Alternative Medizin

Kontroversen um Reiki im Krankenhaus

(Letzter Bericht 8/2012, 301f) Nutzten Anfang der 1970er Jahre etwa 50 Prozent der deutschen Bevölkerung komplementäre medizinische Behandlungsmaßnahmen, so stieg der Anteil auf über 70 Prozent im Jahr 2010. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet die „best practice“ von konventioneller und komplementärer Medizin (CAM) als Integrative Medizin; dabei werden Therapieverfahren aus Schulmedizin, Naturheilkunde und komplementären Richtungen aufeinander abgestimmt. 80 Prozent der Bevölkerung wünschen heute eine solche Kombination in der Krankenbehandlung (vgl. Hans-Wolfgang Hoefert u. a. [Hg.], Komplementärmedizin im Krankenhaus, München 2014). Besonders nachgefragt sind etwa die Misteltherapie zur ergänzenden Krebsbehandlung, Ayurveda und Yoga bei Schmerzen sowie Reiki. Sechs erfahrene Reiki-Therapeuten arbeiten beispielsweise seit einigen Jahren in einem berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus in Berlin mit und wollen durch spezielle Entspannungstechniken und energetische Behandlungen die Heilung der Patienten unterstützen.

Die Einbeziehung von Reiki wird allerdings auch kritisch gesehen. In der amerikanischen Zeitschrift eines katholischen Ärzteverbands z. B. wird dargelegt, dass die weltanschauliche Basis von Reiki zu anderen Glaubensüberzeugungen im Widerspruch stehen könne und deshalb die Anwendung bei Patienten u. U. spirituelle Konflikte hervorrufe (Maria Arvonio, Cultural competency, autonomy, and spiritual conflicts related to Reiki/CAM therapies: Should patients be informed? The Lineare Quarterly 81/2014, 47-56). Die Autorin, die als Pflegedienstleitung in einem katholischen Krankenhaus in New Jersey arbeitet, zeigt in ihrem Aufsatz die ethischen Konflikte auf, die entstehen können, wenn Reiki-Anwendungen als eine vermeintlich säkulare alternativmedizinische Behandlungsmethode zum Einsatz kommen. Der weltanschauliche Hintergrund von Reiki sei erheblich (vgl. auch MD 4/2014, 153-157) und werde meist nicht transparent gemacht. Aus Sicht dieser katholischen Krankenschwester können Reiki und weitere komplementäre bzw. alternativmedizinische Verfahren nicht in einem katholischen Krankenhaus angewendet werden, weil sie der katholischen Lehre widersprechen würden. Die Autorin argumentiert mit den fachlichen Qualitätskriterien professioneller Krankenpflege. Durch diese verbindlichen Standards sollen die Autonomie und die kulturellen sowie religiös-spirituellen Glaubensüberzeugungen des Patienten geschützt werden.

Um Konflikte zu vermeiden, hat die Autorin in ihrer Funktion als Pflegedienstleiterin für ihr Haus ein Formblatt mit einer Einwilligungserklärung für alternativmedizinische Behandlungen entwickelt. Auf der vom Patienten zu unterschreibenden Erklärung werden folgende Informationen dokumentiert: Name, Ausbildungsort und -grad des Behandlers, Art der CAM-Methode sowie der weltanschauliche Hintergrund der CAM-Behandlung – anzukreuzen sind hier Buddhismus, Hinduismus, katholisch oder sonstige. Fraglich ist allerdings, ob CAM-Anbieter in der Lage und bereit sind, Auskunft über den weltanschaulichen Hintergrund ihrer Methode zu geben. Und wenn z. B. die Ki-Energie der Heiligen Geistkraft gleichgesetzt und als gut katholisch angeboten wird, ist zwar dem Formblatt Genüge getan, aber Konflikten möglicherweise trotzdem nicht vorgebeugt.

Bestmögliche Transparenz ist auf dem undurchsichtigen Feld der Alternativmedizin nötig, um eine zum Weltbild des Patienten passende Behandlungsmethode einzusetzen. Die Reflexion und Offenlegung der weltanschaulichen Wurzeln von CAM-Methoden ist dazu eine unverzichtbare Voraussetzung.


Michael Utsch, 15.08.2016