Anthroposophie

Kritische Bilanz zum 150. Geburtstag Rudolf Steiners

In der Evangelischen Akademie Bad Herrenalb suchte die Tagung „Rudolf Steiners Erkenntnisse höherer Welten – Eine kritische Bilanz zum 150. Geburtstag“ vom 18. bis 20. Februar 2011 einen Zugang zu einem der einflussreichsten esoterischen Lehrer im 20. Jahrhundert. Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen deuteten die Rolle des am 27. Februar 1861 geborenen Steiner in der Gegenwartskultur oder loteten Möglichkeiten und Grenzen des Gesprächs zwischen der Anthroposophie und den Wissenschaften aus. Drei der Referenten (Gebhardt, Zander und Ullrich) haben kürzlich, pünktlich zum Jubiläum, Biografien Steiners vorgelegt. Die Historikerin Miriam Gebhardt deutete Steiners Lebenslauf als eine moderne „Bastelbiografie“ der Umbrüche, Wechselhaftigkeit und Spontaneität. Steiner habe sich nicht an einer damals gängigen bürgerlichen Vorstellung der Haushaltsführung orientiert, sondern mit einer modernen Lebensführung und mehreren Partnerschaften experimentiert. Der „flüchtige Prophet“ habe sich immer wieder gewandelt und sei schwer zu fassen. Erst mit Anfang 40 habe er seine Berufung gefunden. Die Brüche vom „braven Goetheforscher“ zum Nietzscheaner und weiter zum „Okkult-Propheten“ ließen sich nicht mit Konversionserfahrungen erklären, sondern machten seine Biografie vergleichbar mit der anderer „sprunghafter Zeitgenossen“ um 1900.Der Politikwissenschaftler und Theologe Helmut Zander (vgl. die Rezension zu seiner Steiner-Biografie in diesem Heft S. 157f) skizzierte die Esoterische Schule Rudolf Steiners, die bisher kaum erforscht sei. In der Theosophie habe man sich nach einer Zeit, in der sich der Spiritismus auf äußere, sinnlich wahrnehmbare Beweise des Jenseitigen konzentriert hatte, auf den inneren Menschen besonnen. Damit habe eine Suche nach Anknüpfungsmöglichkeiten an kaum mehr vorhandene Traditionen der Kontemplation in Indien und Europa begonnen, um eine europäische Meditationspraxis in indischem Gewand neu zu erfinden, so Zander. 1904 wurde Steiner nach einer zweijährigen Zeit als Schüler der Esoterischen Schule der Theosophischen Gesellschaft Landesleiter der Esoterischen Schulen in Deutschland. Zander zeigte Verbindungen Steiners zur Freimaurerei auf. Er wies darauf hin, dass der heutigen Anthroposophie die praktische Esoterik Steiners mit Riten und Zeremonien, zum Beispiel das Initiationsritual, fehle und sie damit um einen für Steiner wichtigen Teil verkürzt sei. Die Attraktivität der Esoterischen Schule Steiners sieht Zander darin, dass Steiner mit der „höheren Erkenntnis“ eine Antwort auf die tiefsitzende Verunsicherung des 19. Jahrhunderts geben konnte, nachdem alle früheren Gewissheiten auch in der Religion in Frage gestellt waren. Der Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich ging der Frage nach, inwieweit ein Gespräch zwischen der Waldorfpädagogik, die die erfolgreichste Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts sei, und den universitären Erziehungswissenschaften möglich ist. Als ein Merkmal der Waldorfpädagogik stellte Ulrich heraus, dass sie sich nicht an Kindern orientiere, sondern am Lehrer als Vorbild. Die Anthroposophie solle nach der Idee der Waldorfpädagogik nicht als Inhalt gelehrt werden, sei aber für das „Wie“ des Unterrichts entscheidend. Aus der Sicht universitärer Erziehungswissenschaftler, für die Ullrich Beispiele nannte, stelle sich die Waldorfpädagogik als „beeindruckende Praxis“, aber „dubiose Theorie“ dar. Von einem Dialog mit den Erziehungswissenschaften habe sie sich bis heute nicht beeinflussen lassen. Es zeigten sich deutliche Grenzen eines Gesprächs. Von Eltern wird die Waldorfschule aus Ullrichs Sicht gewählt, weil sie ein (milieuspezifisches) Gegenprogramm zu den staatlichen Schulen darstelle.Der Theologe Werner Thiede untersuchte die Rolle des kosmischen Christus in Steiners Anthroposophie und deutete mögliche Verbindungslinien zur Rede vom kosmischen Christus bei Teilhard de Chardin an. Mit der Christengemeinschaft habe Steiner den Grund für eine esoterische Religion christlicher Prägung gelegt. Die Ärztin Barbara Burkhard stellte aus der Perspektive der Schulmedizin die anthroposophische Medizin vor. Dazu gehörten das anthroposophische Menschenbild, das Krankheitsverständnis und Vorstellungen über die Wirksamkeit spezifischer Präparate (z. B. Mistelpräparate) und Behandlungsmethoden (z. B. Heileurythmie). Die Referentin hob hervor, dass nach dem Selbstverständnis Präparate nur innerhalb der anthroposophischen Medizin wirksam wären. Sie kritisierte unter anderem die Immunität anthroposophischer Medizin gegenüber Kritik von außen. Der Journalist Alexander Kissler sprach unter der Überschrift „Lektionen aus dem Bienenstock“ über die Anthroposophie in der Gegenwartskultur. Die Anthroposophie begegnet auch dem Nichtanthroposophen vielerorts im Alltagsleben. Kissler beobachtete einen gewissen Widerspruch zwischen sympathisch wirkenden Anthroposophen im Privatleben und einer bemerkenswerten Aggressivität in der Öffentlichkeit gegenüber Kritikern. Er ging beispielhaft auf das Befremden ein, das er als Nichtanthroposoph angesichts der Demeter-Landwirtschaft empfindet. Eine Erklärung für die Attraktivität der Anthroposophie fand er in der Schilderung einer Ausstellungsbesucherin im Goetheanum in Dornach, die sich von der begehbaren Skulptur eines Bienenstocks begeistert zeigte. Wie ein solcher Bienenstock sei die Anthroposophie ein geschlossenes System mit einem „duftenden, blühenden, akustischen“ Erlebnisraum für ein Ich, das auf der Suche nach Spielräumen sei.Der in einer humorvollen Haltung vorgetragene Beitrag Kisslers, der deutlich sein Befremden gegenüber den esoterischen Vorstellungen der Anthroposophie zum Ausdruck brachte, neigte am ehesten dazu, das Tagungspublikum mit etwa 90 überwiegend älteren Teilnehmern zu polarisieren. Anhänger Steiners empfanden die Anthroposophie auf zynische Weise lächerlich gemacht. Nichtanthroposophen fanden den Vortrag „erfrischend“. Dies zeigt, mit welchen Emotionen und Ambivalenzen die Anthroposophie in der Gegenwartskultur einhergeht. Großer Ernst auf der einen und ein ebenso großes Befremden auf der anderen Seite stehen sich gegenüber und kommen nicht leicht ins Gespräch. Ihren festen Platz in der deutschen Alltagskultur hat die Anthroposophie vor allem durch ihre praktischen Zweige. Die esoterischen Theorien Steiners sprechen nur einen überschaubaren Kreis Interessierter an. Junge Menschen dürften sich eher von neuen Formen esoterischer Angebote angezogen fühlen.


Claudia Knepper