Kontroverse über das freireligiöse Selbstverständnis
„Absage an die Religioten: Ohne Gott ginge es uns besser.“ Dies ist Überschrift, Motto und die Hauptaussage eines polemischen Beitrags in der freireligiösen Zeitschrift „Wege ohne Dogma“ (WOD 9/2013, 187ff). Geschrieben wurde der Beitrag von dem Religionskritiker und Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung, Michael Schmidt-Salomon. Der Text ist ein Nachdruck. Einige Monate zuvor erschien er im Playboy (5/2013). Immer wieder verweist der Autor darauf, dass religiöse Überzeugungen und religiöse Praxis wahnhaft seien, dass sie für die Zivilisation eine große Gefahr darstellten. „Denn eine Zivilisation, die das Atom spaltet und über Satelliten kommuniziert, kann es sich nicht leisten, religiösen Fiktionen aus grauer Vorzeit zu folgen“ (189).
Im Nachgang zur Publikation dieses Beitrages entwickelte sich eine ebenso intensive wie kontroverse Diskussion darüber, inwiefern ein atheistischer Exklusivismus in einer Zeitschrift Platz finden sollte, deren Anspruch es ist, für Toleranz, Pluralismus und Freiheit in allen weltanschaulichen und religiösen Fragen einzutreten. Bis heute ist diese Diskussion in den nachfolgenden Ausgaben der Zeitschrift nicht zum Stillstand gekommen. Kirsten Reuther bemerkt etwa im Dezemberheft: „Wer seinen Vernunftglauben mit dieser Arroganz vorträgt, sitzt im selben Boot wie diejenigen, die er bespuckt. Und wo immer Aufklärung zum Dogma verkommt, läuft sie Gefahr, Gewalt als Mittel der Missionierung zu akzeptieren. Diesen Irrweg haben andere Religionen bereits überwunden“ (WOD 12/2013, 261). Renate Bauer formuliert als Fazit und Reaktion auf den Artikel Schmidt-Salomons, dass dieser mit seinem Beitrag „dem Humanismus jeglicher Form keinen Gefallen getan“ habe (263). In der Ausgabe 1/2014 wurde die gesamte Diskussion erneut dokumentiert und mit dem Hinweis eingeführt, es sei schon lange her, dass ein Artikel in der Zeitschrift der Freireligiösen zu solch kontroversen Stellungnahmen geführt habe.
Die Diskussion behandelte dabei unter anderem die Frage, ob das freireligiöse Selbstverständnis zuerst auf eine „Freiheit in der Religion“ oder eine „Freiheit von Religion“ ausgerichtet sei. Auch auf die Kritikerinnen und Kritiker Schmidt-Salomons wurde kritisch reagiert: „Seit wann darf in freireligiösen Kreisen keine Religionskritik geäußert werden?“ (WOD 1/2014, 13). Die freireligiöse Landesgemeinschaft Hessen hatte bereits in der Phase der beginnenden Diskussion im September 2013 eine Erklärung abgegeben, in der es heißt, dass „die betriebene ‚Atheisten-Hatz‘ nicht hinnehmbar“ und der „Freireligiösen-klerikalen Intoleranz“ ihre Grenzen aufzuzeigen seien (WOD 1/2014, 19). Anders positioniert sich Martin Bucher. Er vertritt die Meinung, Schmidt-Salomon habe mit seinem Artikel „die Grenzen des seriösen Atheismus überschritten … Alle gesellschaftskritischen Freireligiösen, alle humanistischen Freidenker und alle echten Unitarier sollten sich endlich und bald fragen, ob Schmidt-Salomon denn ein guter Beweger und Anleiter unserer Sache ist oder ob er mit seiner Richtung den ganzen modernen Humanismus in Deutschland in Misskredit bringt und in die gefährliche Sackgasse des Sektierertums führt“ (ebd., 17).
Auch in den Folgeheften (WOD 2 und 3/2014) geht es um die Verhältnisbestimmung zwischen einem freireligiösen und einem atheistischen Selbstverständnis. Während der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) die Freireligiösen – hier und da offensichtlich erfolgreich – dazu einlädt, unter sein Dach zu kommen, den eigenen Namen zu ändern und atheistischen Perspektiven mehr Raum zu geben, sehen andere Freireligiöse dies skeptisch. Udo Beckmann kritisiert an Schmidt-Salomon, dass er sich ausschließlich mit den negativen Aspekten der Religionen befasse. „Wir Freireligiösen verhalten uns ... dann richtig, wenn wir es vermeiden, den Menschen zu sagen, was sie denken und glauben sollten und was nicht. Jeder Mensch sollte nach reichlicher Überlegung und Abwägung der Argumente für sich selbst entscheiden, was er glauben will und was nicht“ (WOD 3/2014, 53). Ute Janz weist darauf hin, dass die freireligiöse Perspektive als eine „säkulare Religion“ verstanden werden könne. „Vielleicht könnte man auf die Begrifflichkeit der Religion oder des Religiösen verzichten. Aber warum sollten wir die Deutungshoheit über diesen für die Kulturgeschichte so bedeutsamen Bereich den herkömmlichen Religionen überlassen?“ (Ebd., 55). Sie verweist auf das breite Spektrum von Pantheisten, Agnostikern bis hin zu Atheisten und Skeptikern, das sich in der Religionsgemeinschaft der Unitarier wie auch bei den Freireligiösen findet. Das Verbindende für alle ist „das Bewusstsein eingebunden zu sein in die Natur, den Kosmos, Sinn aber nur zu erfahren im konkreten menschlichen Leben, über das verantwortungsvolle Miteinander in der menschlichen Gemeinschaft“ (ebd., 56).
Die intensive Diskussion über Selbstverständnis und Anliegen freireligiöser Gemeinschaften weist darauf hin, dass einzelne Mitglieder deutlichere Reformsignale von dem schrumpfenden und teilweise unsichtbar gewordenen Bund Freireligiöser Gemeinden in Deutschland (BFGD) erwarten. „Die Angst vor ... Veränderung ist so groß, dass man lieber ... das schleichende Absterben hinnimmt ... als zu erkennen, dass mittlerweile außerhalb des BFGD mehr Freireligiöse organisiert sind als innerhalb“ (WOD 3/2014, 51). Einige fragen, ob die Etikettierung als staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft unter heutigen Bedingungen angemessen sei. Im Interview, das Carsten Frerk von der Giordano Bruno Stiftung mit der freireligiösen Ute Janz führte, ist zu lesen, dass sie einer Namensänderung und vor allem einem Anschluss freireligiöser Gemeinschaften an den Humanistischen Verband skeptisch gegenübersteht. Die Freireligiösen hätten sich dem Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW) angeschlossen und sich damit für einen anderen Weg entschieden. „Bisher sind wir damit sehr gut gefahren. Es hat sich da eine überaus loyale und fruchtbare Zusammenarbeit entwickelt, die getragen ist von einem offenen und vertrauensvollen Dialog“ (59). Die Frage Frerks nach einem zukünftigen Engagement der freireligiösen Bewegung im Humanistischen Verband wird an ihn von der Befragten zurückgegeben: „Warum wird eigentlich der Humanistische Verband nicht Mitglied im Dachverband?“ (59). Was in der skizzierten Debatte ebenso weiterer Klärung bedarf, ist die Frage des Verhältnisses von Humanistischen Verbänden zu der ausgrenzenden Religionskritik der Giordano Bruno Stiftung. Der Ausgangspunkt der Kontroversen war ein polemisches Pamphlet, dessen Aussagen zu dem Konzept eines „praktischen Humanismus“ genauso wenig passen wie zu der Tradition der freireligiösen Gemeinden, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Deutschkatholizismus und den ursprünglich protestantischen Lichtfreunden entstanden.
Reinhard Hempelmann