Kultursensible anstelle integraler Heilbehandlungen
(Letzter Bericht: 8/2009, 311f) Es gibt zunehmend Kliniken, die bei der ärztlichen Behandlung psychosomatischer Störungen unter Verweis auf einen „ganzheitlichen Ansatz“ spirituelle Elemente in ihre Behandlung mit einbeziehen. Im fränkischen Bad Kissingen arbeiten mittlerweile 500 Menschen in vier Kliniken und mehreren Akademien der Unternehmensgruppe Heiligenfeld daran, Fachlichkeit mit Spiritualität zu verbinden. Joachim Galuska, ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der Heiligenfeld-Kliniken, möchte eine integrale, transpersonale Psychotherapie des Bewusstseins jenseits herkömmlicher Therapieschulen entwickeln (vgl. Joachim Galuska / Albert Pietzko [Hg.], Psychotherapie und Bewusstsein, Bielefeld 2005).
Im April 2009 haben die Oberberg-Kliniken – ein Verbund dreier Privatkliniken und zweier City-Ambulanzen in München und Berlin – eine Weiterbildungsakademie mit der Vision einer „Integralen Heilkunst“ ins Leben gerufen. Ab Herbst 2010 sollen in acht Modulen (sieben Wochenenden und eine Intensivwoche) an Fachleute Lehren und Erfahrungen vermittelt werden, die das „Tor in die Entwicklung eines allumfassenden Verständnisses menschlichen Bewusstseins und seiner Potentiale“ öffnen. Eine regelmäßige meditative Übungspraxis der Teilnehmenden ist erwünscht und notwendige Voraussetzung des Erfolgs. In der Intensivwoche auf dem Benediktushof werden Yoga, Zen, und (angeblich) weltanschaulich neutrales Achtsamkeitstraining (MBSR) eingeübt. Christliche Kontemplation steht dabei nicht auf dem Programm. Für 2010 sind darüber hinaus zwei große Meditations-Tagungen mit namhaften Referenten (u. a. Willigis Jäger, Michael von Brück, Thomas Metzinger) angekündigt.
Im Dezember 2009 hatten die Oberberg-Kliniken zu der Fortbildung „Von der evidenzbasierten Therapie zur integralen Heilkunst – ein neues Behandlungs- und Heilungsmodell für psychosomatische Erkrankungen“ nach Berlin eingeladen. Eine ganzheitliche Heilung erfordere, so die Ankündigung, ein „integrales Grundverständnis der zugrundeliegenden personalen und transpersonalen Bewusstseinsprozesse des Patienten, der Therapeuten und des Beziehungsraumes“. Referent dieser von der Berliner Ärztekammer zertifizierten Fortbildung war der Satsang-Lehrer Thomas Hübl (vgl. MD 1/2008, 33ff). In seinem Eröffnungsvortrag führte Hübl aus, dass die therapeutische Kommunikation entscheidend durch Präsenz und Achtsamkeit vertieft werden könne. Dadurch entstehe ein transpersonaler Bewusstseinsraum als ein „heiliger Beziehungsraum“, der Zugang zu allen Informationen biete, die für eine Heilung nötig seien. Im Anschluss an den Vortrag lud Hübl die Teilnehmer ein, sich an einer Klangmeditation, einem „Toning“ zu beteiligen, das etwa 20 Minuten anhielt. Zu dem harmonischen Klangteppich des Auditoriums sang Hübl komplementäre Töne und steuerte durch Handbewegungen die Lautstärke.
Es ist zu begrüßen, dass die spirituelle Dimension in der Heilkunde wieder stärker berücksichtigt wird. Für eine ganzheitliche Patientenbehandlung wird heute seitens der Psychotherapieforschung jedoch vor allem ein kultursensibles Vorgehen angemahnt (vgl. Yesim Erim, Klinische Interkulturelle Psychotherapie, Stuttgart 2009). Dabei sind die unterschiedlichen religiös-spirituellen Prägungen und biographischen Verläufe zu berücksichtigen. Hier fällt zunehmend ins Gewicht, dass mittlerweile fast 20 Prozent der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben.
In den für Spiritualität offenen Therapiekreisen wird vor allem der evolutionäre Ansatz Ken Wilbers favorisiert (vgl. MD 4/2009, 123ff). Die integrale Psychologie Wilbers fragt jedoch nicht nach der kulturellen Prägung des Gegenübers. Wilber hat sein universalistisches Bewusstseins-Modell auf der Grundlage einer monistischen Weltsicht entwickelt, die er aus der Advaita-Tradition Indiens sowie dem Buddhismus übernommen hat. Aus psychotherapeutischer Sicht ist der Anspruch vermessen, die Logik der Psyche (kultur-)umfassend verstehen zu können und aus einem transpersonalen Bewusstseinszustand heraus heilend tätig zu werden.
Michael Utsch