschaft Besorgnis auslösen: Was soll nur werden, wenn früher oder später die neuen Mitteilhaber der himmlischen Hoffnung sich darauf berufen, die ganze Kirche bilde doch den „treuen und verständigen Sklaven“, der nach der Lehrtradition der ZJ ja heute schon über „des Herrn ganze Habe“ gesetzt ist? Werden diese „Neuen“ nicht konsequenterweise daraus das Recht herleiten, mitzuregieren und so das Machtmonopol der Leitenden Körperschaft infrage stellen?
Nun meint die etablierte ZJ-Führung offenbar, diese Bedrohung ihrer Monopolstellung mit der im Wachtturm vom 15. Juli 2013 veröffentlichten Kurskorrektur ohne „Paukenschlag“ abgewendet zu haben – sozusagen durch ein Machtwort von oben; nun sei ohne großen Wirbel sichergestellt, wer bei Jehovas Zeugen das Sagen hat.
Eine zusätzliche Veranlassung für die Kurskorrektur dürfte die bekannte Tatsache sein, dass das allgemeine Bildungsniveau in der westlichen Welt erheblich gestiegen ist, bis zu einem gewissen Grad auch unter den ZJ. Deswegen könnte die Leitende Körperschaft eine gesteigerte Urteils- und Kritikfähigkeit der ZJ zu fürchten haben. Diese hat sie nämlich schon zu spüren bekommen, wie ihre teils empörten, teils beschwichtigenden Reaktionen der letzten Jahrzehnte zeigen.4
Es spricht somit alles dafür, dass es sich bei derneuen Deutung des Gleichnisses vom treuen und klugen Haushalter um eine aus Angst geborene Maßnahme zur Absicherung des Machtmonopols der Leitenden Körperschaft handelt. Vergleichbares ist aus der säkularen Welt bekannt: Macht und präventive Maßnahmen zur Machterhaltung sind siamesische Zwillinge.
Hans-Jürgen Twisselmann, Büsum
Anmerkungen
1 Das in der Lutherbibel mit „Knecht“ übersetzte griechische Wort doulos kann formal korrekt auch mit „Sklave“ wiedergegeben werden. Dank der Abschaffung der Sklaverei aber entspricht dies nicht dem Denken und Sprachempfinden unserer Zeit. Weil jedoch heute auch der Begriff „Knecht“ falsche Assoziationen auslöst, folgt der Verfasser des vorliegenden Artikels neueren Bibelübersetzungen, die den sachgemäßen Begriff „Haushalter“ vorziehen.
2 Eine für die Urheber geradezu typische „Konkretisierung“ durch Verschleierung! Dieser Schleier von Heiligkeit und Heimlichkeit bewirkte unter den ZJ während Jahrzehnten ein ständiges Rätselraten, wer denn nun der „treue Sklave des Herrn“ sei: der „gesalbte Überrest“, die Watch Tower Bible & Tract Society oder die damals noch fiktive „leitende Körperschaft“. Näheres über die Hoheitsansprüche der damals imaginären Leitenden Körperschaft (die erst 1971 gegründet und 1976 tatsächlich das ZJ-Leitungsgremium wurde) in: Hans-Jürgen Twisselmann, Ich war ein Zeuge Jehovas, Gießen/Basel 2010.
3 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Gesamtzahl derer, die in den Himmel kommen, nach offizieller ZJ-Lehre auf 144 000 beschränkt ist; von ihnen seien die meisten bereits in der Zeit der Apostel „eingesammelt“ worden. Heute lebe nur noch ein „Überrest der Gesalbten“ auf der Erde.
4 Zum Stichwort „empört“: „Das Murren und Klagen kann bei ihnen sogar so weit gehen, dass sie Veröffentlichungen des ‚treuen Sklaven‘ kritisieren“ (Der Wachtturm vom 15.6.1996, 21). – Zum Stichwort „beschwichtigend“: Bezugnehmend auf die Enttäuschung von 1975 hatte der Wachtturm vom 15.10.1976 erklärt, „es sei nicht ratsam, sein Augenmerk auf ein bestimmtes Datum zu richten“. Und dann, an die Enttäuschten gewandt: „Falls jemand enttäuscht worden ist, weil er nicht diese Einstellung hatte, sollte er sich jetzt bemühen, seine Einstellung zu ändern, und sollte erkennen, daß ... sein eigenes Verständnis auf falschen Voraussetzungen beruhte.“ Nachdem das offenbar einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, suchte der Wachtturm vom 15.6.1980 (17f) die Gekränkten zu beruhigen: „Wenn Der Wachtturm hier ‚jemand‘ sagte, so meinte er damit alle enttäuschten Zeugen Jehovas, also auch diejenigen, die an der Veröffentlichung von Informationen beteiligt waren, die dazu beitrugen, dass in Bezug auf dieses Datum Hoffnungen geweckt wurden.“