Konversionen zum messianisch-jüdischen Glauben
Eine religionssoziologische Einschätzung
Die messianisch-jüdische Bewegung stellt immer wieder und höchst aktuell besonders ein Pulverfass im jüdisch-christlichen Dialog dar. Dies zeigt zum Beispiel die Stellungnahme des Kirchentagspräsidiums zur Teilnahme messianisch-jüdischer Gruppierungen am Stuttgarter Kirchentag 2015, in der es heißt, dass messianische Juden nicht zur aktiven Mitwirkung, zum Beispiel auf dem Markt der Möglichkeiten, zugelassen werden,1 und als Reaktion darauf der vehemente Widerspruch des württembergischen Landesbischofs Frank Otfried July, der vor der in Stuttgart tagenden Landessynode betonte: „Messianische Juden haben Platz und Stimme auf dem Kirchentag. Darauf kommt es an.“2
Messianische Jüdinnen und Juden glauben an Jesus als den Messias Israels.3 Sie haben sich seit 1995 als feste Bewegung im deutschen Raum etabliert und treffen sich mittlerweile in knapp 40 Gemeinden und Gruppen mit etwa 1000 regelmäßigen Besuchern in Deutschland, sodass Hans Hermann Henrix bereits im Jahr 2007 von einer „überraschenden Wirklichkeit des gegenwärtigen messianischen Judentums“4 spricht.
Um dem Phänomen messianische Juden und insbesondere deren Identitätsfrage besser begegnen zu können, stelle ich nach einem knappen historischen Überblick die Etablierung messianisch-jüdischer Gemeinden in Deutschland und deren Gemeinde- und Gottesdienstleben vor. Anschließend nehme ich anhand von drei Fallgeschichten eine religionssoziologische Einschätzung vor.
Historische Judenchristen und gegenwärtige messianische Juden
„Wir glauben, dass messianisches Judentum heute die Fortsetzung des biblischen, rechtmäßigen Judentums ist“, heißt es in einem messianisch-jüdischen Glaubensbekenntnis.5 Doch kann man von einer kontinuierlichen Entwicklung von Judenchristen zu heutigen messianischen Juden ausgehen?
Die ersten Judenchristen in der Jerusalemer Urgemeinde glaubten, dass Jesus der verheißene Messias Israels war. Dies geschah als innerjüdische Gruppe, und die Judenchristen lebten weiter im jüdischen religiösen Kontext.6
Mit der Aufnahme der Heidenchristen entstand eine gemischte Gemeinde, und die Distanz zum Judentum wurde verstärkt, weil zum Beispiel der Ritus der Beschneidung als Trennungszeichen von Juden und Heiden infrage gestellt wurde. Auch die drei Ausdrucksformen des neuen Glaubens (Taufe, Abendmahl und Christus als Messias) forcierten bald die Loslösung zum Judentum.7 Ab dem frühen 2. Jahrhundert betrachtete sich die heidenchristliche Kirche aufgrund der aufkommenden Substitutionstheologie selbst als das wahre Israel und verwehrte es den judenchristlichen Mitgliedern, weiter an ihrem jüdischen Erbe festzuhalten.8 Das führte dazu, dass die Judenchristen als eigenständige Gruppierung „verschwanden“. Gleichwohl hinterließen sie bis ins 5. Jahrhundert und in einigen Kirchen sogar darüber hinaus religiöse „Spuren“ wie Bräuche oder Symbole.9 In den späteren Jahrhunderten zwang die heidenchristliche Kirche Juden zur Taufe, Juden erlitten Verfolgungen und Pogrome, und somit gab es lange Zeit keine judenchristliche Bewegung mehr.
Erst die Puritaner und die Pietisten im 17. und 18. Jahrhundert interessierten sich wieder für das Judentum und suchten den Dialog mit Juden. Die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts belebten wiederum die pietistische Frömmigkeit, und es entstanden die Pfingst-, die charismatische und die evangelikale Bewegung. Des Weiteren förderte die Erweckungsbewegung das Entstehen judenmissionarischer Werke, wodurch erstmals seit Jahrhunderten wieder viele Juden freiwillig den Glauben an Jesus als den Messias Israels annahmen, dabei aber in den jeweiligen Kirchen verblieben.
Manche einzelne judenchristliche Gruppierungen waren nur von kurzer Dauer, zum Beispiel 1813 die „Beni Abrahams“ (Kinder Abrahams) in London, hier trafen sich 41 konvertierte Juden, um den Sabbat gemeinsam zu feiern, oder von 1884 bis 1914 die Gemeinschaft von ca. 150 jesusgläubigen Juden in Moldawien, die sich u. a. „Israeliten des neuen Bundes“ nannten.
Erst im 19. und 20. Jahrhundert schlossen sich an Jesus Christus glaubende Juden, die sich nun „Hebräische Christen“ nannten, zu Verbindungen zusammen, die Bestand hatten, z. B. 1865 die „Hebrew Christian Union“ (HCU), 1915 die „Hebrew Christian Alliance of America“ (HCAA) und insbesondere 1925 die „International Hebrew Christian Alliance“ (IHCA).
Innerhalb dieser hebräisch-christlichen Bewegung trafen sich zu Beginn der 1970er Jahre wiederum einzelne Gruppen, die viele jüdische Elemente in ihre Gottesdienstformen integrierten. Insbesondere in Amerika wandten sich viele junge Juden verstärkt den traditionellen jüdischen Gebräuchen zu; so bezeichnete sich in Cincinnati eine Gruppe hebräischer Christen und nichtjüdischer Glaubender, die seit 1970 bestand, zuerst als „Jews who believe in Messiah Jesus“, dann als „Messianic Jews“. 1974 existierten bereits ähnlich strukturierte Gruppen und Gemeinden in Philadelphia, Washington, Chicago und Los Angeles. Eine der neu entstehenden Gruppen in diesen Kontexten war die evangelikal-charismatische Gruppe der „Jesus People“, die auch viele Juden erfasste, und ab 1970 die Gruppe „Jews for Jesus“ als Zweig der „Jewish Mission of America“ (JMA) in San Francisco, die durch provozierende Straßen- und Campuseinsätze mit Schauspiel und Gesang auf sich aufmerksam machte.
Auf der Konferenz der HCAA in Florida 1973 diskutierten die jüngeren Mitglieder intensiv einen Namenswechsel der „Young Hebrew Christian Alliance“ (YHCA) zu „Young Messianic Jewish Alliance“, der dann 1975 vollzogen wurde. Auch aus der „Hebrew Christian Alliance of America“ wurde die „Messianic Jewish Alliance of America” (MJAA). Die Konferenz von 1975 war die bis dahin größte hebräisch-christliche bzw. nun erste messianisch-jüdische Konferenz. Die Mitglieder tagten eine Woche lang und feierten charismatische Gottesdienste mit vielen jüdischen Elementen.
Mittlerweile hat sich messianisches Judentum weltweit verbreitet, wobei sich stark divergierende Schätzungen auf 50 000 bis 332 000 messianische Juden in 165 bis 400 Gemeinden belaufen.10
Anhand der geschilderten Stationen zeigt sich, dass viele Juden, die sich zum Glauben an Jesus als den Messias bekannten, nicht in einem jüdischen Kontext aufgewachsen und oft in einem heidenchristlichen Umfeld konvertiert sind. So weist Bernd Schröder darauf hin, dass heutigen messianischen Juden dementsprechend nicht die gleichen Funktionen zufallen können wie den Judenchristen der neutestamentlichen Ära,11 was auch die Identitätsfrage spannend macht. Besonders deutlich wird das an der Entwicklung des messianischen Judentums in Deutschland.
Entwicklung des messianischen Judentums in Deutschland
In Deutschland führte der Holocaust nicht nur zu einem Abbruch jüdischen Lebens, sondern die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung von Millionen Juden schloss die an Jesus als den Messias Israels glaubenden Juden mit ein. Ohne die Einwanderung russischer Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990 im Rahmen des Kontingentflüchtlingsgesetzes wäre es weder zu einer Wiederbelebung jüdischer Gemeinden in Deutschland noch zur Entwicklung einer aktiven messianisch-jüdischen Bewegung gekommen.
In Deutschland engagierten sich vereinzelt messianische Juden, die bereits Anfang der 1990er Jahre durch den Kontakt mit evangelikalen Gläubigen in der Sowjetunion konvertiert waren. Durch zahlreiche Kontakte dieser Pioniere mit Mitarbeitern evangelikaler Werke12 und gemeinsame missionarische Aktivitäten entstanden die ersten Gemeinden in Berlin (1995), Düsseldorf (1996), Hamburg (1996), Stuttgart (1996) und Hannover (1999). Mittlerweile gibt es ca. 20 Gemeinden und 19 messianisch-jüdische Gruppen in Deutschland, wobei die Bewegung von einer großen Dynamik geprägt ist.13
Individuelle Wege zum messianisch-jüdischen Glauben
Ein empirisches Modell individuellen und kollektiven Ritualerlebens sollte davon ausgehen, dass ein an Ritualen partizipierender messianischer Jude auch die „Kon-Texte“ der „Ritualtexte“, das heißt der gottesdienstlichen Handlungen, versteht.14 Das heißt, kollektive messianisch-jüdische Strukturen sollten sich an den individuellen Erfahrungen der Partizipierenden als „living human documents“15 erkennen lassen, was ich an den drei typischen Fallgeschichten16 aufzeigen möchte: der Konversion des 28-jährigen Pawel aus Usbekistan, des 48-jährigen Wladimir aus der Ukraine (Kiew) und der 72-jährigen Galja aus Russland (St. Petersburg). Die Fallgeschichten sind aus einer Studie hervorgegangen, die ich unter messianisch-jüdischen Gemeinden und Gruppen durchgeführt habe.17
Die Fallgeschichte „Pawel“
Pawel wird 1977 als Sohn eines Juden und einer nichtjüdischen Ukrainerin in Usbekistan geboren und erfährt zunächst nichts von seiner jüdischen Abstammung. Nach der Scheidung seiner Eltern lebt er bei seiner Mutter. 1990 erkrankt die Mutter schwer, daraufhin hat der dreizehnjährige Pawel das erste Mal ein „persönliches Erlebnis“ (NI 7: 3/25-25)18 mit Gott. Weil seine Mutter daraufhin gesund wird, lässt er sich zusammen mit ihr in einer russisch-orthodoxen Kirche taufen. Die Taufe in der Atmosphäre dieser Kirche befremdet ihn allerdings sehr. Dennoch lässt ihn der Gedanke an Gott nicht los: Er habe „ab diesem Zeitpunkt … nie daran gezweifelt, dass es Gott gibt“ (3/18-20). Er unternimmt zwischen 1991 und 1993 verschiedenste Anläufe, die Bibel zu lesen, wobei ihm aber ein tieferes Verständnis verwehrt bleibt.
1994 erfährt er als Siebzehnjähriger erstmals von seiner jüdischen Identität. 1995 bekommt er ein Neues Testament geschenkt, wodurch er einen offenbarenden „Ruf von Jesus Christus“ (5/33) vernommen habe. Diesem Ruf habe er sich aber zunächst bewusst verweigert, da er glaubte, dass er sich dann ganz von „einem Leben in der Welt“ (6/2) distanzieren müsse.
Während des Studiums, als Pawel von seiner ersten ernsthaften Liebesbeziehung enttäuscht ist, verfällt er in eine lang anhaltende Depression mit Suizidgedanken. Daraufhin ist er nach dem „Alles-oder-nichts-Prinzip“ bereit, sich auf den Öffnungsmoment der Konversion einzulassen (8/2-3): „Also äh … als in der schwersten …, also als es wirklich schlimm ging, bin ich ... ich, da hab ich dann, bin ich zu Gott gegangen in meinem Herzen. Schon wieder! Hab gesagt, Vater, zieh mich raus! Es ist so dunkel (lacht trocken) und nicht gut hier, wo ich jetzt gelandet bin“ (NI 7: 8/5-8).
Pawel versteht die anschließende Begegnung mit einem Missionar der evangelikalen Organisation „Campus für Christus“ als Antwort auf diesen Hilferuf, da der Missionar ihm zur Konversion verhilft. Der Missionar gibt Pawel die Broschüre „Die vier geistlichen Gesetze“19 (10/6-7), und Pawel spricht mit ihm zusammen ein „Übergabegebet“. Pawel thematisiert, dass er im Zuge seiner Konversion von seiner Depression geheilt worden sei. Wichtiger jedoch sei die „Entscheidung“ gewesen, die er „richtig im Herzen“ getroffen habe (9/9-10). In dem Moment, in dem er sein Leben Gott übergeben habe, habe er „eine innerliche Erleichterung verspürt“ (9/31), und „das Leben war voller Farben schon wieder“ (9/5-6). Diese Erfahrungen entziehen sich für Pawel auch allen alltagssprachlichen Erklärungen: „Also man kann nicht diese … Antwort … ähm… genau zusammenfassen … in Worte fassen“ (9/16-17).
Von 1996 bis 1998 liest er intensiv und regelmäßig in der Bibel und trifft sich mit anderen an Jesus als den Messias glaubenden Juden und mit evangelikalen Christen zum Austausch über den neuen Glauben. Mitte 1999 schließt er sein Studium zum Elektroingenieur ab. Im Herbst 1999 lässt er sich in Usbekistan „messianisch-jüdisch“ taufen, dieses Mal geschieht die Taufe in einem Gebirgssee im Rahmen einer messianisch-jüdischen Konferenz. Drei Wochen später reist er nach Deutschland aus.
Seit 2001 besucht er eine messianische Gemeinde in Stuttgart und nimmt dort an Hauskreisen, Bibelstunden und sonstigen Versammlungen teil. Mittlerweile leitet er auch Bibelarbeiten, manchmal hält er eine Toraauslegung im Gottesdienst.
Die Fallgeschichte „Wladimir“
Wladimir wird 1957 in der Ukraine in ein jüdisches Elternhaus in Kiew geboren und wächst dort ohne jüdische Erziehung auf. Von 1975 bis 1980 absolviert er ein Studium zum Ingenieur in der Metallindustrie, er heiratet und hat zwei Söhne.
1987 stellt er sich erstmals Fragen nach dem Sinn des Lebens und führt 1992 ein Gespräch mit einem russischen nichtjüdischen Freund, der ihm von seiner Bekehrung erzählt. Wladimir ist aber zunächst skeptisch. Dennoch besucht er von 1992 bis 1994 sporadisch eine baptistische Gemeinde in Kiew und liest regelmäßig den Tenach. Dort weist ein nichtjüdisches Ehepaar Wladimir auf dessen jüdische Identität hin: „Wir sind alle Heiden, alle Heiden und du … bist der Jude … du gehörst zum Volk, das von Gott auserwählt ist“ (NI 10: 2/27-29). Wladimir kommt dann durch das Lesen des Tenachs ebenfalls zu der von Gott „offenbarten“Erkenntnis, dass er zu Gottes auserwähltem Volk gehört: „Und ehrlich gesagt, habe ich … äh … ziemlich wenig Problem, wenn ich das Alte Testament gelesen habe. Gott hat mir sofort geöffnet, was bedeutet das jüdische Volk: Abraham, Isaak, Jakob … Und ich hab verstanden, dass er mein Gott auch ist“ (NI 10: 2/33-3/6). Wladimir definiert sich daher rasch als Jude, aber mehr ethnisch als religiös.
Wladimir ist nun als aktiv religiös Suchender zu bezeichnen. So erfährt er nicht nur theoretisches Wissen über die Konversion, sondern hat diese auch schon mehrmals bei anderen Personen beobachtet. So kennt er die Situation nach der Predigt, wenn der Pastor die Besucher auffordert, nach vorne zu kommen und sich zu Jesus zu bekehren (NI 10: 4/16-21). Das heißt, Wladimir hat das beobachtbare Verhalten anderer Personen bei ihrer Begegnung mit einer sogenannten transzendenten Erfahrung bereits kennen gelernt. Dass er aber bisher dieser Aufforderung nicht nachkommen konnte, begründet er wie folgt: „Ich hab das Gefühl, dass mich eine Kraft festhält, ich konnte nicht aufstehen und nach vorne gehen. Und einfach gehen und knien und wie gesagt Buße tun“ (NI 10: 4/21-23).20
Kurz vor der Konversion erlebt Wladimir einen emotionalen Zusammenbruch. Er zeigt Unverständnis über den Tod Jesu sowie über das angebliche Schuldeingeständnis der Juden in Mt 27,25: „Wenn die Ältesten … gesagt, das Blut von Jesus komme auf uns und unsere Kinder“ (NI 10: 3/16-17). Dies fordert ihn zu einem zweifelnden Ruf zu Jesus heraus: „Ich bin nicht einverstanden, Jesus! Ich bin erstes Mal, ich bin niedergekniet und habe gebeten zu Jesus und ich habe geweint und ich habe noch nicht verstanden, was überhaupt passiert“ (NI 10: 3/17-19).
Wladimirs Konversion findet im baptistischen Gottesdienst statt. Nun kommt hinzu, dass es ein „Pfingsttag“ (NI 10: 3/24) ist, an dem Wladimir konvertiert. Gerade die positive emotionale Gesamtatmosphäre des Gottesdienstes zur Feier der „Geburtsstunde“ der Kirche hat ihn besonders beeindruckt, war doch bis vor einigen Jahren so ein Gottesdienst in der ehemaligen Sowjetunion überhaupt undenkbar. „Ich hab einen großen Finger gesehen … vom Dach. Es dauerte ungefähr zwei, drei Sekunden und … äh … ich hab verstanden, dass ich nach vorne gehen soll und beten und knien und beten und Jesus als meinen Erlöser im Herz nehmen. Das ist, wie gesagt, nicht Befehl, aber Gott … Und an diesem Tag habe ich einen Finger gesehen und ich habe verstanden, was ich machen soll“ (NI 10: 4/14-26).
Wladimir beschreibt die Vision des Fingerzeigs als Gottes unmissverständlichen Aufruf, dennoch schildert er die Konversion als eine aktive, freie Entscheidung. Dies wird deutlich an dem Muster einer konkreten Handlungssequenz (nach vorne gehen, knien und Buße tun), was einer „Institutionalisierung“ des hier baptistischen Kontextes entspricht. Noch im gleichen Jahr (1994) hat er sich auch dort taufen lassen.
Von 1994 bis 1996 besucht er einen Hauskreis mit nichtjüdischen Besuchern der baptistischen Gemeinde. Trotz seiner Konversion habe ihn aber weiterhin die Frage gequält: „Warum werden immer die Juden gehasst?“ (NI 10: 4/1-8). 1996 reist er mit seiner Familie nach Deutschland aus. Im gleichen Jahr habe er eine weitere Vision gehabt, und durch einen Vortrag habe er dann eine „Erklärung“ gefunden: Satan hasse das Volk Gottes und säe den Hass auf die Juden weltweit.
Seit Januar 1999 besucht Wladimir regelmäßig eine messianische Gemeinde in Berlin und arbeitet dort auch intensiv mit, zum Beispiel bei der Durchführung der Sabbatabende.
Die Fallgeschichte „Galja“
Galja wird 1933 als Tochter einer Jüdin und eines russischen Vaters in St. Petersburg geboren. Als sie vier Jahre alt ist, stirbt ihr Vater unerwartet als „Stalinopfer“ (1937); bei den stalinistischen „Säuberungen“ in den 1930er wurden viele Juden und Nichtjuden getötet. Galja erhält keinerlei jüdische Erziehung von ihrer Mutter.
Von 1951 bis 1957 studiert sie Medizin, sie heiratet einen Deutschen und bekommt einen Sohn. Von 1957 bis 1969 arbeitet sie als Ärztin in Ostdeutschland, nach 1970 reist sie wieder nach St. Petersburg zurück. 1970 lässt sie sich scheiden, der Sohn verbleibt bei ihr. Kurz nach ihrer Scheidung hat sie eine erste „Gottesoffenbarung“ (NI 12: 2/27). Sie erzählt, dass sie sich nach ihrer Scheidung sehr einsam gefühlt und abends auf einem Spaziergang ein langes „Gespräch“ mit einem imaginären Partner („ich weiß nicht, mit wem“, 2/1) geführt habe. Ihr sei dabei klar geworden, dass ihr Mann während der Ehe unfähig gewesen sei, sie oder sonst jemanden zu lieben. In diesem „emotional gespannten“ (2/8) Moment habe sie plötzlich einen heftigen Schlag auf ihren Kopf verspürt und eine leise „Gottesstimme“21 gehört (2/15): „Und da war eine totale Stille um mich herum. Und in dieser Stille hörte ich ganz deutlich, eine ganz ... leise Stimme: Kannst du lieben? ... Und ich muss sagen, dass diesen Moment ... ich weiß jetzt hinterher, ja, dass das wirklich eine Gottesstimme war. Von Christus noch nicht die Rede, ja? ... Und das war für mich ein Umbruch. Ich habe angefangen, in mich hineinzuschauen, bisschen mehr, und hab verstanden, dass ich selbst nicht lieben kann und nicht mal weiß, was Liebe ist, und das, was ich für Liebe gehalten habe, gar keine ist. Das war so äh … ein erster äh … ich möchte schon sagen … das war schon eine Gottesoffenbarung“ (NI 2:2/9-27).
Galja gibt in dieser Darstellung die wörtliche Rede der leisen Stimme („Kannst du lieben?“) wieder. Fritz Schütze bezeichnet dies als den „naturgemäßen“ Darstellungsvollzug,22 denn die Frage nach ihrer Fähigkeit zu lieben ist die Zusammenfassung des ganzen Erzählsegments und pars pro toto auch ihres ganzen Lebensabschnitts: der Suche und Sehnsucht nach Liebe (in ihrer Ehe). Die wörtliche Rede kommentiert sie dann in ihrer heutigen Perspektive mit einem Verb des Wissens und „identifiziert“ sie: „Ich weiß jetzt hinterher, ja? Dass das wirklich eine Gottesstimme war“ (2/14-15). Aus der Reflexion der Konversion heraus war dieses Erlebnis für sie eine erste Begegnung mit Gott, ein „Umbruch“ (2/19). Besonders deutlich wird auch Galjas Gewissheit, dass es „eine höhere Kraft, einen Gott gibt, der über uns steht und uns lenkt von Kindheit an“ (1/16-17).
Galja betrachtet sich weiterhin eher als ziellos Suchende („und dann suchte ich weiter und suchte weiter“, 2/29). Sie möchte der höheren Kraft durch das philosophisch-religiöse Meditationssystem der indischen Yogaübungen näherkommen. Hier findet sie eine erste „Antwort“ einer „Gotteseinmischung“ (3/6), da ihr die Übungen auch erhoffte physische Heilung zukommen lassen.23
Galja konvertiert 1993 bei einer besonders intensiven Meditationsübung: Ein weißer Punkt sei immer näher und näher gekommen und habe Umrisse ausgebildet, „bis ich auf einmal in diesem weißen Fleck, das war schon nicht mehr Punkt, Jesus erkannt habe“ (NI 12: 3/29-30).
Sie bekehrt sich somit, als sie Jesus in dem weißen intensiven Punkt erkennt, sie nimmt das Gespräch mit ihm auf (4/1) und beschreibt die Konversion später als das „Kennengelernt-Haben Jesu“ (5/13).24
Für Galja steht ihre Konversion in direktem Zusammenhang mit ihren täglichen meditativen Übungen. Damit verknüpft sie ihre religiöse Erfahrung und ihr Handeln eng miteinander, was auch ihrer lebenslangen Suche „nach Lehre – nach Vorbild“ (1/12) entspricht. Denn Gott scheint ihren Alltag zu beobachten und zu bewerten, was die Bedeutung ihrer Individualität in Gottes Augen bestärkt. Dennoch verliert sie sich dabei nicht in „Selbstthematisierung von Individualität“25, sondern sie öffnet sich hier für die Konversion.
1994 reist sie nach Deutschland aus und wünscht sich eine Gemeinschaft gleich oder ähnlich glaubender Menschen. Jedoch erst 1997 habe sie die messianische Gemeinde in einer Großstadt kennen gelernt und diese fortan regelmäßig besucht. Noch im gleichen Jahr lässt sie sich dort taufen. Anschließend leitet sie bis 2004 eine messianisch-jüdische Frauengruppe. 1998 habe sie einen prägenden Traum von ihrem Vater gehabt, der ihr darin zugesagt habe, dass der jüdisch-messianische Glaube für Galja völlig richtig sei. Ende 2004 verabschiedet sie sich aber von der bisherigen Gemeinde und wird in einer anderen messianischen Gemeinde Mitglied. Die alte Gemeinde war ihr nicht jüdisch genug.
Das „Passiv-aktiv-passiv-aktiv-Konversionsschema“
In allen drei Fallgeschichten erleben die Interviewpartner den Kommunismus und den daraus folgenden Atheismus als alltäglichen Bestandteil ihres Lebens. Damit begründen sie entweder ihre mangelnde Religiosität vor der Konversion und skizzieren diese als „normal“ (Wladimir), oder es lässt sich mit dem Kommunismus ein naives und unpersönliches Gottesverständnis erklären (Pawel). Der Kommunismus kann aber auch Sehnsüchte nach einem anderen Leben, nach „Vater, Lehre und Vorbild“ wecken (Galja). Des Weiteren erkennen die Interviewpartner den Kommunismus und den daraus resultierenden Atheismus als Gründe für das mangelnde jüdische Identitätsbewusstsein vor der Konversion. Letztlich hat die Thematisierung des Kommunismus in allen drei Interviews noch eine weitere Funktion: Die Interviewpartner begründen damit, dass sie in dieser atheistischen Umwelt unmöglich konvertieren konnten. Dadurch machen sie zudem deutlich, dass sie sich zum Zeitpunkt des Interviews längst gegenüber dem System des Kommunismus abgegrenzt haben.
Nachdem die Interviewten den Kommunismus und dessen Auswirkungen geschildert hatten, berichteten sie von einer neuen Zeit, der Perestroika, und den durch diese verursachten Umwälzungen, die im Leben der Interviewpartner Lebensumbrüche bewirkten. Alle Interviewten vollzogen ihre Konversion im Zeitraum der Perestroika und der nachfolgenden politischen und wirtschaftlichen Stimmungslage. Wladimir und Galja gehören somit zu den 23,8 % der befragten messianischen Juden der Fallstudie, die angeben, in dem Zeitraum 1991 bis 1995 konvertiert zu sein. Pawel zählt zu den 34,3 % der befragten messianischen Juden, die eine Konversion in den Jahren 1996 bis 2000 erlebten.
Zudem zeigt sich, dass sich der Zeitpunkt der Einreise nach Deutschland auf die Konversion auswirkt: So haben 44 % der befragten messianischen Juden und Nichtjuden (N=149) die Konversion höchstens drei Jahre vor oder nach der Einreise nach Deutschland vollzogen. 28,5 % bekehrten sich zwischen vier und sieben Jahren vor oder nach der Einreise.
Alle drei Interviewpartner gehören dabei zu den 51,7 % (N=77) der befragten messianischen Juden und Nichtjuden (N=149), die angeben, schon vor der Einreise – also noch in der ehemaligen Sowjetunion – konvertiert zu sein. 40,4 % (N=60) sind erst nach ihrer Einreise und 8,1 % (N=12) im Jahr der Einreise konvertiert.26
Nachdem sich die Interviewpartner als religiös Suchende geschildert hatten, erzählten sie, wie sie sich auf die Konversion aktiv vorbereiteten. Bernd Ulmer bezeichnet diese absolute Bereitschaft des Konvertiten, sich konkret auf die Konversion einzulassen, als die Einleitung der Konversion, die „religiöse Öffnung“.27 Dieser Moment der „religiösen Öffnung“ ist zuvor immer wieder durch eine aktive Vorbereitung, zum Beispiel durch wiederholte religiöse Handlungen oder Muster „eingeübt“ worden, sodass man sich auf die Konversion „einstimmen“ kann.
Pawel und Wladimir gehören zu den 34,5 % der befragten messianischen Juden, die angegeben haben, dass sie durch einen Nichtjuden den Weg zum Glauben gefunden haben (35,8 % der MNJ,28 34,5 % insg.).29 38 % der messianischen Juden geben an, dass sie von einem anderen messianischen Juden begleitet wurden (sowie 17,3 % der MNJ, 30 % insg., N=203).30 Insgesamt sind somit 72,5 % der befragten messianischen Juden durch eine (affektive) Beziehung zu einem an Jesus Glaubenden zur Konversion „geführt“ oder begleitet worden.31 Zudem geben 43,4 % der befragten messianischen Juden an, insbesondere durch das Lesen der Bibel konvertiert zu sein (61,6 % der MNJ und 50,3 % insg., N=199).32
Auch wenn die Konversion in Anwesenheit anderer Personen geschieht, thematisieren messianische Juden das Ereignis immer als individuelle Erfahrung. Dadurch wird die Transzendenz Gottes in die „Unergründlichkeit des jeweils eigenen Selbst, des Ich“33 überführt und kann dort als immanent wahrgenommen und kommuniziert werden.
Insgesamt wird ein Passiv-aktiv-passiv-aktiv-Konversionsschema deutlich, denn alle thematisieren zunächst eine Erkenntnis oder ein Erlebnis, das ihnen (passiv) widerfährt und eine aktive religiöse Suche auslöst, die dann zur Konversion führt. Die Konversion wiederum wird eingeleitet von einem passiv erfahrenen transzendenten „Ereignis“ (Pawel: Heilung, Wladimir und Galja: Vision und plötzliche Erkenntnis) und schließt mit einer aktiven „Lebensübergabe“ (Pawel und Wladimir) oder einem „Gesprächsbeginn“ (Galja) ab.
Kollektive Strukturen des messianisch-jüdischen Glaubens
Bemerkenswert ist eine äußerst homogene Mitgliederstruktur. So reisten 95 % der befragten messianischen Juden aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion ein, und auch der Zeitpunkt ihrer Konversion, der von ihnen „Entscheidung für den Glauben/Annahme des Glaubens an Jeschua hamaschiach/Jesus als Messias“ genannt wird, erfolgte bei der Mehrheit (82 %) in den Jahren 1991 bis 2005. Die meisten messianischen Juden (59 %) schlossen sich zudem zwischen 2001 und 2005 einer messianisch-jüdischen Gemeinde an. Weniger auffällig sind die eher geringen Mitglieder- oder Besucherzahlen (914 bis 1042 regelmäßige Besucher, messianische Juden und Nichtjuden), von denen 55 bis 75 % tatsächlich messianische Juden sind (Zeitpunkt der empirischen Studie: 2004 bis 2005). Der Anteil der nichtjüdischen Besucher beträgt zwischen 25 und 45 %.34
Bei einer messianisch-jüdischen Gottesdienstfeier, die meist an einem Schabbat und in russischer Sprache stattfindet, sind viele jüdische Symbole wie Menora, israelische Flagge, Schofar, Kippa, Tallit, Gebetsschal zu sehen, auch die Liturgie ist stark jüdisch geprägt: Die Gottesdienstteilnehmer zünden die Schabbatkerzen an, rezitieren das „Schema‛ Jisrael“ – meist in gekürzter Form –, singen hebräische Lieder und halten den Schabbat-Kiddusch oder begehen die Havdala-Zeremonie. Ein Gemeindemitglied oder ein Mitarbeiter liest aus der Tora und legt sie aus, der Gemeindeleiter spricht den Aaronitischen Segen und über die Kinder den Segen „Möge Gott dich wie Ephraim und Manasse bereiten“ oder „Möge Gott dich wie Sarah, Rebekka, Rachel und Lea zubereiten“. Manche Gemeinden rezitieren Gebete aus dem Siddur, und oft erschallt am Ende des Gottesdienstes der Ausruf „Amen. Baruch atta“ („Gepriesen seist du!“).
Viele jüdische Rituale eines jüdischen Gottesdienstes fehlen aber auch (z. B. Amida, Kaddisch, Lied „Adon Olam“) oder werden „messianisch-jüdisch“ interpretiert: Im Anzünden der Schabbatkerzen sehen messianische Juden einen Hinweis auf Jeschua – als das Licht der Welt und den Herrn des Schabbats – und beziehen beim Rezitieren des Schema‛ Jisrael auch den Glauben an Jesus als den Messias und Sohn Gottes ein. Die Toraauslegung erfolgt immer in Bezug auf das Neue Testament.
Zudem sind eigene Symbole, Formulierungen oder Rituale entstanden: Häufig findet sich das eingeschobene Kurzbekenntnis „Jeschua ha maschiach“ in Gebeten, Liedern und Auslegungen wieder. Die angezündete Menora als Symbol erfüllter Messiashoffnungen ist in vielen Gemeinden zu finden. Das Symbol des Davidsterns, der mit einer Menora und dem urchristlichem Fischzeichen verbunden ist, ist in den Gemeinden zusätzlich vorhanden und drückt den Wunsch nach Einheit der messianisch-jüdischen Gemeinde, von jüdischen und nichtjüdischen an Jesus Glaubenden aus, wie es im frühen Urchristentum üblich war.
Alle Gemeinden begehen die Feste des Judentums mit großer Ernsthaftigkeit und richten viele Zeremonien wie Hochzeit, Bar Mizwa, Bat Mizwa etc. nach jüdischer Tradition aus. Besonders interessant ist die Feier des Pessachfestes: Messianische Juden folgen zwar einer jüdischen Pessach-Haggada und übernehmen viele biblisch-jüdische Gedanken wie Opferung und Auslösung, verbinden diese aber mit messianisch-jüdischem Glauben: Bei der Pessachfeier gilt Jesus als das Lamm, das die Menschen von der Sünde befreien kann, und das Mazzabrot (Afikoman), welches bei einer jüdischen Zeremonie geteilt, dann versteckt und später wieder gefunden wird, ist hier ein Hinweis auf Jesu Tod am Kreuz (Teilung), sein Begräbnis (Versteck) und seine Auferstehung (wieder gefundenes Afikoman).35
Auf einer messianisch-jüdischen Konferenz im Jahr 1998 bekannten etwa 100 messianische Juden und die Gemeindeleiter 13 messianisch-jüdische Glaubensartikel.36 Demnach betrachten messianische Juden die Hebräische Bibel und das Neue Testament als eine untrennbare Einheit, als von Gott verbal inspiriert und daher als höchste Autorität für Leben und Handeln. Des Weiteren wird die Parusie Jesu meist vor (oder mit) der Aufrichtung seines messianischen Reiches erwartet. Zudem betonen die messianisch-jüdischen Glaubensartikel die Zugehörigkeit der messianischen Juden zu der Gemeinde aus den Nationen, aber auch zum Volk Israel. Dann folgen Artikel, die das jüdische Erbe betonen, an die biblisch-jüdischen Wurzeln erinnern, den Zionismus unterstützen, auf die Vermeidung heidenchristlicher Einflüsse hinweisen und die Zugehörigkeit zu Israel betonen.
Religionssoziologische Bewertung und Ausblick
Insgesamt zeigt sich, dass die Konversionen persönliche Lebensentscheidungen darstellen. Da sich die individuellen Strukturen der Konvertiten in den kollektiven Strukturen der messianisch-jüdischen Gemeinden wiederfinden lassen und vice versa, spricht dies für eine neue religiöse Bewegung zwischen Judentum und Christentum. Das heißt, das messianische Judentum stellt ein eigenes religiöses System mit typischem messianisch-jüdischem Repertoire dar, welches Schnittmengen zum evangelikal-christlichen (z. B. Glaubensbekenntnis) und zum jüdischen System (Identitätsgefühl, Liturgie, Symbole, Kleidung, Rituale, Feste ec.) aufweist.
Dennoch ist damit weder das Judentum noch das Christentum als defizitär anzusehen, sondern messianisch-jüdische Gruppierungen bieten für die Menschen, deren Lebensgeschichten beispielhaft geschildert wurden, und ihr Selbstverständnis eine adäquate Glaubensmöglichkeit. Die erfolgten Konversionen bedeuten ebenfalls nicht, dass Missionsversuche an jüdischen Bürgern des Landes toleriert werden dürfen.
Im christlich-jüdischen Dialog sollte sich weiter praktisch-theologisch mit der Tatsache messianischer Juden in Deutschland auseinandergesetzt werden.
Stefanie Pfister, Sendenhorst
Anmerkungen
- Vgl. www.kirchentag.de/aktuell/nachrichten/nachrichten/archiv_stuttgart/messianische_juden_gespraech/messianische_juden_statement.html (Abruf: Oktober 2019, auch des nächsten Links).
- Vgl. www.idea.de/nachrichten/detail/thema-des-tages/artikel/messianische-juden-koennen-sich-am-stuttgarter-kirchentag-beteiligen-1202.html .
- Vgl. Stefanie Pfister: Messianische Juden in Deutschland. Eine historische und religionssoziologische Untersuchung, Dissertation (Universität Dortmund), Berlin / Münster 2008, 2. aktual. Aufl. 2016; dies.: Messianische Juden. Zur gegenwärtigen messianisch-jüdischen Bewegung in Deutschland, in: MD 72/7 (2009), 257-266; dies.: The Present Messianic Jewish Movement in Germany, in: Mishkan 58 (2009), 6-20; dies.: Messianische Juden – historisch und religionssoziologisch, in: Theologisches Gespräch 39/1 (2015), 17-30; dies.: Messianisch-jüdische Bewegung in Deutschland, in: Kirchliche Zeitgeschichte 29/2 (2016), 370-384. Dieser Artikel stellt eine Erweiterung und Modifizierung des MD-Artikels aus dem Jahr 2009 und des Artikels in der Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ dar.
- Hans Hermann Henrix: Schweigen im Angesicht Israels? Zum Ort des Jüdischen in der ökumenischen Theologie, in: Salzburger Ringvorlesung, Salzburg 2007.
- EDI (Evangeliumsdienst für Israel, Hg.): Eine messianische Gemeinde stellt sich vor, Faltblatt „Schma Israel“, Leinfelden-Echterdingen 2000.
- Diese ersten Judenchristen beteten im Tempel, feierten die jüdischen Feste, gaben Almosen für die Armen etc., kurz: Sie hielten sich an das jüdische Religionsgesetz und waren „Eiferer für das Gesetz“ (Act 21,20, vgl. Act 2,46f; 3,1; 5,12 u. ö.). Darin unterschieden sie sich nicht von den Juden, die in Jesus nicht den Messias sahen, jedoch von ihrer jüdischen Umgebung durch die Taufe auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden (Act 2,38f; 10,43.48), die gemeinsame Mahlfeier, das „Brechen des Brotes“ (Act 2,42), die eigenen Hausgottesdienste (Act 2,46) und die Gütergemeinschaft (Act 2,44-45; 4,32-37). Sie missionierten anfangs ausschließlich Juden (Mt 10,5f), und nur vereinzelt tauften sie Nichtjuden (Act 10). Da die Urgemeinde Ähnlichkeiten mit der essenischen Jerusalemer Gruppe aufwies (z. B. Taufe nach der Umkehr, Neuer Bund als Hintergrund des Pfingstfestes, Gütergemeinschaft), betrachtete die religiöse Führung die Judenchristen zunächst als eine innerjüdische Sekte und sprach ihnen ihre jüdische Identität nicht ab.
- Politische Faktoren verstärkten die innerjüdischen Trennungsprozesse. Während des ersten jüdischen Krieges 66 n. Chr. wurden einige Mitglieder der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem ins Ostjordanland vertrieben. Zwischen 70 und 132 konnte sich zwar wieder eine judenchristliche Gemeinde in Jerusalem etablieren, die im zweiten jüdischen Krieg aber erneut die Flucht ergreifen musste. Da sich die Judenchristen, die an die Messianität Jesu glaubten, von den – meist unter messianischem Vorzeichen stehenden – Freiheitskämpfen der Juden gegen die Römer fernhielten, wurden sie von der jüdischen Gemeinschaft als Verräter gemieden.
- Die mehrheitlich heidenchristliche Kirche bekämpfte die Juden, weil sie nach kirchlicher Anschauung aufgrund ihrer Sünde auf ewig von Gott verworfen seien. Der Begriff des „Gottesmordes“ hatte großen Einfluss auf die Theologie der Großkirche. Zunehmend bildete sich die „Substitutionstheologie“ als offizielle Kirchenlehre heraus, in der sich die heidenchristliche Kirche als das wahre Israel und als alleinige Trägerin alttestamentlicher Verheißungen betrachtete (vgl. Barnabasbrief um 135 n. Chr.).
- Damit verlor das Judenchristentum zunehmend an Bedeutung. Bis zum 3./4. Jahrhundert gab es noch Judenchristen in Palästina, im Ostjordanland, in Alexandrien und Rom. Und das Judenchristentum konnte in einigen Bewegungen und Kirchen seine Spuren hinterlassen, so erhielt sich in Kleinasien, Syrien und Palästina die jährliche Gedenkfeier zur Auferstehung Jesu am 14. Nissan bis ins 2. und 3. Jahrhundert hinein. Die Kirchen Äthiopiens und Georgiens weisen judenchristliche Einflüsse auf, und die Evangelien der Hebräer, Nazarener und der Ebioniten hatten auf die Entstehung des Islam einen nicht unerheblichen Einfluss. In Syrien behielten die Judenchristen sogar bis ins 5. Jahrhundert ihre Bedeutung bei und haben Auswirkungen im zumindest wurzelverwandten Mandäismus hinterlassen.
- Die verschiedenen Schätzungen sind zusammengefasst in Pfister: Messianische Juden in Deutschland (s. Fußnote 3), 93.
- Vgl. Bernd Schröder, in: Theologische Literaturzeitung 134/9 (2009), 931-934.
- „Beit Sar Shalom Evangeliumsdienst“ (BSSE, gegr. 1996) als deutscher Zweig der internationalen „Chosen People Ministries“ (CPM), „Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel“ (amzi, seit 1985 in Deutschland) und „Evangeliumsdienst für Israel“ (EDI, gegr. 1971).
- Vgl. Pfister: Messianische Juden in Deutschland (s. Fußnote 3).
- Vgl. Hans-Günter Heimbrock: Gottesdienst – Spielraum des Lebens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen zum Ritual in praktisch-theologischem Interesse, Kampen 1993, 39.
- Vgl. Anton T. Boisen: The Exploration of the Inner World, Philadelphia 1971.
- Für die Konversionserzählungen wird hier im Anschluss an Popp-Baier der Terminus „Fallgeschichte“ genutzt. Vgl. Ulrike Popp-Baier: Selbsttransformationen in Bekehrungserzählungen, in: Christian Henning / Erich Nestler (Hg.): Religionspsychologie heute, Frankfurt a. M. u. a. 2000, 263.
- Vgl. Pfister: Messianische Juden in Deutschland (s. Fußnote 3). Die Fallstudie in den Jahren 2004/2005 umfasste 14 teilnehmende Beobachtungen in elf Gemeinden und Gruppen, dazu wurden 211 gültige Fragebögen aus 16 Gemeinden und Gruppen und zwölf narrative Konversionserzählungen ausgewertet. Hinzu kamen 36 geführte Experteninterviews mit Gemeindeverantwortlichen. Durch den Einsatz verschiedener Methoden konnte das Forschungsfeld aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden (methodologische Triangulation). Die Studie wurde auf der Grundlage der „Grounded-Theory-Methodologie“ durchgeführt. Vgl. dazu Anselm Strauss / Juliet Corbin: Grounded Theory, Weinheim 1996.
- Im Folgenden steht NI für Narratives Interview, die Zahl danach (NI 7) für die laufende Nummer der Interviews, die Zahl vor dem Schrägstrich für die Seite der Transkription und die Zahlen nach dem Schrägstrich für die Seitenzahlen. Im Archiv der Verfasserin liegen sämtliche Transkriptionen in ausführlicher Form vor und sind dort bei Interesse zu erfragen.
- Vgl. Campus für Christus (Hg.): Kennen Sie schon die vier geistlichen Gesetze, Orlando, in: www.jesuswho.org/german/four.html (Abruf: Juli 2019).
- Dies zeigt einerseits, dass er mit dem erworbenen Wissen um das äußere Ablaufschema (nach vorne gehen, niederknien) und die inneren Abläufe (Buße tun) bewusst und aktiv die Begegnung mit Jesus sucht. Gleichzeitig tritt hier aber in seinen Worten eine weitere transzendente Macht zutage, der er eine universalistische Funktion zuschreibt, die Kraft, die ihn am Stuhl festhält. Später erläutert Wladimir, dass das Satan gewesen sei, der ihn von der Konversion habe abhalten wollen.
- Ich bezeichne Galjas Erlebnis als Audition oder später als Vision statt als Halluzination, um das subjektive Empfinden ernst zu nehmen.
- Vgl. Fritz Schütze: Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung: dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, in: Ansgar Weyman / Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung. Alltagswissen und Alltagshandeln, Gemeindemachtforschung, Polizei, politische Erwachsenenbildung, München 1976, 159-260, hier 180ff.
- Hier wird deutlich, dass Galjas Suchen nicht von theologischem Wissen bestimmt ist, sodass sie nicht um die religiösen Hintergründe der ostasiatischen Yogaübungen weiß. Nach vollzogener Konversion kann sie sich von den Yogaübungen distanzieren und findet auch, wie sie sagt, physische Genesung in Jesus (NI 12: 23/5-6).
- Es muss auch nicht immer ein außergewöhnliches oder übernatürliches Ereignis im Zuge der Konversion genannt werden. So geben 43,3 % der befragten messianischen Juden an, dass sie kein bestimmtes Erlebnis hatten, als sie konvertierten. Auch muss einem Konversionsereignis nicht immer eine emotionale Erschütterung folgen.
- Klaus Hartmann: Es könnte auch Religion sein. Religiöse Orientierungen in biographischen Konstruktionen von Managern, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a. M. 1995, 257.
- Hier kann nicht mehr nachvollzogen werden, ob der Glaube vor oder nach der Einreise angenommen wurde.
- Vgl. Bernd Ulmer: Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), 19-33, hier 28.
- Messianische Nicht-Juden (Besucher oder eingetragene Mitglieder der messianisch-jüdischen Gemeinden, die aber keine Juden sind).
- Auch 83,3 % der befragten messianisch-jüdischen Gemeindeleiter (N=25) geben an, durch einen Nichtjuden konvertiert zu sein.
- Lediglich 9,9 % der messianischen Juden geben an, durch ihr Elternhaus auf den Glauben vorbereitet worden zu sein (sowie 23,5 % der MNJ und 15,2 % insg.). Galja wiederum gehört zu den 18,2 % der befragten messianischen Juden, die angeben, ohne menschliche Vermittlung zum Glauben gefunden zu haben (23,5 % der MNJ, 20,2 % insg.). 37,6 % der befragten messianischen Juden (35,9 % der MNJ, 36,9 % insg.) geben zudem an, dass ein schwerer Schicksalsschlag oder ein tragisches, schweres Leben für die Konversion mitverantwortlich war.
- Weitere situative Faktoren treten in der hier vorliegenden Untersuchung hinzu, z. B. ein außergewöhnliches Erlebnis, eine Versammlung oder Bibelstunde, das Vorbild eines anderen Gläubigen, evangelikale Schriften, Veranstaltungen wie eine Evangelisation, eine messianische Jugendfreizeit, eine messianisch-jüdische Konferenz oder ein Konzert.
- Hier waren Mehrfachnennungen möglich.
- Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, 111.
- Von ihnen sind nur knapp ein Drittel in Deutschland geborene Nichtjuden (27 %), mehr als ein Drittel sind eingewanderte russische Nichtjuden (38 %) und etwas weniger als ein Drittel sind Eingewanderte „deutsch-russischer Herkunft“, also Spätaussiedler (28 %).
- Viele Gemeinden begehen mit der Einnahme des Afikomans und des dritten Bechers Pessachweins das Abendmahl und deuten, dass Jesus während des Pessachmahles die entsprechenden Einsetzungsworte gesprochen habe. Indem sie das Abendmahl in die Pessachfeier integrieren, verbinden messianische Juden implizit das altjüdische Fest mit dem Einsetzen des Neuen Bundes. Durch diese Interpretation der jüdischen Feier übernehmen sie einerseits Elemente des rabbinischen Judentums (Ablauf des Sedermahles), pflegen Gedanken des biblischen Judentums (Opferung, Auslösung) und nehmen dabei Elemente der früheren judenchristlichen Bewegung (Herrenmahl, Neuer Bund) auf.
- Vgl. EDI (Hg.): Faltblatt (s. Fußnote 5).