Stichwort: Koranexegese, frühislamisch
Der Umgang mit „Heiligen Schriften“ kann, je nachdem, wie man deren „Geist“ und deren „Buchstaben“ ins Verhältnis setzt, sehr unterschiedliche Formen annehmen. Bereits in der altkirchlichen Bibelauslegung stritten sich Alexandriner und Antiochener darum, welcher Zugang zum Wortlaut der Bibel denn der angemessenere sei. Und noch heute stehen sich evangelikale, „bibeltreue“ Christen und Befürworter einer kritischen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Bibelexegese in der Frage nach der Autorität des geschriebenen Bibelwortes zum Teil recht unversöhnlich gegenüber. Was sie verbindet, ist das neugierige, nachschlagende, von Notizen und Anmerkungen begleitete Lesen und Befragen des biblischen Textes, das manche (regelmäßig genutzte) Bibeln zu zerschlissenen, randvoll bekritzelten Notizbüchern werden lässt. Die Zeiten, in denen man sich als Christ damit begnügte (oder auch: begnügen musste), dem Klang der lateinischen Vulgata zu lauschen, sind lange vorbei.
Das ist im Hinblick auf den Koran als der „Heiligen Schrift“ der Muslime ein wenig anders. Dies auch deshalb, weil wir es hier, im Selbstverständnis der traditionellen Muslime, weniger mit einer (zur Lektüre einladenden) „Heiligen Schrift“ zwischen zwei Buchdeckeln als vielmehr mit der feierlich vorzutragenden und vornehmlich über das Hören aufzunehmenden urewigen und abschließenden Verkündigung des Wortes Gottes selbst zu tun haben. Eine bunt bekritzelte, mit Unterstreichungen, Notizen, Querverweisen und Fragen versehene Koranausgabe dürfte sich somit – zumindest unter traditionellen Muslimen – wenn überhaupt, nur selten finden lassen.
Es ist deshalb nur verständlich, dass sich eine an den Standards wissenschaftlicher Schrifthermeneutik in der säkularen Moderne orientierte kritisch-reflexive Auslegung des Koran, wie bereits im Stichwort zur reformorientierten Koranexegese (ZRW 4/2022, 300 – 308) ausgeführt, erheblichen Erschwernissen ausgesetzt sieht. Weil sie teils auch auf das sich im frühen Islam ausbildende Verständnis des Koran zurückgehen, unternimmt das vorliegende „Stichwort“ den Versuch, diesem Schriftverständnis im Rahmen ausgewählter Schlaglichter auf die Rezeption des Koran in den ersten beiden Jahrhunderten des frühen Islam (bis ca. 850 u. Z.) nachzugehen und dabei kritisch dessen Potenziale und Grenzen in den Blick zu nehmen.
1 Rechtleitung Gottes und authentische Bewahrung
Wie eingangs erwähnt, ist der Koran, dem arabischen Begriff qurʾān entsprechend, nicht als ein zwischen zwei Buchdeckeln aufbewahrter Text, sondern als eine sich im kultischen Rahmen vollziehende liturgische „Rezitation“ (auch „Relektüre“, „Vortrag“, vgl. Q 17,78) zu verstehen. Sein ursprünglicher Sitz im Leben sind Rezitationsfeiern, in deren Rahmen die von 610 bis 632 u. Z. an Muhammad ergehende Verkündigung, wohl in Anknüpfung an die jüdisch-christliche Rezitationspraxis, von diesem selbst abschnittsweisemündlich vorgetragen wurde. Im Laufe der heute zumeist in vier Abschnitte (Mekka I – III und Medina) aufgeteilten Verkündigungsphase tritt dabei die frühe, in der ersten Phase noch dominierende „Reimprosa“ (sog. saǧʿ) zugunsten stilistisch breiterer, in Medina (622 u. Z.) dann einen stärker normierenden Charakter aufweisender Ausführungen zurück. Bei aller Wandlung in der sprachlichen Form zeigt sich die Verkündigung selbst – über alle Phasen ihrer fortwährenden Selbstaktualisierung und -anpassung an den jeweiligen Kontext – davon überzeugt, in einer langen Tradition monotheistischer Verkündigung zu stehen. Ihrem offenbarungsgeschichtlichen Verständnis zufolge ist es der Auftrag des bereits von Jesus angekündigten Propheten Muhammad (Q 61,6: aḥmad), seine Landsleute als ein „Warner“ (Q 17,93) an die Urbotschaft von Gott, dem Schöpfer (al-ḫāliq), Erzieher (bzw. „Rechtleitenden“, al-hādi) und Richter (al-ḥakam) des Menschen zu erinnern:
„Und wir haben (schließlich) die Schrift (kitāb) mit der Wahrheit zu dir herabgesandt, damit sie bestätige (yuṣaddiq), was von der Schrift vor ihr da war, und darüber Gewißheit gebe (yuhaimin)“ (Q 5,46f).
Die von der (hier medinensischen) Verkündigung selbst vollzogene Unterscheidung zwischen ihr selbst als mündlichem „Vortrag“ (qurʾān) und der „Schrift“ (kitāb) als Chiffre für eine ihr vorausliegende, bereits an Juden und Christen ergangene Größe bzw. den göttlichen Rechtleitungswillen selbst, ist hinsichtlich der Frage nach der anfänglichen Selbstbetrachtung der mündlichen Verkündigung von großer Bedeutung. Diese versteht sich insbesondere in ihrer mekkanischen, zutiefst an biblische Traditionen anknüpfenden Phase zunächst als eine „erinnernde“ (ḏikr, Q 2,1) Wiedergabe bzw. „Re-Zitation“ der bereits den beiden älteren Schriftreligionen zuteilgewordenen „Rechtleitung“ (hidāya). Weil aber Juden und Christen, wie dies dann insbesondere die medinensische Verkündigung wiederholt betont, die ihnen offenbarte „Schrift“ „verfälscht“ (ḥ-r-f, Q 2,75f; 3,78), „verdreht“ (b-d-l, Q 3,78; 4,46), „vergessen“ (n-s-y, Q 5,13) oder „verborgen“ (k-t-m, Q 2,159.174) haben, sieht sich die (sich selbst ständig fortschreibende und aktualisierende) Verkündigung in ihrer späteren (insbesondere spätmedinensischen) Phase zugleich damit beauftragt, „vieles von dem klarzumachen, was [Juden und Christen] von der Schrift verborgen halten“ (Q 5,15). Die beiden in diesem Zusammenhang wiederholt auftretenden Begriffe „Bestätigung“ (taṣdīq) und „Bewahrung“ (haimana; vgl. Q 5,48f) der vorangegangenen Schriften haben für den Koran eine zutiefst legitimatorische Funktion: Denn „Bestätigung“ und „Bewahrung“ bedeutet zugleich die kritische Sichtung und Prüfung des Voraufgegangen und in diesem Sinne auch die Korrektur der im Laufe der Geschichte eingetretenen Korrumpierung der ursprünglichen Botschaft. Der Begrifftaṣdīqselbst ist dabei im Sinne eines evolutionären Modells zu verstehen, in dem das jeweils Spätere die im Laufe der Geschichte eingetretene Entstellung (taḥrīf, Q 2,75f) korrigiert und damit die Ursprünglichkeit wiederherstellt.
Die Bewahrung des ursprünglichen Wortlauts bzw. des authentischen „Originals“ der Botschaft wird koranisch und nachkoranisch – insbesondere dann in der islamischen Tradition (sunna) – mehrfach abgesichert:
(a) Der Koran selbst betont, Gott habe „die beste Verkündigung (ḥadīṭ) in klarer arabischer Sprache“ offenbart und „bewahre sie selbst“ (ḥāfiẓūn) vor aller Korrumpierung (Q 39,23; 15,9).
(b) Im Rückgriff auf diese und andere Referenzen (vgl. Q 19,16.41.51.54ff) bezeugt die frühe islamische Tradition, Muhammad habe selbst noch die Niederschrift der koranischen Verkündigung veranlasst.
(c) Die vom dritten Kalifen ʿUṯmān (644 – 656) im Rückgriff auf frühere Sammlungen bewerkstelligte Kodifizierung (um 654 u. Z.) der Verkündigung Muhammads im sog. musḥaf (Kodex) ermöglicht die authentische Bewahrung seiner Botschaft bis zum heutigen Tag.
Auch die zeitgenössische Forschung rechnet, so komplex die Komposition der einzelnen Kapitel bzw. Suren (sūra: „Zeile“, aber auch „Bild“) des Koran auch immer gewesen sein mag, mit einer insgesamt sehr zügigen Kodifikation; das Phänomen der Kanonisierung war schließlich bereits etabliert. Dabei diente der seit ʿUṯmāns Standardisierungsprojekt verbindliche, zunächst ohne diakritische Zeichen (Unterpunkte u. Ä.) und Vokale vorliegende und erst durch Ibn Muğāhid (gest. 936 u. Z.) auf sieben kanonische Lesarten begrenzte Konsonantentext (sog. rasm) in der frühislamischen Zeit vornehmlich als Gedächtnishilfe für die Rezitatoren. Weil kein uniform überlieferter Text vorlag, sondern nur auf kompetente Traditionen gestützte unterschiedliche Lesarten, erstaunt es nicht, dass sich in den ersten Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung nahezu jede islamische Geistesströmung am (nicht eindeutig fixierten) Text zu rechtfertigen vermochte.
2 Schlaglichter auf die Rezeptionsgeschichte des Koran
2.1 Die Anfänge – Paraphrase und Narration
Als primär akustisch-sprachliches Interaktions- und Kommunikationsgeschehen waren die im ʿuthmānischen Kodex gesammelten Verkündigungen Muhammads zunächst – und dies gilt bis in die letzten Jahrzehnte des Umayyadenkalifats (– 750 u. Z.) – weniger ein Objekt der Exegese als vielmehr eines der devotionalen Verehrung, kurz: ein Symbol der muslimischen Identität. Gleichwohl veranlasste die muslimische Überzeugung von der göttlichen Qualität des verkündigten Wortes bald dazu, den zunächst vornehmlich ästhetisch erfahrenen Rezitationstext auch auf dessen Aussagegehalt hin zu befragen. Dies schien umso dringlicher, da sich die Verkündigung in ihren 6236 „Zeichen“ (āyāt) überwiegend mit Anspielungen auf zur Zeit Muhammads virulente Traditionen und Debatten begnügt, die den im schnell expandierenden islamischen Reich tätigen Rezitatoren und Predigern nicht mehr geläufig waren. Aus den Bemühungen um eine Annäherung an den Inhalt der koranischen Verkündigung erwuchsen im ersten nachprophetischen Jahrhundert rezeptionsgeschichtlich zwei frühe Formen der Koranexegese (tafsīr):
(a) Eine eher paraphrasierende Exegese, die kurze, oft synonyme Erklärungen zu koranischen Begriffen oder Passagen zu geben versucht. Sie fand in den frühen Tafsīr-Sammlungen (nicht vollständigen Kommentaren) von Ibn Ǧabr (al-Makkī, gest. 722 u. Z.) oder Ibn ʿUyayna (gest. 811) ihren prominentesten Ausdruck.
(b) Eine eher narrative Exegese, welche die oft anspielungsreichen Passagen der koranischen Verkündigung mit aus vorislamischen arabischen und nichtarabischen Traditionen entlehnten Erzählungen zu rahmen und so zu „erklären“ (arab. fassara) sucht. Diese Form von Schriftauslegung, die in einem der frühesten Kommentare der Koranexegese, dem Tafsīr des Muqāṭil Ibn Sulaimān (gest. 765 u. Z.), kulminiert, stützt sich auch auf Erzählungen jüdischer Gelehrter (sog. isrāʾīliyyāt), konnte sich aber aufgrund ihres Rückgriffs auf Quellen, die nicht zur „akzeptierten Überlieferung“ zählten, langfristig nicht behaupten.
2.2 Die frühe Entwicklung – Philologie und Historiografie
Das arabische Wort für Koranexegese (tafsīr) steht sinngemäß für „(etwas Verborgenes) aufdecken, erklären“ und erscheint in einem die Opposition gegen Muhammad kritisierenden Kontext:
„Sie bringen dir keine Formulierung daher, ohne dass wir ihnen (unsererseits) die (reine) Wahrheit bringen würden, und eine bessere Erklärung (des Sachverhalts aḥsana tafsīran)“ (Q 25,33).
Das sich bereits in der Verkündigung selbst niederschlagende Bemühen um die „bessere Erklärung“ findet in der exegetischen Tradition in unterschiedlicher Weise Ausdruck: (a) in einem wachsenden Interesse an Grammatik und Philologie, (b) im Versuch einer eigenständigen Geschichtsschreibung und (c) in Überlegungen zu einer Theorie der „Abrogation“ (nasḫ), derzufolge die frühere Verkündigung durch eine spätere „aufgehoben“ (mansūḫ) werden kann:
(a) Die Einführung der philologischen Wissenschaften in die Koranexegese lässt sich in die Mitte des achten Jahrhunderts u. Z. datieren. Die Repräsentanten dieser Wende zur Grammatik – als die bekanntesten gelten Sībawayh (gest. um 796 u. Z.) und Abū ʿUbayda (gest. 822) – verfolgen in ihren Reflexionen über den Wortlaut der Verkündigung die doppelte Absicht, zum einen die Exegese des Koran selbst zu rechtfertigen, zum anderen dessen „klare arabische Sprache“ (Q 16,103; 26,195) zu würdigen.
(b) Das historiografische Interesse mündet in den Versuch einer eigenständigen Geschichtsschreibung: So betraut der erste Abbasiden-Kalif al-Mansūr Mitte des 8. Jahrhunderts u. Z. den Gelehrten Ibn Isḥāq (gest. 767) damit, das verstreute und disparate Erzählmaterial rund um die Vita des Propheten zu sammeln und daraus eine Biografie (sīra) zu schreiben. Diese soll den Nachweis einer direkten Linie von Adam über Moses und Jesus bis zu Muhammad erbringen und schließlich mit der abbasidischen Dynastie enden. Zweck ist die Schaffung eines kanonischen Wissens, mit dem die über ein Vielvölkerreich herrschenden Abbasiden „Wahres“ (al-ḥaqq) vom Unwahren und moralisch „Angemessenes“ (maʿrūf) vom Unangemessenen zu unterscheiden, kurz: das fluide Moment des „Islamischen“ einzugrenzen suchen.
(c) Der Umstand, dass die Verkündigung selbst von einer „Tilgung“ (nasḫ) früherer durch spätere „bessere“ Verse spricht – „Tilgen wir einen Vers oder stellen ihn dem Vergessen anheim, so bringen wir einen besseren als ihn … Weißt du denn nicht, dass Gott aller Dinge mächtig ist?“ (Q 2,106) – und somit die Revision früherer Bestimmungen durch spätere selbst thematisiert, führt die frühe Gelehrsamkeit zur Formulierung einer die „Abrogation“ bestimmter Koranverse legitimierenden Theorie: „Vom Abrogierenden und Abrogierten“ (an-nāsiḫ wa l-mansūḫ). Die Abrogationstheorie ist sowohl in ihrer Geltung als auch in ihrer Interpretation bis heute umstritten. Gleichwohl sahen sich muslimische Rechtsgelehrte durch sie legitimiert, frühere normative Bestimmungen des Koran durch zeitlich nachfolgende aufzuheben und somit ihre Rechtsbestimmungen kontextuell anzupassen.
2.3 Die Dominanz des Rechtlich-Normativen
Im Zuge der zunehmenden Bedeutung des nun schriftlich vorliegenden koranischen Textbefundes für die Formulierung einer islamischen Moral- und Rechtslehre (arab. aḫlāq und šarīʿa) wird nun eben dieser Textbefund – rezeptionsgeschichtlich höchst bedeutsam – je länger je mehr zur Grundlage der Theorie islamischer Lebens-, Moral- und Rechtsnormen, kurz: der islamischen Jurisprudenz (fiqh). Deren ausdrücklich rechtsbezogene Schriftexegese sucht im Rahmen einer vor allem von pädagogischen Zwecken getragenen versweisenAuslegung das rechtlich relevante Material der Verkündigung zu sichten, thematisch zu ordnen und zu kommentieren, um es an den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext und dessen Anforderungen anzupassen. Dabei bedienen sich die Rechtsgelehrten (fuqahāʾ) nicht nur der erwähnten Theorie von der Abrogation früherer (mekkanischer) Verse durch spätere „bessere“, weil stärker legislativ ausgerichtete Verse der medinensischen Verkündigung. Zur Autorisierung der Wissensgrundlagen greifen die Korankommentatoren des 8. Jahrhunderts u. Z. gerne auf die „frommen Alten“ (salaf) zurück, denen sie ohne jegliches Unbehagen die eigenen Thesen und Interpretationen zuschreiben. Eine nahezu mythische Funktion gewinnt dabei Ibn ʿAbbās (619 – 687 u. Z.), ein Cousin des Propheten, dem spätere Generationen sogar einen eigenen, bis heute sehr beliebten Kommentar, den Tafsīr Ibn ʿAbbās, zuschreiben.
Mit dem Aufstieg der Jurisprudenz (fiqh) und der zeitgleichen Entstehung der prophetischen Tradition (sunna) entwickelt sich graduell ein islamischer „Traditionalismus“ (ein passenderer Begriff als der christlich konnotierte Begriff „Orthodoxie“), der die Koranwissenschaften unter die Obhut der Traditionswissenschaften zu bringen und die Philologie in den Dienst der „überlieferten Tradition“ zu stellen sucht. Als unabdingbare Voraussetzung für jede Kommentierung und Auslegung etabliert sich nun die Regel, dass der Koran nur mit „Wissen“ (bi-ʿilm), nicht aber „willkürlich“ (bi l-hawā) oder nach „persönlicher Meinung“ (raʾy) ausgelegt werden dürfe, habe doch der Prophet selbst gelehrt, dass derjenige, der den Koran nach seiner eigenen Meinung, also ohne Wissen(schaft) auslege, „einen Platz in der Hölle“ (Schreiner 2007, 640) bekommen solle. „Wissenschaft“ bezog sich somit auf die allein maßgebenden Quellen des Wissens, das heißt (a) auf den Koran selbst, der am besten „durch sich selbst“ (bi-nafsihi) ausgelegt werden solle, (b) auf die im prophetischen ḥadīth überlieferte Sunna („Gewohnheit“) des Propheten sowie (c) auf die Überlieferung der Gefährten (ṣaḥāba) des Propheten sowie der ihnen Folgenden (tābiʿūn).
2.4 Die (umstrittene) Legitimität der Exegese – tafsīr und taʾwīl
Vor dem hier kurz umrissenen Hintergrund bilden sich in der frühislamischen Koranexegese zwei Perspektiven zur Legitimität und Methodologie der Auslegung des Koran heraus: (a) eine sich auf die „beglaubigte Überlieferung“ (auch riwāya) stützende „Auslegung durch die Tradition“ (tafsīr bi r-riwāya) sowie (b) eine stärker auf die eigenständige Reflexion (dirāya) oder Meinung (raʾy) setzende Exegese (tafsīr bi d-dirāya).
Repräsentativ für die Antithese zwischen (a) der Exegese durch frühe Autoritäten und (b) der auf kritischer Reflexion gründenden Exegese ist die seit dem 8. Jahrhundert u. Z. auftretende Differenzierung von tafsīr („Erklärung“) und taʾwīl („Deutung“): Letzterer, der taʾwīl, steht, im Gegenüber zu dem für die Koranexegese geläufigen Begriff tafsīr, für eine nicht allein am Wortlaut orientierte, einen intuitiveren oder spekulativeren Zugang zum Text ermöglichende Auslegungspraxis. Einen Grund für die frühislamische Zurückhaltung gegenüber demtaʾwīl liefert die koranische Verkündigung selbst, die in einer der Hermeneutik gewidmeten Einleitung der Sure Āl-ʿimrān (Q 3,1-7) von denjenigen spricht,
„in deren Herzen Verirrung (zayġ) ist, die dem folgen, was darin mehrfach deutbar (mā tašābahu) ist, um Zweifel (al-fitna) zu erwecken und um es auszudeuten. Nur Gott kennt dessen Deutung (taʾwīl).“
Im Kontext gelesen, lässt sich dieser Abschnitt, wie dies auch viele Koranexegeten tun, als eine hermeneutische Stellungnahme zur Ambiguität der christlichen Rede von Christus und zu den daraus in der Alten Kirche erwachsenen christologischen, die christliche Glaubensgemeinschaft spaltenden Streitigkeiten verstehen.
Die Traditionarier plädierten daher dafür, von der Interpretation der „mehrdeutigen“ (mutašābihāt) Verse des Koran, insofern sie zur Irreführung und Spaltung der muslimischen Gemeinde führen könne, vollständig abzusehen und sich stattdessen an den eher apodiktischen Ḥadīṯ zu halten, die Sammlung der prophetischen Traditionen bzw. all dessen, was Muhammad gesagt, getan und unterlassen hat. Der zu den „Eindeutigkeiten“ (muḥkamāt) der Religion gehörende Eingottglaube (tawḥīd)erlaubt, so die Traditionarier, keinerlei Konzession, und was die „Mehrdeutigkeiten“ betrifft, so genügt dazu einḤadīṯ: „Und wenn ihr jene seht, welche dem Mehrdeutigen folgen, dann hütet euch vor ihnen“ (Wensinck / Mensing 1992, 245f). Deren Identifizierung fiel vielen Kommentatoren der klassischen Zeit nicht schwer (vgl. aṭ-Ṭabarī 6, 186f): Es sind die Juden und die Christen, „die nicht nach dem entscheiden, was Gott darin herabgesandt hat“ (Q 5,47, par. 4,170f), die das „Festgelegte“ ignorierenund dem „Mehrdeutigen“ folgen: „seinem Wort“ oder dem „Geist von ihm“.
Bis ungefähr 830 u. Z. etabliert sich dann im traditionalistischen Denken ein relativ sicherer Konsens (iğmāʿ), der die Exegese (tafsīr) als eine Unterabteilung des Ḥadīṯ ansieht und, um die Anerkennung der sunnitischen Traditionarier zu finden, die Methodologie dieses Bereichs übernimmt. Die alles überragende Autorität dieser exegetischen Perspektive repräsentiert aṭ-Ṭabarī (gest. 923 u. Z.), der in seinem einer „summa“ gleichenden Kommentar (Tafsīr aṭ-Ṭabarī) verschiedene formative Perioden und Elemente kombiniert, das Material der traditionellen Exegese zusammenfasst und in erster Linie auf die Erklärung des „sichtbaren Wortsinns“ (ẓāhir) zielt. In entschiedener Priorisierung der „Überlieferung“ (naql) und ebenso entschiedener Ablehnung der allegorischen Exegese beansprucht aṭ-Ṭabarī die höchste Autorität für den „Konsens der Gemeinde“ (iğmāʿ al-umma). Gleichwohl gebraucht er zur Erklärung koranischer Anspielungen auf die biblische Tradition – gleichsam gezwungenermaßen – noch ausgiebig Erzählungen aus jüdischen Quellen (sog. isrāʾīliyyāt).
2.5 Die rationalistische Betonung der Mehrdeutigkeit des Koran
Zur Verteidigung der islamischen Lehre gegenüber der aristotelischen Philosophie und insbesondere der christlichen Theologie war der eher apodiktische Ḥadīṯwenig hilfreich. Es etabliert sich das spekulative System des sog. Kalām, das im Einsatz „apologetischer Rede“ – so die Grundbedeutung dieses gerne mit „Theologie“ übersetzten Wortes – zu einer rational begründeten Form der Gottesverehrung vorzustoßen, zwischen den verfeindeten islamischen Glaubensrichtungen zu vermitteln und den geistigen Kampf mit anderen Religionen anzuleiten sucht. Dabei blieb der Kalām grundlegend der Wahrung der göttlichen Autorität der koranischen Verkündigung verpflichtet: Die sog. „Dialektiker“ (mutakallimūn) waren keine Freidenker, als die sie gerne gesehen werden, sondern repräsentierten die erste Garde muslimischer Apologetik.
Aus dem Kalām erwächst im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert u. Z. die sogenannte muʿtazilitische Strömung, die nun ausdrücklich mit der traditionellen Exegese bricht und mit der Einführung der spekulativen Dialektik die religiösen Erkenntnisquellen um ein bisher streng gemiedenes Element, das Element der Vernunft (ʿaql) als Prüfstein religiöser Wahrheit erweitert. Die sog. Muʿtaziliten („die sich Absetzenden“) begreifen Gott als an den Intellekt gebunden (um göttliche Willkür auszuschließen), den Menschen als willensfrei (um dessen Verantwortlichkeit herauszustellen) und den erschaffenen Koran als nicht gleichewig mit Gott (um die absolute Einheit des Letzteren zu wahren). Und sie versteht den taʾwīl im Sinne einer figürlichen Interpretation gleichsam im Gegensatz zum tafsīr: Die nicht nur inhaltlich einzigartige, sondern auch in ihrer sprachlichen Form unübertroffeneVerkündigung des Koran erscheint im Gewand von Metapher und Gleichnis und erweist sich so als universal akkommodationsfähig und kontextuell flexibel. In Verbindung mit anderen, „eindeutigen“ Versen des Koran lässt sich auch ein Verständnis des „Mehrdeutigen“ gewinnen. Wäre der gesamte Text eindeutig, gäbe es schließlich auch keine Notwendigkeit zur kritischen Reflexion.
2.6 Die traditionalistische Konzession an den Volksglauben
Gegenüber dieser muʿtazilitischen Position, die zur Wahrung der Einheit Gottes und in Abgrenzung zur christlichen Trinitätstheologie zwischen „Rezitation“ (qirāʿa) und „göttlicher Intention“ (maqrūʾ) unterscheidet und ausdrücklich für die Erschaffenheit(ḫalq) des Koran eintritt, setzt sich im sunnitischen Islam langfristig die Position des ašʿarītischen Kalām durch. Grund für die Diskreditierung der muʿtazilitischen Position ist deren machtpolitische Instrumentalisierung in der vom Abbasiden-Kalifen al-Mansūr (reg. 813 – 833) eingeführten und um 848 von seinem Nachfolger beendeten sog. „Inquisition“ (miḥna, eigentl. „Heimsuchung“), einer Befragung von Gelehrten zur Erschaffenheit des Koran. Das Scheitern dieser miḥna, mit der sich der Kalif lehramtliche Macht zu sichern und damit die Macht der Rechtsgelehrten einzuschränken suchte, bedeutete die Rehabilitierung der Traditionarier unter Ibn Hanbal, der sich im Glauben an den Buchstaben der koranischen Verkündigung mit einem bi-la kayf („ohne nach dem Wie zu fragen“) begnügt. Ibn Hanbal führt für den Koran den Terminus ġayr maḫlūq („unerschaffen“) ein und verhilft der den traditionellen Islam bestimmenden Position zum Durchbruch, der zufolge Gottes Rede (kalām) mit den Buchstaben (ḥurūf) des Koran identischist.
Die von al-Ašʿarī (gest. 935 u. Z.) begründete Apologetik sucht schließlich zwischen den verfeindeten islamischen Lagern (Rationalisten vs. Traditionarier) mit Konzessionen sowohl an den Intellekt als auch an den muslimischen Volksglauben zu vermitteln: Im Gegenüber zur extremen hanbalitischen, Gottes Rede mit dem Koran gleichsetzenden Position unterscheidet al-Ašʿarī zwischen der „göttlichen Seelenrede“ (kalām nafsī) bzw. dem ungeschaffenen „rezitierten“Wort Gottes einerseits und der irdischen Realisierung dieses Wortes in der Form geschriebener Buchstaben und gesprochener Laute andererseits.
So sehr die hermeneutischen Zugänge der Muʿtaziliten und Ašʿariten in der Bewertung der Kapazitäten menschlicher Vernunft auseinandergingen, waren sie sich in einer zentralen Frage einig: in der sich im 9. Jahrhundert u. Z. herausbildenden, von der christlichen Trinitätsdebatte nicht unbeeinflussten Überzeugung von der Unnachahmlichkeit (iʿǧāz) des Koran, die als das eigentliche Spezifikum des islamischen Glaubens gelten darf. Mag die iʿǧāz-Lehre auch vornehmlich der apologetischen Beglaubigung des Koran geschuldet sein, erweist sie sich für viele Muslime als der zentrale Ort der Vermittlung von Immanenz und Transzendenz. Am letztlich zirkulären Argument dieser Vorstellung – gegen jeglichen Versuch der Nachahmung des Koran lassen sich sowohl die Ähnlichkeit als auch die Verschiedenheit zu ihm ins Feld führen – lässt sich ermessen, in welchem Ausmaß die Interpretation des Koran Kriterien unterstellt wurde, die niemals allein nur philologischen und historischen Erwägungen geschuldet sind. Dies gilt insbesondere für die philosophischen, sufisch-mystischen und schiitischen Zugänge zum Koran, die allerdings nicht mehr Thema dieses „Stichworts“ sind.
3 Kritischer Ausblick – Letztgültigkeit und Selbstgenügsamkeit
Der mehr feierlich-devotionale als reflexiv-rationale Zugang zum Koran im frühen Islam hat sich bis heute im traditionellen Islam erhalten: Wird die koranische Verkündigung, die sich selbst bereits spätmekkanisch als die abschließende „Interpretation aller Dinge“ (tafṣīla kulli šey, Q 12,111) präsentiert, im hohen Kantilenen-Ton vorgetragen, steigt die ŠekhināGottes (arab. sakīna: „Präsenz Gottes“) herab, sodass sich die Rezitation des Koran als Vergegenwärtigung Gottes gewissermaßen mit der christlichen Eucharistie vergleichen lässt. Die vornehmlich kultische Vergegenwärtigung des Koran prägt zugleich das muslimische Verständnis ihrer „Heiligen Schrift“: Sie ist der Ort, an dem sich der göttliche Wille der menschlichen Wahrnehmung letztgültig und abschließend erschlossen hat. Sind andere heilige Schriften wie die Tora oder die Evangelien nach muslimischem Verständnis nur Zeugnisse der menschlichen Begegnung mitdem Göttlichen, präsentiert sich die koranische Verkündigung als „direkte Herabsendung“ (tanzīl) des göttlichen Wortes, das nicht nur von der Begegnung Gottes mit der Menschheit „erzählt“, sondern Gottes Begegnung mit der Menschheit selbst ist. Das göttliche Wort auswendig zu lernen, war und ist seit jeher der Hauptinhalt der traditionellen islamischen Elementarbildung. Wer es schafft, darf sich Ḥāfiz („Bewahrender“) nennen. Und was der Ḥāfiz damit „bewahrt“, ist eben zugleich auch das, was den Juden und den Christen ursprünglich offenbart und von ihnen im Nachhinein korrumpiert wurde: die authentische Tora (taurāt) und das wahre, dem „Sohn der Maria“ (Ibn Maryam) übermittelte Evangelium (inǧīl), die beide inhaltlich mit der koranischen Verkündigung – so war es schon die Überzeugung des Propheten – im Wesentlichen kongruieren.
Im Gegenüber zum christlichen Paradoxon eines aus Altem und Neuem Testament zusammengesetzten Schriftkanons betrachten die Muslime ihren Koran nicht als eine Art „Drittes Testament“, sondern als das ent- und unterscheidende „Kriterium“ (furqān, Q 3,4; par. 25,1) aller Offenbarungswahrheit. Aufgrund dieser fundamentalen, den Islam gleichsam erst konstituierenden Überzeugung, dass die Schriften der vorangegangenen Religionen nicht mehr authentisch vorliegen, bestand für Muslime lange Zeit auch kein Grund, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es genügte der die wahre Tora und das wahre Evangelium gleichsam mitenthaltende Koran, der selbst gleichwohl – zumindest für die breite Masse der muslimischen Bevölkerung – kein Gegenstand der Lektüre, sondern der Verehrung war. Es ist diese Verehrung für den Koran und die damit verbundene Aversion gegenüber schriftlichen Erzeugnissen in seiner Sprache, dem Arabischen, die auch den späten Einzug des Buchdrucks in die islamische Welt erklären. Nachdem er 1727 erstmals durch Sultan Ahmed III., bei strikter Kontrolle der Schriftgelehrten, gestattet, 1747 wieder zurückgenommen und 1784 unter hohen Auflagen durch Sultan Abdulhamid II. wieder eingeführt worden war, erschien dann im Jahr 1828 der erste zur Vervielfältigung bestimmte Druck des Koran in Teheran.
Im Vergleich dazu sahen sich christliche Gelehrtenkreisefür ein näheres Verständnis der nachchristlichen Religion des Islam relativ bald dazu gezwungen, sich mit dem Koran auseinanderzusetzen und ihn in die eigene (zunächst griechische, dann lateinische) Sprache zu übertragen. Wenngleich dies aufgrund der fehlenden philologischen Expertise und des apologetisch-polemischen Fokus der Auseinandersetzung noch lange nicht einen unverstellten Zugang zum Zeugnis der koranischen Verkündigung bedeutete, wird man den Gelehrten eine gewisse Neugierde an diesem zwischen Fremdheit und Nähe zur biblischen Tradition oszillierenden Zeugnis nicht absprechen dürfen. Demgegenüber blieb die muslimische Neugier auf das Alte und Neue Testament bis ins 19. Jahrhundert auf ein (auch hier selbstverständlich apologetischen Zwecken dienendes) Mindestmaß begrenzt.
Die im traditionellen Islam noch bis heute ausgeprägte Vergegenständlichung des Wortes Gottes im Koran, der alles notwendige Wissen über Judentum und Christentum schon enthält, ebnete nicht nur den Weg für dessen auch integralistische bzw. fundamentalistische Inanspruchnahme. In dieser Vergegenständlichung liegt auch der Grund dafür, dass die muslimische Religionsgelehrsamkeit in ihren apologetischen und polemischen Schriften, wenn überhaupt, nur selten den Versuch unternahm, die Eigenlogiken nichtmuslimischer Weltdeutungen und Weltanschauungen wahrzunehmen oder nachzuvollziehen. Die sprichwörtliche Selbstgenügsamkeit der traditionellen Koranauslegung, die bis ins 20. Jahrhundert hinein das Privileg der Gelehrten (der sog. Elite / ḫāṣṣ) blieb, ist im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung des Wissens, in dem der Umgang mit den Versen des Koran nun auch der sog. Masse (ʿamm) offensteht, zutiefst erschüttert worden. Dass dies kein Verlust sein muss, zeigen die im „Stichwort“ zur reformorientierten Koranexegese (ZRW 4/2022, 300 – 308) ausschnitthaft dargestellten Aufbrüche. Sie kritisch mitzubegleiten, dürfte einer der gewinnbringendsten Herausforderungen interkultureller und interreligiöser Theologie in der Moderne sein.
Rüdiger Braun, 01.03.2023
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