Kopftuch: „Weltanschauliche Machtfrage“
„Weltanschauliche Machtfrage“ – so nannte Alexander Kissler (im Magazin „Cicero“, 9.6.2015) den „Fall Ulusoy“. - Betül Ulusoy, angehende Juristin und Bloggerin aus Berlin-Neukölln mit Kopftuch, hatte sich Anfang Juni 2015 beim dortigen Bezirksamt für eine Ausbildungsstation ihres Rechtsreferendariats beworben. Ihr wurde mitgeteilt, die Bewerbung bedürfe einer besonderen Prüfung. Nach dem Berliner Neutralitätsgesetz sind sichtbare religiöse Symbole im Dienst nicht erlaubt, Ausnahmen während der Ausbildung jedoch möglich. Knapp eine Woche später teilte die Behörde mit, Ulusoy könne die Ausbildungsstation antreten, aber keine „hoheitlichen Aufgaben mit Außenwirkung“ übernehmen (also nicht nach außen hin sichtbar tätig sein). Überraschend reagierte die Bewerberin auf das Angebot nicht, sondern erklärte später, sie habe sich für das Angebot einer Landesbehörde entschieden, „die kein Problem mit dem Kopftuch hat“. Die merkwürdigen Wendungen der mittlerweile höchst emotional debattierten Geschichte, in die sofort die Medien und sehr schnell eine Reihe von Lokalpolitikern involviert waren – und deren Faktenlage zeitweise nicht leicht zu überschauen war –, sind hier nicht erneut von Interesse. Es konnte sich am Ende schon der Eindruck aufdrängen, die medienversierte muslimische Aktivistin habe eine politische Inszenierung verfolgt.
Was aber grundsätzlich der Aufmerksamkeit der beteiligten Verantwortlichen bedarf, ist die differenzierte Wahrnehmung der „sichtbaren religiösen Symbole“, in dem Fall des islamischen Kopftuchs (Hidschab). Betül Ulusoy hat es, so wird sie zitiert, als „Zeichen des Fortschritts, der Schönheit sowie der weiblichen Selbstbestimmung und eines rücksichtsvollen gesellschaftlichen Miteinanders“ bezeichnet. Das suggeriert Freiheit und Individualität. Abgesehen davon, dass Verfechterinnen der Religionsfreiheit wie Ulusoy selbst die Logik der religiösen Pflicht bemühen (anders wäre eine Durchsetzung des Kopftuchs im öffentlichen Dienst nicht sinnvoll), wird diese durch die breite Mehrheit der heutigen Islaminterpretationen explizit zum Ausdruck gebracht. Nach Ansicht aller Rechtsschulen und maßgeblichen Autoritäten besteht in der Frage der Bekleidungsvorschriften alles andere als Freiheit und Individualität, und das „rücksichtsvolle Miteinander“ läuft nach den traditionellen Quellen zugespitzt gesagt darauf hinaus, die Männer vor der gefährlichen, verführerischen Sexualität der Frauen zu schützen. Man muss sich nur einige muslimische Debatten zum Thema im Internet ansehen, um sich davon zu überzeugen, dass es um mehr und ganz anderes geht als eine individuelle religiöse Bekundung – und dass die Problematik nicht „von außen“ zugeschrieben wird. Das heißt nicht, dass sich Einzelne nicht persönlich („frei“) für oder gegen die Einhaltung der geltenden religiösen Regeln entscheiden, und viele auch zu ganz anderen individuellen Schlüssen kommen. Es ist damit kein Pauschalurteil über die Musliminnen und Muslime gefällt, von denen viele nicht wörtlich nach dem Maßstab der Tradition leben.
Verkompliziert wird die Sache dadurch, dass die Formulierungen des Korans, die herangezogen werden, keineswegs eindeutig sind (z. B. Sure 24,30f.60; 33,59). Das steht aber nicht zur Debatte, sondern die Verpflichtung jeder erwachsenen muslimischen Frau – übrigens auch jedes muslimischen Mannes – zur Bedeckung, die in der maßgeblichen Auslegungsgeschichte für genau beschriebene Fälle (etwa vor Fremden, in der Öffentlichkeit oder im Raum der eigenen Familie etc.) festgeschrieben wurde. Bedeckt werden muss demnach die Schamgegend, der Körperbereich der Geschlechtsteile. Der entscheidende Terminus ist die „Aura“ (nicht zu verwechseln mit dem aus dem Lateinischen entlehnten Fremdwort Aura, sondern arabisch für „Schamgegend“, auch: „schwache Stelle, Blöße“). Beim Mann reicht dieser Bereich vom Nabel bis zu den Knien, bezüglich der Frau gibt es Kontroversen, in der Regel wird „der gesamte Körper außer dem Gesicht und den Händen“ darunter verstanden.
Die Sexualisierung der Frau wird auch in der religionsrechtlichen Erläuterung deutlich: „Der Hijab dient also dem Schutz der Frau vor Nachstellungen und davor, bei Männern (und auch manchen entsprechend veranlagten Frauen) Begierde hervorzurufen“ (siehe exemplarisch Ahmad A. Reidegeld, Handbuch Islam. Die Glaubens- und Rechtslehre der Muslime, Kandern 2005, 276-279).
Der Sexualisierung entspricht eine weitgehende Verfügbarhaltung der Frau für den Mann, die in wenig harmlosen, autoritativen Überlieferungen zum Ausdruck kommt. Sie werden auch in bebilderten, gefällig aufgemachten pädagogischen Lehrbüchlein auf ganz normalen Moscheebüchertischen präsentiert, zum Beispiel: „Wenn ein Mann seine Frau auffordert, zu ihm ins Bett zu kommen, sie sich aber weigert, so werden die Engel sie bis zum Morgengrauen verfluchen!“ Oder: „Wenn ein Mann nach seiner Frau schickt, um sein Bedürfnis zu stillen, sollte sie zu ihm gehen, sogar wenn sie mit Brotbacken beschäftigt ist“ (40 Hadithe über das Familienleben, Uslu Verlag, o. O., o. J.). Worte des Propheten, die beliebig erweitert werden können und ein höchst fragwürdiges Frauen- (und Männer-!)bild vermitteln. Die Instrumentalisierung der Kopftuchdebatte durch den aufkommenden Islamismus seit etwa fünfzig Jahren – gegen Reformansätze, etwa eines Qasim Amin („Die Befreiung der Frau“, schon 1899) – ist damit noch gar nicht angeschnitten. Erkennbar ist aber doch, dass über die Identitätsfrage und die religiöse Verbindlichkeit Druck auf muslimische Mädchen und Frauen ausgeübt werden kann und ausgeübt wird. Denn mit dem Hidschab „zeigt die Muslimin ..., dass sie als anständige und gläubige Frau erkannt werden will, und sie muss ... auch entsprechend mehr geachtet werden als Frauen, die sich um korrekte Bekleidung nicht kümmern bzw. sich ihr offen entgegenstellen“ (Reidegeld, Handbuch Islam, 277).
Auch dies kann und wird sicherlich im Einzelfall sehr unterschiedlich gewichtet und interpretiert werden. Der entscheidende Streit um die Geltungsweise und den Geltungsbereich der erwähnten Überlieferungen im Alltag darf jedoch nicht in hochgeschaukelten Emotionen untergehen, sondern muss in einem freiheitlichen und pluralen Kontext gerade um der Mädchen und Frauen willen, die sich dem kollektiven Druck entziehen wollen und Gefahr laufen, als unanständig und weniger achtenswert zu gelten, ausgefochten werden. Das islamische Kopftuch ist kein Schmuckkreuz und keine Soutane. Es spielt – auch und neben vielem anderen – eine nicht unbedeutende Rolle im innermuslimischen Kampf um die Deutungshoheit des Islam und wird in dieser Funktion auch in der Auseinandersetzung mit der Neutralität des Staates eingesetzt. Alexander Kissler hat völlig recht, wenn er von einer weltanschaulichen Machtfrage spricht.
Friedmann Eißler