Kritik der neomythischen Vernunft Band 2: Neomythen der beruhigten Endlichkeit. Die Zeit ab 1945
Linus Hauser, Kritik der neomythischen Vernunft, Band 2: Neomythen der beruhigten Endlichkeit. Die Zeit ab 1945, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn u. a. 2009, 783 Seiten, 134,00 Euro.
Der zweite Band der Hauser’schen Trilogie zur Untersuchung der neomythischen Vernunft der Moderne setzt den umfangreiches Material bietenden und methodenbewusst exemplarisch vorgehenden ersten Teil konsequent fort.
Worin unterscheiden sich „klassischer“ Mythos und Religion von neuen, der Fantasie entsprungenen Mythen? Die ausschlaggebende Differenz liegt, so Linus Hauser, Professor für Systematische Theologie an der Universität Gießen, in der ganz unterschiedlichen Weise, sich auf die Endlichkeit menschlicher Existenz zu beziehen. Während dem traditionellen Mythos und der Religion bzw. dem Atheismus – philosophisch-anthropologisch reflektiert – ein Bewusstsein für die Radikalität der Endlichkeit menschlicher Existenz eigen ist, lässt man diese Radikalität in religionsförmigen Neomythen erst gar nicht aufkommen, oder sie wird gar ausdrücklich bestritten, indem man sich beispielweise mit technischen Mitteln von seiner Endlichkeit erlösen kann.
In epochalen Aufbruchphasen haben Neomythen Konjunktur. Seit dem 19. Jahrhundert beschleunigt sich ein Prozess, in dem eine an die vorgegebenen Strukturen der Natur angepasste Erfahrungstechnik durch eine die Natur an ihre Zwecke anpassende wissenschaftsfundierte Technik verdrängt wird – man denke nur an die Chancen und Risiken in den sogenannten Lebenswissenschaften. Mit dem Aufstieg der wissenschaftsfundierten Technik geht ein Wegbrechen traditioneller Orientierungen und überlieferter Urteilsmaßstäbe einher. Da die Kirchen ihr Antwortmonopol verloren haben, verurteilt der wissenschaftliche Geist der Neuzeit dazu, sich selbst auf die Suche nach Antworten auf die „metaphysischen Orientierungsaufgaben der Moderne“ – der nachkopernikanischen Verlorenheit im Kosmos, der darwinistischen Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur, der freudianischen Kränkung sowie der Möglichkeit, dem Menschen womöglich überlegene Androide herzustellen – zu machen.
Den kollektiven Nährboden, auf dem sich die neomythische Vernunft ab 1945 entfalten kann, sieht der Verfasser zum einen in der Konsum- und Leistungsgesellschaft, die das Versprechen einer Selbstverwirklichung durch Konsum und Leistung mit sich führt. Fassungslos liest man die Darstellung von Ayn Rands Roman „Wer ist John Galt?“, der einen Brutalkapitalismus religiös verbrämt und der sowohl von den US-amerikanischen Literaturkritikern als auch vom lesenden Publikum zum besten Roman aller Zeiten erklärt wird. Religionsförmige Züge gewinnt diese Zusicherung von Konsum durch Leistung, wenn dadurch Lebenssinn erwartet und die radikale Endlichkeit der eigenen Existenz abgespalten wird.
Eine weitere Quelle der neomythischen Vernunft unserer Zeit bildet ein erkenntnistheoretischer Relativismus, der an philosophischen Denkern von Popper über Feyerabend (dessen religionsförmiger Wissenschaftsglaube entlarvt wird) bis zu Lyotard eindrucksvoll demonstriert wird. Wenn dem postmodernen Vernunftmisstrauen die reale Welt mehr und mehr entschwindet, dann schlägt die Stunde der Fantasie, die sich nach höchst subjektiven Verknüpfungsregeln mögliche Welten und neue Mythen ausdenken kann. Ein Querdenker wie Charles Hoy Fort erweist sich dabei als eine ziemlich unbekannte Zentralfigur sowohl der Esoterik als auch der Postmoderne.
Nicht der ausufernden Fantasie der Fantasy-Literatur, sondern der Welt der Science-Fiction-Literatur gilt Hausers Interesse, weil letztere sich mit „Herkunft und Auswirkungen wirklicher und möglicher Errungenschaften der wissenschaftsfundierten Technik auf den Menschen“ befasst. In den nach dem Leitfaden der vier metaphysischen Orientierungsaufgaben abgehandelten Science-Fiction-Romanen fördert der Verfasser in subtilen, auf religionsgeschichtliches Material zurückgreifenden Interpretationen die verschiedenartigsten Neomythen an den Tag, die üblicherweise auf die rein fiktionale Ebene beschränkt bleiben. Ein Merkmal moderner Science-Fiction-Literatur besteht nun darin, dass sich Leser unabhängig vom Autor zu Fangemeinschaften zusammenschließen und eigene Fanzeitschriften produzieren. Bekanntestes Beispiel sind die „Trekkies“ von Star Trek oder die in England und Australien anerkannte Religionsgemeinschaft „Jedi-Religion“, die im Anschluss an die erste Star-Wars-Filmtrilogie entstanden ist und deren Anhänger sich rege im Internet austauschen.
Der nächste Schritt in der Entfaltung der neomythischen Gedankenwelt im Medium der Fantasie ist der Weg von den Science-Fiction-Romanen hin zu Utopien, die auf Romangrundlage entstanden. Maßstab der alten Utopien ist die Nichtörtlichkeit des jeweiligen Utopia. In der Moderne sollen Utopien machbar sein. Anhand der auf utopischen Romanen begründeten „Fleißgemeinschaften“ (Hauser) mit Namen wie Llano del Rio, Ikarier, Poggio al Mare, Kooperative Cittadella oder des völkischen „Jungdeutschen Ordens“ zeigt Hauser viele zerbrochene neomythische Hoffnungen auf.
Eine extreme Stufe ist erreicht, wenn die neomythischen Gedankenspiele von Science-Fiction-Autoren zur Gründung religionsförmiger Gemeinschaften führen, in denen die Stelle der tradierten Mythologie bzw. Religion durch einen Neomythos ersetzt wird. Was auf den ersten Blick kompletter Unsinn zu sein scheint, demonstriert der Verfasser in einem ausführlichen Kapitel über den Scientology-Gründer Lafayette Ronald Hubbard. Dieser bricht sein Ingenieur-Studium ab, scheitert beim Militärdienst, schlägt sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Science-Fiction-Autor durch und befasst sich zeitweise mit Satanismus. Von psychologischen Journalen abgelehnt, erscheint sein „ingenieurwissenschaftlich“ ausgerichteter „Leitfaden für den menschlichen Verstand“, die „Dianetics“ (Hauser hat die Erstausgabe in „Astounding Science Fiction“, Maiheft 1950, aufgetrieben und ausgewertet), in einem Pulp-Magazin und wird ein durchschlagender Erfolg. Nachdem Hubbard glaubt, sich an vergangene Leben auf anderen Planeten zu erinnern, erfolgt der Ausbau zu Scientology. Er fantasiert sich den Neomythos von einem bösen interplanetarischen Fürsten namens Xenu zusammen, der vor unendlich langer Zeit die an sich mächtigen Thetane versklavt und mit einem Körper umhüllt auf die Erde verbannt habe. Durch die Scientology-Therapie mittels des E-Meters – einer Art Lügendetektor, der die Funktion einer „Neugottmaschine“ (Hauser) einnimmt – wird es möglich, die in Milliarden von Jahren entstandenen seelischen Blockaden (Engramme) aufzulösen und den Thetan in uns von dem ihn versklavenden Körper zu befreien.
Aus Science-Fiction wird eine Heilslehre, ihr Autor zu einem Heilsbringer, der seinen eigenen religionsförmigen Therapiekult stiftet. An dieser Stelle erweist sich einmal mehr der Erkenntniswert von Hausers begrifflichem Instrumentarium: Religionsförmig ist Scientology deshalb, weil die Endlichkeit zwar thematisiert wird, aber das vermeintlich Wesentliche des Menschen, seine Thetanexistenz, gerade nicht endlich ist; Scientology ist deshalb keine Religion, weil die radikale Endlichkeit, auf deren reale Überwindung der Gläubige hofft, explizit bestritten wird – menschliche Endlichkeit ist für den Scientologen nämlich durch innerweltliche Techniken abschaffbar.
Wie Hauser für den überraschten Leser weiter ausführt, gibt es noch andere neomythische Gruppierungen, die ihre Entstehung direkt Science-Fiction-Romanen verdanken. Es sind die religionsförmigen Gemeinschaften „Church of All Worlds“ (eine der wesentlichen Organisationen des Neopaganismus) und der „Chaos Cult of Cthulhu 33“ und andere an den Erzählungen von Howard Phillips Lovecraft orientierte Gruppierungen.
Linus Hauser leistet auch im zweiten Band einen höchst originellen und begrifflich ausgereiften Beitrag zur Erhellung der Tiefenstruktur der gegenwärtigen religiösen Situation, indem er den Zusammenhang zwischen Endlichkeitsflucht und Neomythen aufzeigt. Neomythen erlauben kleine, spielerische Realitätsfluchten, sie können jedoch auch das Humanum bedrohen und machen deshalb eine „Kritik der neomythischen Vernunft“ unerlässlich. Die Aufbereitung und klare gedankliche Anordnung der immensen Stofffülle nötigen dem Rezensenten Bewunderung ab. Auf den dritten Band, der sich mit von Neomythen angestoßenen Forschungsprojekten befassen wird, darf man sehr gespannt sein. Die Trilogie wird, so viel ist absehbar, ein dauerhaftes Grundlagenwerk sein.
Thomas Menges, Limburg