Ulrike Wagner-Rau

Kontakt zu Toten

Seelsorgerlicher Umgang mit spiritualistischer Religiosität im Trauerprozess

1. Alle Trauernden haben Kontakt zu den Verstorbenen

Trauernde haben auf die eine oder andere Weise Kontakt zu den Menschen, deren Verlust Ursache ihrer Trauer ist. Zugespitzt kann man sagen: Der Trauerprozess ist nicht nur ein Geschehen, das die Trauernden selbst betrifft, sondern eine spezifische Beziehungsform zu verlorenen Menschen. In dieser Beziehung gibt es vielfältige Möglichkeiten des Kontaktes, bei denen die Hinterbliebenen nicht immer scharf unterscheiden können oder wollen, welche Realität den Begegnungserfahrungen zuzuschreiben ist, oder es den Trauernden zuweilen fraglich ist, ob die Initiative dazu ausschließlich von ihnen selbst ausgeht oder auch die Toten aktiv sind.

Direkt nach dem Tod ist der Kontakt noch unzweifelhaft greifbar und leiblich möglich. Man kann bei den Verstorbenen wachen, sich um sie versammeln. Man kann sie waschen und bekleiden. Man kann sie in den Sarg legen und ihnen beziehungsvolle Gegenstände an die Seite geben. In all diesen Handlungen, aber eben auch über sie hinaus sind die Toten präsent in Gedanken und in Empfindungen, in Erinnerungen, in Phantasien und Träumen1 und in den zahllosen Erzählungen über die Vergangenheit. Nicht selten halten die Trauernden noch lange an den Lebensgewohnheiten fest, die sie mit den Verstorbenen verbunden haben, decken den Tisch so, als äße man noch gemeinsam an ihm, beharren auf dem leeren Bett an ihrer Seite, an den Kleidern im Schrank, an der unveränderten Ordnung im verwaisten Zimmer. Häufig unterliegen sie Sinnestäuschungen, meinen den Toten/die Tote flüchtig in einer Menschenmenge wahrzunehmen, hören den bekannten Schritt auf der Treppe, empfinden den Geruch, der aus jahrelangem Kontakt vertraut und lieb geworden ist. Aber über diese Phänomene der Erinnerung und der geistig-emotionalen Präsenz der Toten hinaus gibt es auch immer wieder Erscheinungen, die als Verweise auf eine andersartige Realität der Toten gelesen werden können: Trauernde haben Visionen oder Auditionen, in denen die Toten sich ihnen zeigen. Sie beobachten Veränderungen im Haus und im Lebensumfeld, die sie an ein geheimnisvolles Eingreifen der Verstorbenen denken lassen. Sie empfangen Botschaften über Dritte, die so detailliert auf Tatsachen zurückgreifen, die eigentlich nur die verlorenen Menschen kennen können, dass es sich nahe legt, den Absender dieser Botschaften in einer anderen Welt neben der uns bekannten zu vermuten.

Alle, die Trauernde auf ihrem Weg begleiten, werden mit Erfahrungen und Phänomenen2 konfrontiert, die auf eine bleibende Möglichkeit der Präsenzder Toten in der Welt der Lebenden hinzudeuten scheinen. Für die Trauernden selbst sind solche Erfahrungen oft höchst ambivalent: Die Freude und Aufregung, mit dem verlorenen, vermissten Menschen in Kontakt zu treten, mischt sich mit Schrecken. Denn dass die Toten tot sind und nicht mehr erreichbar für die Lebenden, ist ebenso eine schmerzliche Erfahrung wie auch eine basale Annahme des westlichen Wirklichkeitsverständnisses. Wenn diese Annahme erschüttert wird, löst das nicht nur Staunen, sondern auch Beunruhigung und Erschrecken aus. Der Erdwurf am Grab, Bestandteil einer christlichen Bestattung, verweistsymbolisch schon aufdie Ambivalenz, die eine Erscheinung von Toten auslöst: Die Erde auf den Sarg zu werfen und ihr Poltern auf seinem Deckel zu hören, vermittelt einerseits die bittere Einsicht, dass nicht wiederkommt, wer unter diesem Deckel begraben wird. Zugleich bestätigt der Erdwurf das auch: Wer hier liegt, bleibt dort.3 Man muss ohne ihn leben, das ist die eine Seite. Man kann aber auch sicher sein, dass er nicht wiederkehrt; man ist frei von ihm. Das ist die andere Seite.Das Hinabwerfen der Erde hat aggressive Anteile, ohne die Menschen sich nicht voneinander trennen können. Wenn Tote – auf welche Weise auch immer – den Kontakt zu den Lebenden suchen, so erfüllt sich darin nicht nur eine Sehnsucht der Trauernden, sondern die Erfahrung hat auch bedrohliche Seiten für sie, weil nicht mehr klar ist, was gilt.
 

2. Pluralisierung der Deutung des Todes

In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Deutungen des Todes in Europa pluralisiert. Es gibt keine gesellschaftlich dominierende religiöse oder philosophische Aussage darüber, was nach dem Tod zu erwarten sei. Und die Deutung des Todes hat sich individualisiert: Sie ist für viele Menschen nicht mehr eingebunden in den Zusammenhang einer Sozial- und Glaubensgemeinschaft, in der gemeinsame Überzeugungen geteilt und auch rituell dargestellt werden, sondern sie muss je individuell angeeignet und plausibilisiert werden. Die Trauer- und Bestattungskultur verändert sich in diesem Zusammenhang, der das kirchliche Handeln in Seelsorge und Bestattungsritual vor neue Herausforderungen stellt. Dabei scheint mir wichtig zu sein, was in einem Diskussionspapier der EKD zum Thema herausgestellt wird4: Die Individualisierungsprozesse haben nicht nur problematische Erscheinungen zur Folge, sondern bewirken auch in vielen Fällen eine engagierte persönliche Auseinandersetzung mit dem Sterben und der Gestaltung des Abschiedes von den Toten. Die Tendenz, die Sorge für die Sterbenden und die Toten den professionellen Agenten zu überlassen, wird durch die Bemühung um die individuelle Sterbebegleitung und um die persönliche Gestaltung der Trauerfeier wie in dem Bestehen auf dem je eigenen Weg der Trauer produktiv unterbrochen.

Die christlichen Vorstellungen über Tod und Sterben und die aus ihnen erwachsene Frömmigkeitspraxis geraten im Kontext unterschiedlicher religiöser Vorstellungen und vielfältiger individueller Lebenssituationen in einen Prozess der Neuorientierung. Dabei spielt eine wichtige Rolle die Auseinandersetzung damit, dass mit der religiösen Pluralisierung und Individualisierung sich auch im Westen Religionsformen verbreitet haben, die mit unterschiedlichen Ausprägungen der Lehre von der Wiedergeburt5 verbunden sind. Oft wird in diesen religiösen Kulturen die Vorstellung gepflegt, dass ein Kontakt zu Toten möglich bzw. sogar – wie der Spiritismus verspricht – aktiv herzustellen sei.6 Empirische Untersuchungen zeigen die beachtliche Verbreitung solcher Vorstellungen. Ein großer Anteil der deutschen Bevölkerung (52,5 Prozent) neigt zwar der Vorstellung zu, dass mit dem Tod alles aus sei. 43 Prozent aber glauben an ein Leben nach dem Tod, 52,6 Prozent an ein Weiterleben der Seele. 29 Prozent vertrauen auf die Auferstehung der Toten, 25,7 Prozent stimmen der Vorstellung der Reinkarnation zu. Ähnliche Ergebnisse liegen auch für andere europäische Länder und die USA vor: Ungefähr ein Viertel der Bevölkerung ist mehr oder weniger überzeugt von der Lehre der Seelenwanderung.7 Auch viele Kirchenmitglieder zählen zu denen, die sich mit Vorstellungen einer Seelenwanderung identifizieren. Die persönlichen Überzeugungen werden ergänzt durch kulturelle Erzeugnisse und Angebote, die eine Welt der Toten inszenieren, die nur durch eine dünne, durchlässige Wand von der Welt der Lebenden getrennt ist: Filme, Bücher, Workshops, Therapien beziehen sich auf die Möglichkeit, Kontakt zu Toten herzustellen, legen nahe, selber Erfahrungen an der Schwelle des Todes zu machen, und sprechen davon, dass Erinnerungen an frühere Leben zu aktivieren seien.8

Dass es möglich sei, hinter die Grenzen der Geburt zurück- bzw. über die des Todes hinauszukommen, ist ein vielfältig variiertes Thema. Fast erscheint es, als ob die wachsenden medizinisch-technischen Möglichkeiten, das Leben vor der Geburt zu manipulieren und die Spanne bis zum Tod immer weiter hinauszuschieben, so etwas wie eine geistig-religiöse Rückseite entwickeln. Rüdiger Sachau hat in seiner Analyse westlicher Reinkarnationsvorstellungen überzeugend argumentiert, dass ein wesentlicher Reiz dieser Vorstellungen darin liege, dass sie auf moderne Fragen und Problematiken antworten: Auf das Problem der überfordernden Vielfalt an Lebensmöglichkeiten, die in einem Leben nicht auszuschöpfen ist, würden sie antworten mit dem Konzept vieler aufeinander folgender Leben. Die Möglichkeit, in jedem Leben neu zu lernen, schaffe Entlastung von den Grenzen dessen, was in einem Leben zu erreichen sei. Und die für das moderne Individuum beunruhigende Vorstellung, dass es ein Ende mit ihm haben könne, werde durch das Versprechen der Wiederkehr in anderer Gestalt, aber mit einer dennoch sich durchziehenden Identität gelöst.9

Dieser Aufweis eines funktionalen „Passungsverhältnisses“ von individualisierter Moderne und neuen Religionsformen ist aufschlussreich. Ebenso wichtig ist es, die intensive religiöse Suchbewegung wahrzunehmen, die sich in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Vorstellungen im Zusammenhang von Sterbe- und Trauererfahrungen ausdrückt. Weil viele offene Fragen und Ratlosigkeit im Hinblick auf die Deutung des Todes unter den Menschen lebendig sind, werden vielfältige Antwortmöglichkeiten gesucht und im kulturellen Diskurs angeboten. Auch für Menschen, die sich selbst nicht aktiv oder nur am Rande mit neureligiösen Vorstellungen befassen, liegen sie doch potentiell nahe, weil sie kulturell präsent sind. Sie können aufgegriffen werden, wenn die Lebenssituation eine Affinität zu ihnen erzeugt.

Wer einen Menschen verloren hat, hat eine solche Affinität. Denn Trauernde sind auf der Suche nach Deutungen und Verarbeitungsmöglichkeiten dessen, was ihnen widerfährt. Sie fragen danach, wohin man die Toten denken kann, ob man in Angst um sie sein muss. Sie sehnen sich danach, sie zu erreichen. Wenn Erfahrungen gemacht werden, dass die Toten nicht immer tot bleiben, sondern sich Erfahrungen in der Lebenswirklichkeit der Trauernden manifestieren, die „übernatürlichen“, spirituellen Charakter zu haben scheinen, werden diese Fragen dringlicher und zu wesentlichen Themen der seelsorgerlichen Begleitung.

Die Seelsorge hat eine spezifische Perspektive auf die Wirklichkeit, die aus ihrer Orientierung an der Beziehung zum leidenden Menschen resultiert. Sie richtet ihr Wahrnehmungsinteresse nicht primär auf das, was man wissenschaftlich begründen kann. Sie bewegt sich auch nicht zuallererst in der Auseinandersetzung mit Fragen der dogmatischen Orientierung des Glaubens. Beide Zugriffe auf die Wirklichkeit sind zwar alles andere als bedeutungslos vor allem in der Theorie der Seelsorge, weil sie die Wirklichkeitswahrnehmung strukturieren. Aber in der Praxis der Seelsorge treten sie eher zurück hinter die Aufmerksamkeit für das, was in der subjektiven Perspektive der Trauernden wirklich ist und wirkt und sich in der Beziehung zum Seelsorger/zur Seelsorgerin abbildet. Die Modelle und Hypothesen der Theorie sind durch diese Perspektive der lebendigen Erfahrung immer wieder zu überprüfen und zu korrigieren.

Wenn ein trauernder Mensch von einem Erlebnis berichtet, das auf einen Kontakt zu Verstorbenen verweisen könnte, dann geht es also zunächst nicht um ein Urteil darüber, ob es so etwas nachweislich gibt – das gilt sogar dann, wenn diese Frage vielleicht gestellt wird – oder ob eine solche Begebenheit mit den christlichen Überzeugungen vereinbar ist. Wesentlich ist vielmehr die Frage nach der Bedeutung des Erlebten für die Person selber: Als ein aufwühlendes Erlebnis hat es eine starke emotionale Bedeutung. Es drückt etwas aus überdie Beziehung des trauernden Menschen zum/zur Verstorbenen. Und schließlich ist es bedeutungsvoll im Hinblick auf die Notwendigkeit der Hinterbliebenen, sich im eigenen Leben neu zu orientieren.

Oft ist es bereits hilfreich, dass das Erlebte erzählt werden kann, ohne dass dadurch Befremden, Widerspruch oder auch Zustimmung ausgelöst werden. Das subjektiv unbestreitbar Vorhandene will einfach sein dürfen, ohne in seiner Wirklichkeit angezweifelt zu werden. Es will sich ausdrücken und als möglich und wirklich im Erleben der Trauernden akzeptiert werden. Es gibt Freiheit, wenn zunächst einmal offen bleiben kann, wie das Erlebte zu verstehen ist, dass man sich Zeit damit nehmen kann. Denn welcher Art die Wirklichkeit dessen ist, was sie erlebt haben, ist ja für die Trauernden selbst meist unklar. Oft fühlen sie sich befremdet von der Heftigkeit ihrer emotionalen Reaktionen und den auch sie selbst verstörenden und irritierenden Widerfahrnissen, die sie nicht erklären können. Nicht selten leben sie in der Sorge, verrückt zu werden. Einen Menschen zu finden, der auch zunächst vielleicht ungewöhnliche Erlebnisse anhört und gelten lässt, schafft einen Raum, in dem mit der emotionalen und kognitiven Valenz dieser Erlebnisse konstruktiv umgegangen und sie in gedeutete Erfahrungen verwandelt werden können, die den Weg der Trauerarbeit unterstützen.
 

3. Die Verstorbenen und die Auseinandersetzung mit ihnen suchen

Wenn man Trauererfahrungen betrachtet, stellt man fest, dass der Kontakt zu den Verstorbenen bzw. der Wunsch, ihnen – auf welche Weise auch immer – wieder nahe zu kommen, ein häufiger Bestandteil dieser Erfahrungen ist.10 „Trauer, das, was einem Zurückbleibenden bleibt, hat eine Sehnsucht: ‚.. da wo du bist, da will ich sein.’ Das ist, wie ich selber erfahren habe, ganz naiv örtlich gemeint.“11 So beschreibt Wolfgang Teichert professionelle und persönliche Erfahrungen mit Trauer in den Worten eines alten niederländischen Madrigals. So sehr es stimmt, dass der Tod einen radikalen und ungemein schmerzlichen Beziehungsabbruch bedeutet, so sehr ist es zugleich richtig und angemessen, davon auszugehen, dass die Beziehung in anderer Weise über den Abbruch hinausreicht. Denn Trauer ist nicht nur zu verstehen als Reaktion auf das Ende einer Beziehung, sondern zugleich Ausdruck ihrer notwendigen Verwandlung.12 Sie ist ein Prozess13, in dessen Verlauf Trauernde auf vielfältige Weise in Verbindung zu den Toten stehen. Im Laufe der Zeit, die nach dem Verlust vergeht, verändert sich die Art und Weise dieser Verbindung, sie verliert an Intensität, wird weniger dominierend, gibt Raum frei, in dem neue Bindungen und Beziehungen entstehen können. Aber oft bleibt sie als eine innere Realität erhalten, die sich auf je individuelle Art und Weise auch äußerlich Ausdruck verschafft.

In der Forschung besteht Einigkeit, dass die intensive Suche nach den verlorenen Menschen ein häufig zu beobachtender Ausdruck der Trauer ist. Zur Erklärung dieses Phänomens hat der Psychoanalytiker John Bowlby wesentliche Einsichten beigetragen. Trauer wird in seinem Ansatz erklärt im Zusammenhang einer Bindungstheorie, die psychoanalytische und ethologische Perspektiven integriert.14 Die Bindung an einzelne, besonders signifikante Personen zu erhalten, so führt Bowlby aus, ist den Menschen von Geburt an unbedingt zu eigen, weil sie nur in solchen von liebevoller Fürsorge bestimmten Bindungen überleben können. Bowlby sieht den Ursprung dieses Strebens in einem Instinkt. Seine individuelle Gestalt aber erhält die Suche nach Bindung durch kulturelle Prägung: In der Geschichte der frühkindlichen Kommunikationserfahrungen entwickelt sich das für jeden Menschen spezifische Bindungs- und entsprechend auch Trennungsverhalten.15 Weil Bindung so ein fundamentales menschliches Bedürfnis ist, aktiviere umgekehrt der Verlust eines wichtigen Menschen auch bei Erwachsenen den frühkindlichen Impuls, diese katastrophale Entwicklung möglichst zu vermeiden oder ungeschehen zu machen. Trauerverhalten sei zudem davon geprägt, wie die lebensgeschichtlich frühen Trauererfahrungen bewältigt und verarbeitet wurden. Bei erwachsenen Trauernden kann man wiederfinden, was Bowlby u.a. im Kontext des Trauerprozesses von Kleinkindern, die z. B. durch einen Klinikaufenthalt von ihren wichtigsten Bezugspersonen getrennt wurden, beobachtet haben: Ein Verhalten, das von der wütenden Bemühung bestimmt ist, die verlorene Person zu suchen und wiederzugewinnen, um dem unabweisbaren Bedürfnis gerecht zu werden, sich mit der verlorenen Bindungsfigur erneut zu vereinigen.16

Unruhe und Suchverhalten sind bei Trauernden häufig zu beobachten: Scheinbar ungerichtete unruhige Verhaltensweisen wie Hin- und Herlaufen, ziellos wirkende Handlungen, Schlaflosigkeit, Weinen usw. werden von Bowlby als Derivate solchen Suchens verstanden. Unmittelbarer in ihrer Intention zu identifizieren sind das Aufsuchen wichtiger Orte, die mit dem/der Verstorbenen in Beziehung stehen, das Festhalten an gemeinsamen Gewohnheiten, der Weg zum Grab, das Wachrufen der Erinnerungen in Erzählungen und Phantasien usw.17 Insgesamt konzentrieren Trauernde ihre Wahrnehmung auf eine Perspektive, die sie sehen, erfahren, erinnern lässt, was sie mit dem verstorbenen Menschen in Berührung hält.18 Nicht selten hört man im Seelsorgegespräch, dass es schließlich sogar als schmerzlich und bedrohlich empfunden wird, wenn die Trauer nachlässt, weil dieses Gefühl immer wieder die Intensität der Verbindung zum/zur Verstorbenen hergestellt hat. Dass Trauer eine eigene Art der Bindung darstellt, gegen deren Verlust Menschen sich wehren, obwohl sie doch so viel Pein bereitet, vermittelt auch das Gedicht „Über alle Gräber“ von Friedrich Rückert:

Über alle Gräber wächst zuletzt das Gras,

alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist das,

wohl der schlechteste, den man kann erteilen:

armes Herz, du willst nicht, dass die Wunden heilen.

Etwas hast du noch, solang es schmerzlich brennt;

Das Verschmerzte nur ist tot und abgetrennt. 19

Es liegt nahe, das Suchverhalten in der Trauer als einen wesentlichen Hintergrund der Widerfahrnisse anzunehmen, in denen Menschen über Kontakte zu Verstorbenen berichten. Es ist hier nicht möglich, begründete Aussagen darüber zu entwickeln, ob die verzweifelte und sehnsüchtige Suche nach dem/der Verlorenen Menschen offener macht für Wahrnehmungen und Erlebnisse, die anderen verschlossen bleiben, oder ob das Suchen in spezifische Konstruktionen der Wirklichkeit hineinführt, die anderes für möglich halten, als gemeinhin angenommen wird. Beides erscheint mir nicht ausgeschlossen. Die in der esoterischen Szene häufig anzutreffende Behauptung allerdings, dass die Realität einer zuweilen unsere Wirklichkeit berührenden Totenwelt und der Wiedergeburt mittlerweile wissenschaftlich nachgewiesen sei, ist intellektuell und religiös nicht akzeptabel: Intellektuell ist sie nicht überzeugend, weil die „Beweise“ bei genauer Betrachtung eben doch Zweifel lassen.20 Und religiös ist sie nicht angemessen, weil das Glauben ja gerade eine Wahrnehmung der Wirklichkeit impliziert, die nicht auf rationalem Beweis, sondern auf geschenkter und erfahrener Gewissheit beruht und die zugleich offen bleibt für den Zweifel und den Abgrund der Gottesferne. Eben darum ist die Religion zum Ausdruck ihrer tiefsten Erfahrungen und Überzeugungen auf symbolische Formen angewiesen, die Vieldeutigkeit und Spiel ermöglichen.

Etwas von einer solchen Sichtweise, die Sinn für symbolische Repräsentanzen zeigt und insofern nicht christlich, aber potentiell religiös offen ist, findet sich in einer Äußerung der schwarzen amerikanischen Schauspielerin Halle Berry in einem Interview mit einer deutschen Fernsehzeitschrift: „Wenn ein Mensch stirbt“, so sagt sie, „kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass damit alles vorbei ist. Mir gefällt der Gedanke viel besser, dass geliebte Menschen, die verstorben sind, mich von Zeit zu Zeit besuchen, wenn ich sie brauche... Dabei ist es völlig egal, ob es wirklich passiert oder nicht, sondern wie stark mein Gefühl ist... Beweise brauche ich dafür nicht, aber ich spüre eine Energie, die mich umgibt, und ich will daran glauben, dass sie noch immer bei mir sind.“21

Die Äußerung ist Ausdruck eines – für unsere Zeit sicher typischen – privatisierten Umganges mit den Erinnerungen an die Toten. Berry braucht weder religiöse Autoritäten noch wissenschaftliche Beweise. Für sie gilt als richtig und wichtig, was ihr Gefühl als richtig und hilfreich signalisiert. Das reicht. Dabei weiß sie um den symbolischen Charakter ihrer Aussagen. Die Wirklichkeit der Präsenz der Toten ist für sie eine offene, in gewisser Weise ungeklärte: Ob sie die Energie der Toten als etwas von ihr Unterschiedenes vorfindet oder ob sie diese Wahrnehmung erfindet, bleibt unentschieden. Es ist diese Unentschiedenheit zwischen subjektiv Erschaffenem und Vorgefundenem, die nach D.W. Winnicott den Wert des Übergangsobjektes, in dem die Fähigkeit zum Symbolisieren einen entwicklungspsychologisch frühen Ausdruck findet, ausmacht. Zwischen innen und außen kann es als symbolische Repräsentanz von etwas wirken, das mehr ist als Ich, aber dennoch nur subjektiv realisiert werden kann.22 Diese Unentschiedenheit, die nicht aufgelöst werden darf, sondern deren Reichtum gerade in der Vieldeutigkeit liegt, ist auch signifikant für religiöse Aussagen.23

Anders jedoch als die privatisierten religiösen Aussagen, die Halle Berry über ihre Beziehung zu den Toten macht, wird die christliche Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten von einer Glaubensgemeinschaft geteilt und sie ist in ihrer Bedeutung durch die Geschichte vieler Menschen bewährt. Aber auch der Mehrwert der christlichen Eschatologie ist nur in symbolischer Rede und Anschauung zugänglich, weil auch im Glauben niemand im eigentlichen Sinn wissen kann, was hinter der Grenze des Todes wartet.

Insofern ist die Seelsorge, wenn es um die Frage nach einer möglichen Präsenz der Toten geht, auf die symbolische Rede angewiesen. Das heißt zugleich: Fruchtbar ist eine Perspektive, die sich – wie die Berrys in dieser Hinsicht – nicht fesseln lässt durch die Frage, „ob es wirklich passiert (ist) oder nicht“, sondern die Sprechweisen zwischen objektiver und subjektiver Realität findet und erfindet. Dann wird vieles möglich.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht zunächst, dass eine Begegnung mit einem toten Menschen, wie auch immer sie im einzelnen beschrieben wird, ein gefühlsstarkes Erlebnis für die Trauernden darstellt, das sie mit dem Verlorenen in Kontakt bringt. Der Kontakt ist wichtig, weil es tröstlich ist zu spüren, dass die Toten nicht ganz entzogen sind, sondern auf irgendeine Weise Teil des Lebens bleiben. Aber die Begegnung setzt nicht nur hilfreiche Energien frei, sondern zuweilen ist sie auch beängstigend, aktualisiert ungelöste Konflikte und gefährdet die Fortsetzung des eigenen Weges. Dann kann es zum wichtigen Thema des seelsorgerlichen Gesprächs werden, sich mit den Toten auseinanderzusetzen, von denen die Trauernden besucht und zuweilen auch heimgesucht werden, und „unerledigte Geschäfte“ mit ihnen zu erledigen. Auch Toten kann man im intermediären Raum symbolischer Beziehung noch sagen, was bisher unausgesprochen blieb – oder dem Seelsorger/der Seelsorgerin an ihrer Stelle. Auch von Toten kann auf vielfältige Weise eine Botschaft empfangen werden. Auf diese Weise können offene Auseinandersetzungen abgeschlossen werden, kann man Vergebung für eine Schuld erbitten oder selbst verzeihen.

Man kann in der Seelsorge über die andernorts erlebten Kontakte zu den Toten sprechen, aber man kann auch Begegnungen oder Dialoge mit ihnen in der seelsorgerlichen Situation inszenieren, wenn ein Anlass dafür vorhanden ist, und dabei die heftige emotionale Besetzung solcher Situationen erfahren, die das seelische Empfinden signifikant beeinflusst.24 Auch wenn die Verstorbenen nicht mehr lebendig anwesend sind, so sind sie es doch mindestens in den Phantasien und den Erlebnissen der Trauernden. Mit dieser Realität kann und soll man einen Dialog aufnehmen. Häufig ist es so, dass das Erscheinen eines Verstorbenen von den Trauernden als Signal einer Botschaft aufgefasst wird, die für sie allerdings oft nicht unmittelbar verständlich ist. Es braucht eine Auseinandersetzung damit, die erst dann abgeschlossen ist, wenn sie für den Trauernden/die Trauernde selbst subjektiv plausibel geworden ist. Dazu kann Seelsorge helfen. Helfen kann das seelsorgerliche Gespräch auch, wenn die Toten sich tyrannisch verhalten, sie die Lebenden über den Tod hinaus verpflichten wollen und ihnen die Freiheit in der Gestaltung ihres Lebens zu verwehren drohen. Mit der theologischen Prämisse, dass Gott Herr über Lebende und Tote sei, erhalten solche Bemächtigungsversuche eine korrigierende Perspektive: Es ist möglich, mit den Toten in einen Konflikt einzutreten, so, wie man es mit den Lebenden tut, und sie in ihre Grenzen zu verweisen.25

Diese Prozesse lassen sich theoretisch ähnlich verstehen wie die Auseinandersetzung mit z.B. den Elternfiguren in einem therapeutischen Prozess: Auch hier geht es nicht nur um die Auseinandersetzung mit den realen Eltern, sondern um die Auseinandersetzung mit den Imagines, die Teil der eigenen Psyche geworden sind und die Beziehung und Selbstverständnis stark beeinflussen. Schöbe man sie mit einem entwertenden „das sind doch alles nur Phantasien“ beiseite, würde man ihre Bedeutsam- und Wirksamkeit stark unterschätzen. Alle Beziehungen, in denen wir leben, sind ebenso von der Realität unseres Gegenübers wie auch von den dadurch inspirierten Phantasien und Erinnerungen bestimmt. Vielleicht kann man entsprechend in aller Vorsicht und in achtungsvoller Würdigung der Erfahrungen Trauernder sagen: Der Kontakt zu Toten ist mindestens auch von unserer Phantasie und unserer Beziehungsgeschichte bestimmt. Mit den Gestalten in diesen Phantasien kann man sehr real umgehen und erleben, dass sie sich in diesem Prozess verwandeln.
 

4. Ein Desiderat protestantischer Theologie und Frömmigkeitspraxis

Die protestantische Theologie und Frömmigkeitspraxis ist geprägt von der polemischen Front der Reformation gegen die katholischen Riten für die Toten. Hans-Martin Gutmann hebt in seiner Auseinandersetzung mit der 27. und 28. These Martin Luthers überzeugend hervor, dass ein wesentlicher Aspekt dieser Polemik sich gegen spezifische pervertierte Kommunikationsweisen zwischen Lebenden und Toten richtete, die auf der größenwahnsinnigen Suggestion beruhten, dass über Geld das Geschick der Toten zu beeinflussen sei.26 Die polemische Front gegen die mittelalterlichen Riten für die Toten war eine wesentliche Ursache dafür, dass die Reformation keine Kultur der Totenbegleitung bzw. des rituellen Kontaktes zu den Toten entwickelt hat. Allerdings muss der Perspektive Gutmanns hinzugefügt werden, dass die Auffassung der Reformation den Toten gegenüber nicht nur in dieser Polemik wurzelte, sondern auch einen Reflex der Rechtfertigungstheologie darstellte. So, wie man für die eigene Erlösung im Leben nichts tun und bewirken kann, sondern angewiesen ist auf die Gnade, so sind auch für die Toten die frommen Werke nutzlos, das „Gauckelwerk, für die Toten getrieben, abgethan“ und die Kirchen nicht mehr „Klageheuser und Leidestete... sondern... Schlaffheuser und Rugestete“, wie Luther in der Vorrede zur Sammlung der Begräbnislieder notiert27. Bis hin zur Frage der Fürbitte für die Toten zeigte diese neue Haltung dem Tod gegenüber, die Tote und Lebende voneinander distanzierte, ihre Auswirkungen. Calvin lehnte das Gebet für die Toten strikt ab. Auch Luther sah nur in der privaten Andacht einen Raum dafür: „daheim in seiner Kammer“ dürfe man wenige Male für die Toten beten.28

Die theologische Orientierung der Bestattung war deutlich an den Lebenden orientiert. „Nicht, um den Toten zu begehen, sondern um sich ihres Glaubens zu versichern, versammeln sich die Lebenden um den Sarg... In menschlicher Perspektive sind Lebende und Tote voneinander getrennt, vor Gott sind sie miteinander verbunden. Und diese Verbindung wird durch den Glauben realisiert.“29 Die theologische Neubestimmung des Verhältnisses von Lebenden und Toten und damit auch des Verhältnisses zum eigenen Tod hat nicht nur eine kirchenpolitische, polemische Orientierung zur Voraussetzung, sondern ist auch Ausdruck „eines neu entwickelten reflexiven Bewusstseins, in dem die Lebenden den Toten und sich selbst gegenübertreten“.30 Diese reflexive Distanz ist die Grundlage, auf der Freiheit von den Toten und von der Furcht vor dem eigenen Tod gewonnen wird, indem man ihnen nicht unmittelbar ausgeliefert ist, sondern sie in der Gewissheit des Glaubens von einem dritten Ort her bedenken kann.

Zugleich mit dem Gewinn dieser Freiheit ist die Unmittelbarkeit dem Tod und den Toten gegenüber verloren gegangen, ein Verlust, der heute angesichts der institutionellen Verdrängung des Todes und der Toten wieder neu thematisiert wird. Die Aufmerksamkeit dafür, dass Beziehungen mit dem Tod nicht abgeschlossen sind, wächst. Es wird wahrgenommen, dass sich individuell sehr unterschiedliche Verbindungen zwischen Lebenden und Toten fortsetzen, die zu beachten theologisch bedeutungsvoll ist. Es ist das zu unterstützende Anliegen Gutmanns, darauf den Akzent zu legen. Auch die protestantische Theologie und seelsorgerliche und rituelle Praxis kann sich nicht damit begnügen, die Toten Gott zu überlassen, ebenweil sie jaauf unterschiedliche Weise für die Lebenden präsent sind. Allerdings lässt sich die verlorene Unmittelbarkeit im rituellen Kontakt zu den Toten nicht einfach wiederherstellen, die moderne Unterscheidung von fiktionaler und realer Wirklichkeit nicht aufheben. Vielmehr bleibt die Darstellung der Beziehung zu den Toten eine symbolische Wirklichkeit, die nicht immer im Erleben, wohl aber vom dritten Ort der Selbstreflexivität her auch als eine solche erkennbar wird und es gerade darum zulässt, sie in ihrer Bedeutung so oder auch anders zu verstehen.31

Das sei vorausgesetzt. Dann aber ist es wichtig, dass sich neben der seelsorgerlichen Aufmerksamkeit für das Thema auch Ansätze einer neuen rituellen Praxis im Umfeld des Todes zeigen, und es ist produktiv, diese Ansätze weiterzuentwickeln: Die Segnung der Toten und die Fürbitte für sie bei der Bestattung wird in ihrem Recht nicht mehr bestritten. Die Riten um Tod und Bestattung herum – Abendmahl im Angesicht des Todes, Andacht im Trauerhaus, Aussegnung, Abkündigung am folgenden Sonntag, 40-Tages-Gedenken – finden in den Agenden und in der pfarramtlichen Praxis mehr Aufmerksamkeit. Die Gottesdienste am Letzten Sonntag des Kirchenjahres entwickeln sich vielerorts zu einem liturgisch vielfältig gestalteten Totengedenken, bei dem die Namen der Verstorbenen genannt und/oder in ein Buch geschrieben, Kerzen entzündet und andere symbolische Handlungen vollzogen werden. Es wird ein ritueller Kontakt mit den Toten inszeniert, man weckt Erinnerungen an sie und ruft Gefühle wach. Trauernde machen dabei Erfahrungen, die für sie auf ihrem Weg von großer Bedeutung sind.32 Der Gang auf den Friedhof kann als ein spiritueller Weg erlebt werden, auf dem die Toten noch einmal nahe kommen.Mit Blumen, Wasser und dem sich zunehmend verbreitenden Brauch, ein ewiges Licht auf das Grab zu stellen, gibt man ihnen etwas, das mehr ist als diese Dinge selbst, und vielleicht reißt man mit Unkrautund abgestorbenen Pflanzenresten zuweilen auch sich selbst etwas aus dem Herzen. So verstanden, geben sich Bräuche am Grab zu erkennen als symbolisches Handeln, das eine konfliktreiche Erfahrung hilfreich strukturiert. All dies sind Orte und Anlässe, um mit den Toten umzugehen, ihnen zu begegnen und in ihrer Gegenwart allmählich zu verstehen und anzunehmen, was von ihnen im eigenen Leben wirklich und wesentlich sein und bleiben will.

Auch im Kontext einer christlichen Religionspraxis entstehen so liturgische und seelsorgerliche Räume, in denen der Kontakt zu den Toten nicht abgewehrt werden muss, sondern gestaltet werden kann. Alle sind bewahrt in Gott. Man muss nicht um die Toten fürchten, und man muss sich nicht vor den Toten fürchten. Etwas von diesem Glauben soll sich in der Seelsorge abbilden, indem sie offen ist für die Vorstellungen und Erfahrungen, die Menschen an sie herantragen und über die sie reden wollen. Eine solche dialogische Haltung erscheint mir wichtig vor allem im Hinblick auf die Vielen, die religiös auf der Suche sind. Wem die christliche Lebensdeutung fremd geworden oder wer nie in sie hineingewachsen ist, ist deswegen religiös noch nicht in einem anderen Haus angekommen. Oft fehlen Vorstellungen, Sprachen, Ausdrucksformen gerade, um mit den aufwühlenden Erfahrungen an den Grenzen des Lebens umzugehen. Dann ist ein Gegenüber wichtig, das nicht starr und rechthaberisch auftritt, sondern die symbolischen Schätze des Christentums anbietet als Gefäß, das die Erfahrungen der Menschen aufnehmen und ihnen eine Gestalt geben kann, die es möglich macht, mit ihnen zu leben.

Die Schriften des Neuen Testamentes berichten, wie Jesus in der Zeit nach dem Tag der Auferstehung den Seinen erscheint, sich ihnen zeigt, mit ihnen spricht und isst und wieder entschwindet. 40 Tage lang, so heißt es in Apg 1,3, dauerten diese Erscheinungen. Dann verschwanden sie. Die Anwesenheit des Auferstandenen unter den Menschen muss seither anders erkannt und benannt werden. Entsprechendes kann man in Trauerprozessen heute beobachten: Anfangs sind Erscheinungen der Toten bzw. die Offenheit für religiöse Angebote, die solche Erscheinungen für möglich halten oder sogar versprechen, bei manchen Trauernden wichtig und dominierend. Dann brauchen sie Austausch und Gespräch darüber, manchmal auch Unterstützung gegen die Toten und Hilfe, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Irgendwann treten die Erscheinungen in den Hintergrund, und die Toten ziehen sich gewissermaßen in entferntere Räume zurück.

Auch die Toten, so schreibt Hans-Martin Gutmann, müssten – z. B. auch durch das Bestattungsritual – „lernen, dass sie tot sind“, und den ihnen entsprechenden Weg zu gehen, der sie von den Lebenden entfernt.33 Diese Formulierung darf nicht konkretistisch so verstanden werden, als ob die Lebenden die Macht hätten, den Weg der Toten zu bestimmen. Aber wenn man sie als eine Perspektive der Trauernden hört, klingt es plausibel, dass die Toten etwas zu lernen haben: Ist doch die Trauer der Hinterbliebenen nicht zuletzt davon bestimmt, durch den Kontakt und die Auseinandersetzung mit den Toten diesen einen anderen Ort in ihrem Leben zu geben. Trauer sei „zunächst nichts anderes als die Anstrengung der Überlebenden, ihre Toten aus dem verwundeten innersten Nahbereich in einen weiter gespannten befriedeten Nähe-Ring zu transportieren“34, lautet eine treffende Formulierung Peter Sloterdijks. Bei dieser Anstrengung, die ohne einen wie auch immer gearteten Kontakt zu den Toten und die Arbeit an der Beziehung zu ihnen nicht möglich ist, soll die Seelsorge in Gespräch und rituellem Handeln helfen.
 

Anmerkungen

1  Vgl. die besonders eindrucksvollen Traumsequenzen in den Fallstudien von Verena Kast, Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Stuttgart 1982, die die Verwandlung der Beziehung zu den Toten dokumentieren. Aber manchmal ist das Erscheinen der Toten im Traum auch eine Fessel, die das Leben der Hinterbliebenen schwer belastet. Martin Weimer, Dass Seele sich nicht rechne. Kirchliche Beratung im gesundheitspolitischen Kontext, in: Nordelbische Stimmen, April 2004, 2f, hier: 2, berichtet aus der Arbeit der kirchlichen Beratungsstelle: „Sie kommt, weil sie vor Ängsten nicht mehr schlafen kann. Der Durchfall, das Herzrasen. Aus dem Haus kommt sie kaum noch. Ihre Arbeit schafft sie kaum noch... Nachts ruft ihre Mutter nach ihr. Die ist tot seit ihrem fünften Lebensjahr... Heulend und schreiend wacht sie auf aus so einem Traum. Dann ist sie wach.“

2  Vgl. die Zusammenfassung der Phänomenologie der Trauer bei Kerstin Lammer, Den Tod be-greifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen/Vluyn 2003, 176f.

3  So auch Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung, München 1973, 112: „Die stärkste Bekräftigung des Todes ist das Versenken des Sarges und der erste Erdwurf...“

4  Vgl. Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur. Ein Diskussionspapier, hg. vom Kirchenamt der EKD, Hannover 2004, 7f, 17f.

5  Die Reinkarnationslehre hat unterschiedliche Wurzeln einerseits in den östlichen Religionen, andererseits in der europäischen und amerikanischen Geistesgeschichte, die sich gegenwärtig in sehr variablen und unterschiedlichen Vorstellungskomplexen niederschlagen. Vgl. dazu Hermann Kochanek (Hg.), Reinkarnation oder Auferstehung. Konsequenzen für das Leben, Freiburg/Br. 1992; Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Die Idee der Reinkarnation in Ost und West, München 1996; Rüdiger Sachau (Hg.), Weiterlebennach demTod. Warum immer mehr Menschen an Reinkarnation glauben, Gütersloh 1989, GTB 988; Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hg. v.Reinhard Hempelmann u.a., Gütersloh 22005, 317ff.

6  Vgl. Panorama der neuen Religiosität, 240ff.

7  Vgl. Sachau, Weiterlebennach demTod, 21.

8  Einflussreich sind in diesem Zusammenhang die Veröffentlichungen von Elisabeth Kübler-Ross, die ihr Leben lang und in vieler Hinsicht anregungs- und segensreich das Thema Sterbebegleitung und Trauer zu dem ihrigen machte. Immer stärker hat sie in diesem Zusammenhang auch religiöse Überzeugungen über Tod und Weiterleben entwickelt, die vor allem deshalb fragwürdig sind, weil sie nicht als subjektive Erfahrungen und Überzeugungen präsentiert, sondern mit dem Anspruch wissenschaftlicher Autorität gemacht werden. Vgl. z.B. Elisabeth Kübler-Ross, Über den Tod und das Leben danach, Melsbach/Neuwied 21984. Der hervorragende Film „Elisabeth Kübler-Ross – Dem Tod ins Gesicht sehen“ des Schweizer Regisseurs Stefan Haupt (2003) verdeutlicht, dass diese Orientierung Kübler-Ross’ durch den Kontakt zu neureligiösen Gruppen geprägt war, durch die sie sich während einer Lebensphase auf problematische Weise vereinnahmen ließ.

9  Vgl. Sachau, Weiterlebennach demTod, 129ff.

10  Auch die erhöhte Suizidgefährdung Trauernder (vgl. Lammer, Den Tod be-greifen, 181f) hat eine mögliche Ursache in dem Wunsch, sich mit dem verlorenen Menschen wieder zu vereinen.

11  Vgl. Wolfgang Teichert, Trauer als Raum. Eine Anfrage an das Phasenmodell, in: PTh 91 (2002), 403-410, hier: 403.

12  Dieses Anliegen als ein auch theologisch sinnvolles und berechtigtes speziell im evangelischen Verständnis des Todes neu zur Geltung zu bringen, verfolgt Hans-Martin Gutmann, Mit den Toten leben – eine evangelische Perspektive, Gütersloh 2002.

13  Dieser wesentliche Begriff, mit dem Yorick Spiegel die Trauerarbeit qualifiziert, zeigt, dass er selbst sein Phasenmodell als lebendiges Geschehen verstanden hat und gerade nicht als zwingende und formalisierte Abfolge von Stadien der Trauer.

14  Vgl. zum Folgenden John Bowlby, Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen, Stuttgart 1982 (engl. Originalausgabe von Kap. 1-7 unter dem Titel „The Making and the Breaking of Affectional Bonds“, Tavistock Publications 1979).

15  Vgl. John Bowlby, Das Trauern in der Kindheit und seine Implikationen für die Psychiatrie, ebd., 62-88.

16  Vgl. John Bowlby, Trennung und Verlust innerhalb der Familie, ebd., 105-129.

17  Vgl. ebd., 109.

18  Die wirklichkeitsbestimmende Kraft dieser Wahrnehmungseinstellung zeigt der Fall einer jungen Patientin Bowlbys, deren Vater unerwartet nach einer Operation gestorben war: „In den auf den Tod ihres Vaters folgenden Wochen ... hatte sie in der halben Überzeugung gelebt, dass das Krankenhaus sich in der Person geirrt hätte und dass sie anrufen würden, um ihr zu sagen, dass er am Leben und bereit sei, nach Hause zurückzukehren. ... Noch jetzt, zwölf Monate später, hatte sie diese Gedanken und Gefühle. Sie erwartete immer noch halb eine Nachricht aus dem Krankenhaus... Ferner traf sie heimlich immer noch Vorkehrungen, um ihren Vater bei der Rückkehr empfangen zu können. Das erklärte, warum sie so böse auf ihre Mutter geworden war, als diese die Wohnung, in der die alten Leute zusammengelebt hatten, renoviert hatte und warum sie selbst die Renovierung ihrer eigenen Wohnung immer hinausgeschoben hatte: Sie hielt es für wichtig, dass ihr Vater, wenn er schließlich zurückkehrte, eine vertraute Umgebung vorfände.“ (Ebd., 120f) Dieses Beispiel macht auch deutlich, wie wichtig es ist, die Phantasien und Vorstellungen in Bezug auf die Toten ins Gespräch zu bringen, damit sie nicht als inneres Geheimnis erstarren, sondern sich im lebendigen dialogischen Prozess verwandeln und verändern können.

19  Friedrich Rückert, in: Ludwig Reiners (Hg.), Der ewige Brunnen, München 1982, 286.

20  Vgl. Johannes Mischo, Methodenprobleme der empirischen Reinkarnationsforschung, in: Kochanek, Reinkarnation oder Auferstehung, 134-158; Eberhard Bauer, Lässt sich Reinkarnation wissenschaftlich beweisen?, in: Schmidt-Leukel, Die Idee der Reinkarnation in Ost und West, 152-176. Beide Beiträge sind trotz ihres kritischen Urteils gleichzeitig durchaus von einem positiven Interesse an der Lehre der Reinkarnation bestimmt.

21  „All dieser Wahnsinn zu Hause“. Interview mit Halle Berry, in: rtv Nr.12/2004, 6.

22  Vgl. Donald W. Winnicott, Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, in: ders., Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1983, 200-319, hier: 315f.

23  Vgl. dazu auch Hartmut Raguse, Der Raum des Textes. Elemente einer transdisziplinären theologischen Hermeneutik, Stuttgart 1994, 187ff.

24  Eine besonders eindrucksvolle Vorstellung davon, wie eine solche Inszenierung aussehen kann, gibt die Fallbeschreibung des „unheimlichen Besuchers“ in: Kurt Lückel, Begegnung mit Sterbenden, „Gestaltseelsorge“ in der Begleitung sterbender Menschen, München 1981, 93-101.

25  Die spiritualistische Auffassung eines Zugriffs der Toten auf die Lebenden impliziert hingegen oft die höhere und unabweisbare Autorität der Toten, wenn sie sich den Lebenden zeigen. Vgl. z.B. Kübler-Ross, Über den Tod und das Leben danach, 38ff, die berichtet, wie die Erscheinung einer Toten sie darauf verpflichtet, die bisherige Arbeit über Tod und Sterben fortzusetzen, die sie eigentlich aufgeben wollte.

26  Vgl dazu Gutmann, Mit den Toten leben, 160f.

27  WA 35, 478f.

28  Vgl. FriedemannMerkel, Art. Bestattung IV. Historisch, in: TRE, Bd. 5, 743-749, hier: 748.

29  Vgl. Wolfgang Steck, Speculum vitae. Die Bedeutung der Reformation für die Entwicklung eines neuzeitlichen Todesbewusstseins, in: Hans-Martin Müller/Dietrich Rössler (Hg.), Reformation und Praktische Theologie, FS für Werner Jetter, Göttingen 1983, 247-289, hier: 270.

30  Ebd., 266.

31  Insofern ist der Rekurs Gutmanns auf die rituelle Gemeinschaft von Lebenden und Toten im zaristischen Russland, in Mexiko, im alten Israel und im mittelalterlichen Totentanz zwar interessant und anregend. (Vgl. Gutmann, Mit den Toten leben, 156ff.) Aber er lässt die Frage offen, auf welche Weise denn unter den Bedingungen der Moderne diese Beziehung rituell sinnvoll darstellbar ist, ohne in die Gefahr zu geraten, eine Faktizität der Begegnung zu unterstellen, die ihrer symbolischen Qualität nicht angemessen wäre. Spätestens wenn Gutmann am Schluss des Buches in einer Beerdigungsansprache die Tote direkt anspricht, ohne ein „als ob“ solcher Redeweise kenntlich zu machen, erscheint mir die Gefahr einer konkretistischen Verwechselung der Wirklichkeiten gegeben zu sein. (Vgl. ebd., 224.)

32  Vgl. Petra Zimmermann, Der Gottesdienst am Totensonntag, in: PTh 88 (1999), 452-467.

33  Vgl. Gutmann, Mit den Toten leben, 214.

34  Peter Sloterdijk, Sphären 2, Frankfurt a.M. 1998, 170.