Jehovas Zeugen

Körperschaftsstatus in fast allen Bundesländern

(Letzter Bericht: 7/2009, 266ff) Nur noch einzelne Bundesländer wie Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz wehren sich gegen die Anträge der Gemeinschaft auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dass die Zeugen Jehovas darauf formal einen Anspruch haben, scheint klar zu sein. Am 19.12.2000 hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt (2 BvR 1500/97), dass ein Bewerber „rechtstreu“ zu sein hat, also „das geltende Recht beachten“ muss. Dadurch wurden die vorherigen Urteile aller Instanzen revidiert, und im Sommer 2006 musste Berlins Kultursenator die Verleihungsurkunde überreichen. Seitdem haben die meisten Landesregierungen diesem Beispiel mehr oder weniger widerwillig Folge geleistet. Auch wenn das formal richtig ist, sprechen inhaltliche Gründe nach wie vor dagegen.

Anlässlich der Verleihung der Körperschaftsrechte an die Zeugen Jehovas in Mecklenburg-Vorpommern im Januar 2010 führt die Gemeinschaft in ihrer Pressemitteilung vom 10.2.2010 aus: „Die Bibel hilft Familien, Kinder und Jugendliche dazu zu erziehen, initiativ, gesprächsbereit und tolerant zu sein. Was sie im Elternhaus lernen, hilft ihnen, sich mit christlicher Nächstenliebe statt mit Ellenbogen zu behaupten und in der Schule Toleranz, Integration und Fleiß beispielhaft auszuleben.“

Diese Worte erstaunen, wenn man bedenkt, wie stark bei den Zeugen das Exklusivitätsdenken ausgeprägt ist. So schrieb beispielsweise der Wachtturm im September 1989: „Nur Jehovas Zeugen ... haben als vereinte Organisation unter dem Schutz des höchsten Organisators die biblische Hoffnung, das nahe bevorstehende Ende des zum Untergang verurteilten, von Satan, dem Teufel beherrschten Systems zu überleben.“ Inzwischen ist der Ton in den Publikationen der Zeugen Jehovas zwar vielfach milder geworden, die Botschaft bleibt jedoch die gleiche: „Die Bibel zeigt, dass sämtliche Formen der falschen Religion ein Teil von Babylon der Großen sind ... Da sich alte babylonische Anbetungsformen heute auf der ganzen Erde verbreitet haben, steht ,Babylon die Große’ heute passenderweise für das Weltreich der falschen Religion. Diesem Reich hat Gott ein plötzliches Ende angekündigt.“1 Andere Religionen gelten den Zeugen Jehovas als „falsch“2, weltliche Gesellschaften offenbar als Teufelswerk. Es fragt sich, wie mit einer solchen Haltung Nächstenliebe und Toleranz gelebt werden sollen.

Die Bibelübersetzung der Zeugen Jehovas, die „Neue-Welt-Übersetzung“, in deutscher Sprache erschienen 1972, ist die für Zeugen Jehovas verbindlich gewordene Bibel. Sie dient ihnen als der konstitutive Bezugsrahmen des Glaubens. Obwohl an diesem Punkt eine gewisse Analogie zum Schriftprinzip des Protestantismus aufscheinen mag, zeigt sich am Schriftverständnis der Zeugen eine schwerwiegende Problematik: Obwohl die Zeugen Jehovas in ihren Außendarstellungen die Selbstauslegungskraft der Schrift erwähnen3, liegt die Autorität der Bibelauslegung insbesondere beim Führungsorgan der Zeugen Jehovas, der „Leitenden Körperschaft“. „Ein reifer Christ ... pocht weder auf seine eigene Meinung, noch hegt er private Vorstellungen, was das biblische Verständnis angeht, sondern er vertraut voll und ganz der von Jehova Gott durch seinen Sohn Jesus Christus und den ‚treuen und verständigen Sklaven’ [Bezeichnung der Leitenden Körperschaft; die Autoren] geoffenbarten Wahrheit.“4

Im Verständnis der Zeugen Jehovas verweist die Schrift nicht auf Christus als Mitte, an der sich die Einzelaussagen der Schrift messen lassen müssen. Alle biblischen Texte werden gleichwertig als das offenbarte Wort und der Wille Jehovas interpretiert.5 Dies führt in der Rezeption der Schrift zu einem selektiven und instrumentalisierenden Vorgehen, mit dem Kinder und Jugendliche zum Gehorsam gegenüber der Glaubensgemeinschaft, wohl kaum aber zu Toleranz und noch weniger zu Integration erzogen werden sollen. Vielmehr ist der Schriftgebrauch der Zeugen Jehovas der Indikator einer Erziehung zu Unmündigkeit und unkritischer Loyalität gegenüber dem religiösen Leitungsorgan.

Formaljuristisch ist also der Verleihung des Körperschaftsstaus in Mecklenburg-Vorpommern als 13. Bundesland wohl nichts entgegenzusetzen, in pädagogischer und politischer Hinsicht lässt jedoch die öffentlich-rechtliche Anerkennung nach wie vor viele Fragen offen.


Anna Scholz, Berlin, und Michael Utsch


1 Was lehrt die Bibel wirklich? Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft, Selters 2005, Auflage 2008 152.
2 Vgl. Jahrbuch der Zeugen Jehovas 2008, Brooklyn 2008, 6f.
3 Vgl Jehovas Zeugen – was glauben sie? Faltblatt der Watchtower Bible and Tract Society, Pennsylvania 1992.
Der Wachtturm, 1.8.2001, 14.
5 Vgl. Bruno Deckert, All along the Watchtower, Göttingen 2007, 118.