Linus Hauser

Kritik der neomythischen Vernunft. Band 1: Menschen als Götter der Erde (1800-1945)

Linus Hauser, Kritik der neomythischen Vernunft. Band 1: Menschen als Götter der Erde (1800-1945), Schöningh Verlag, Paderborn – München – Wien – Zürich 2004, 513 Seiten, 98,00 Euro.


Der Zeitraum von 1800 bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein ist nicht nur durch große technische Erfindungen, sondern auch durch politische Umwälzungen und teilweise barbarische Entgleisungen von Menschen gekennzeichnet. In ihm haben sich auch vielerlei moderne und antimodernistische Weltanschauungen herausgebildet, die teilweise bis in die Gegenwart hineinwirken. Der katholische Professor für Systematische Theologie an der Universität Gießen, Linus Hauser, nimmt den Leser auf eine gelehrte wie materialreiche Entdeckungsreise mit – in einen Bereich, der bisher „von vielen Philosophen und Theologen als zu trivial angesehen wurde, um sich mit ihm von systematisch-theologischer oder philosophischer Warte aus zu befassen“ (55). Um es vorweg zu nehmen: Ihm ist ein sehr beeindruckendes und außerordentlich informatives Werk gelungen.

Im Zentrum des ersten Bandes einer geplanten Trilogie stehen „religionsförmige Neomythen“ von 1800 bis 1945. Darunter versteht Hauser „ein kulturelles und individuelles Sich-Beziehen auf Endlichkeit ohne Bewusstsein ihrer Radikalität und im Bewusstsein der realen Aufhebung derselben durch das Handeln des Menschen oder anderer Mächte“ (55).

Im ersten Hauptteil des rund 500 Seiten umfassenden Bandes klärt er den begrifflichen Rahmen einer Theorie der religionsförmigen Neomythen (31-127). Darin nimmt er grundsätzliche Klärungen von Weltanschauung, Religiosität und Religion, Mythen und Religionsförmigen Neomythen, von wissenschaftsfundierter Technik und ihrer Religionsförmigkeit vor. Anschließend benennt er metaphysische Orientierungsaufgaben der Moderne. Hauser diagnostiziert vor diesem Hintergrund „eine vierfach gestaltete quantitative ‚Unendlichkeit’ – die des kosmischen Raumes, der zeitlichen Herkunft, der psychischen Dimensioniertheit und des möglichen Mehr an androidischen Fähigkeiten gegenüber denen des Menschen“ (126). Im Grunde handelt es sich dabei um eine moderne Versuchungsgeschichte: Der menschliche Erfindungsgeist, dem gleichsam magische Qualitäten zuerkannt werden, versucht dieser Dimensionen durch technische Mittel Herr zu werden und umgibt sie wiederum mit der Aura religiöser Symbolisierung.

Im zweiten Hauptteil wendet sich Hauser den „Erlebnisformen der wissenschaftlich-technischen Moderne“ und deren Vorentscheidungen im 19. Jahrhundert zu (127-212). Im Zentrum steht dabei das Verhältnis von Subjekt und Glaube und die neue Mythologie am Übergang von der Klassik zur Romantik. Es folgen Wissenschaftsglaube und Evolutionismus (182ff).

Der dritte und letzte Hauptteil des ersten Bandes wendet sich den religionsförmigen Neomythen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu. Mesmerismus und Spiritismus als „empiristische Religiosität“ stehen dabei im Zentrum der Analyse. Hauser konstatiert, dass im 18. und 19. Jahrhundert naturwissenschaftliche Erkenntnisse (z. B. Elektrizität) und ihre metaphysische Interpretation zu einer Transformation des abendländischen Gottesgedankens führen (222). Detailliert geht Hauser auf die Ereignisse jener mysteriösen Klopflaute von Hydesville im Jahre 1848 ein und beleuchtet Umstände und Phänomene der spiritistischen Bewegung, die in den 1870er Jahren über England auch Deutschland erfasst. Zugleich erblickt er in den zahlreichen Fallbeispielen des Spiritismus „Vermittlungsversuche zwischen einem überwiegend noch christlich geprägten theistischen Glauben und den modernen Erfahrungswissenschaften nach dem Mesmerismus und damit ein weiteres Übergangsphänomen in der Entfaltung des Neomythischen“ (263).

Ein eigener Abschnitt ist der „ausgeführten spiritistischen Dogmatik“ Allan Kardecs gewidmet (291-301). Im pädagogisch-evolutionistischen Konzept der anglo-indischen Theosophie Helena Petrowna Blavatskys identifiziert Hauser einen paradigmatischen Entwurf für heutige Neomythen (307ff). Zugleich arbeitet er die in diesem theosophischen Konzept vorhandenen Ansatzpunkte für den späteren ariosophischen Rassismus heraus (328ff).

Mit „Astrologie, Nordismus und Katastrophismus“ wird ein weiteres Feld neomythologischer Entwürfe umrissen (332-372) und die Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte einzelner Elemente (Atlantismythos bis hin zur sog. Welteislehre) im Denken führender Nationalsozialisten (z.B. bei Hitler und Himmler) untersucht. Hier findet der Leser konzentrierte Hintergrundinformationen über die Abgründe eines okkulten Übermenschentums. Im Abschnitt „Ariosophie, Führersehnsucht und Sciencefiction“ wird dies noch weiter vertieft. Hier sichtet Hauser „Neomythen im Vorfeld von Adolf Hitlers religionsförmiger Weltanschauung“ (373-424).

Der dritte Hauptteil schließt mit „Adolf Hitlers heroischem kosmischem Indifferentismus“ (425ff). Dabei arbeitet Hauser in konzentrierter Form die sozialdarwinistischen, antisemitischen, rassebiologischen und neognostischen Grundmotive in Hitlers Denken heraus. Mythen und Märchen sind für diesen letztlich „Erinnerungen an die edle Vorzeit der Helden und zugleich Verheißungen für die neue heroische Zukunft eines arisch sich hochzüchtenden deutschen Riesenreiches“ (451). Lebensprägende Faktoren spielen nach Hauser auch bei anderen Personen (u.a. bei L. Ron Hubbard und Erich von Däniken) eine nicht zu unterschätzende Rolle. Gemeinsam sei ihnen „das pathologische Grundmuster einer spannungsreichen Existenz zwischen Allmachtsfantasien über die eigene weltgeschichtliche Bedeutung und dem Rückgriff auf traditionelle (neugnostische/theosophische) mythologisch fundierte Wahnideen“ (458).

Ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ausführliche biografische Informationen zu einzelnen Personen runden einen Band ab, dessen Lektüre jedem zu empfehlen ist, der mehr über die Genese moderner Weltanschauungen und ihrer Neomythen erfahren möchte. Auf die geplanten Nachfolgebände – sie sollen 2006 bzw. 2008 folgen – darf man gespannt sein.


Matthias Pöhlmann