Kunstreligion
Ein jeder weiß, was „Kunst“ ist, und eine jede, was „Religion“ bedeutet (wenigstens so ungefähr). Aber „Kunstreligion“? Offenbar geht es um Phänomene, die irgendwie beiden Bereichen zugehören, um Vollzüge oder Erfahrungen, in denen „Kunst“ und „Religion“ in besonderer Weise zusammentreffen. Im Folgenden sollen die Facetten des schillernden Begriffs in den Blick genommen werden und damit auch die schillernden Phänomene, auf die er verweist.
Ungeachtet dessen, dass der Terminus im allgemeinen Sprachgebrauch wenig vorkommt und dass er auch in den religionsbezogenen Wissenschaften allenfalls am Rande Berücksichtigung findet, soll dabei seine gegenwärtige religionsdiagnostische Bedeutsamkeit herausgestellt werden. Der Begriff kann als Sonde für eine Spielart „unsichtbarer Religion“ (Thomas Luckmann) dienen, die sich jenseits herkömmlicher religiöser Institutionen, Gemeinschaften und Praktiken vollzieht, die aber gleichwohl nicht von vornherein als irrelevant oder illegitim eingestuft werden sollte. Wer ein Sensorium für die fluiden Formen von Spiritualität besitzt, in denen sich der menschliche „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Friedrich Schleiermacher) heute bei vielen artikuliert, wird vom Konzept der Kunstreligion auf die Fährte einer ästhetisch-religiösen „Zwittergestalt“ geführt, die abseits der geläufigen Wege institutionell identifizierbarer Religion verläuft. Die Mühsal, sich damit in unübersichtliches, kaum kartographiertes Gelände zu begeben, wird vergolten durch den Gewinn einer vollständigeren Gesamtsicht der religiösen Landschaft.
Annäherung
Dass sich die Sphären „Kunst“ und „Religion“ realiter nicht so säuberlich scheiden lassen, wie es die Vorstellung „autonomer“, also voneinander unabhängiger, je eigenen Regeln gehorchender Kultursegmente suggeriert, lässt sich an einem Beispiel zeigen. Man denke an eine beliebige Fuge von Johann Sebastian Bach, die am Ende eines Gottesdienstes als Orgelnachspiel erklingt. Sie wurde für die „Königin der Instrumente“ komponiert, also für einen Sakralraum und (potenziell) zur musikalischen Bereicherung der sakralen Feier. Vielleicht hat Bach seine Komposition sogar, wie er es häufig tat, mit dem Kürzel S.D.G. (für lat. Soli Deo Gloria, „Gott allein sei Ehre“) überschrieben, weil er seine Musik generell als Organ des Gotteslobes begriff. Von einem autonomen Kunstwerk im Vollsinne kann hier also nicht die Rede sein. Vielmehr wurde dieses Klanggebilde als Element des christlichen Kultes oder zumindest als Zeugnis christlicher Frömmigkeit geschaffen. Sofern es im Gottesdienst mit einem derartigen Bewusstsein vernommen wird, wird man nicht eigentlich von einem „kunstreligiösen“, sondern eher von einem religiösen oder „geistlichen“ Geschehen sprechen, bei dem die Musik/Kunst wesentlich eine illustrierende oder verstärkende Funktion hat. Sie wird dabei von vornherein im Rahmen und als Ausdruck der institutionell definierten Religion aufgefasst.
Wie aber, wenn dieselbe Fuge nicht in einem Gottesdienst, sondern in einem Konzert erklingt? Oder, per Radio, CD oder Stream, im eigenen Wohnzimmer? Auch wenn vielen der historische Bezug zu Christentum und Kirche dabei noch hinreichend präsent sein dürfte, wird vermutlich stärker hervortreten, was selbstverständlich auch beim Gottesdienstnachspiel gilt: „An sich“ oder „in sich“ hat diese Fuge keinen manifesten religiösen Charakter. Ihr musikalischer Aufbau folgt spezifisch musikalischen Gesetzen (eben den quasimathematischen Regeln der Fuge), die selbst wiederum keinen religiösen Vorgaben gehorchen. Wer beim Hören den Verlauf der Themen und Themenvariationen verfolgt, muss dabei keineswegs wie Goethe an das innere Gespräch „in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung“1 denken – derlei religiöser Gehalt ist dem textlosen Musikstück in seiner gänzlich eigengesetzlichen musikalischen Struktur nicht zu eigen. Niemand muss beim Hören zwingend an irgendeinen Aspekt des christlichen Glaubens denken, man kann sich vielmehr auch rein musikalisch am „Spiel tönend bewegter Formen“ (Eduard Hanslick) erfreuen. Mit dem religiösen Kontext entfallen die religiösen Konnotationen, es bleibt der bloße ästhetische Vollzug.
Es ist indessen noch ein dritter Modus der Rezeption denkbar (und vielfach belegt), der gewissermaßen zwischen der geistlich-religiösen und der ästhetisch-profanen Einstellung liegt. Manche folgen dem musikalischen Verlauf, lassen sich vom gravitätischen Klang und vom sinnreichen Ineinander und Auseinander der tönenden Linien mitnehmen – und fühlen sich dabei auf sonderbare Weise innerlich „erbaut“. Sie sind ganz bei oder in der Musik, die sie für einen Augenblick ihrem alltäglichen Leben entnimmt, und ohne dass dabei bestimmte religiöse Gedanken aufgerufen würden, empfinden sie angesichts der feierlichen Töne so etwas wie eine „Erhebung der Seele“, die sie mitunter sogar zu Tränen rührt. Dabei kann im Hintergrund durchaus der sakrale Raum oder die Erinnerung an den christlichen Kult wirksam sein; aber dies womöglich nur in einem ganz allgemeinen Sinne. Dann erlebt die Hörerin in dieser Musik etwas Erhabenes, das eine Tiefenschicht des Gemütes berührt, die ihr sonst verschlossen ist. Kraft solcher Sammlung oder Ergriffenheit ähnelt dieser ästhetische Vollzug in gewisser Weise der Haltung religiöser Andacht, wenn auch (mehr oder weniger) ohne bestimmten religiösen Gehalt. Eine derartige „Musikandacht“, gerade unter Bach-Enthusiasten nicht selten anzutreffen, wäre ein exemplarischer Fall von „Kunstreligion“: Ein Kunstwerk, das primär in seiner autonomen ästhetischen Qualität aufgefasst wird, entfaltet im Zuge dessen eine Tiefenwirkung, die als „religiös“ oder „spirituell“ bezeichnet werden kann, ohne doch die identifizierbaren Kennzeichen institutionell und konfessionell definierter Religion zu tragen.
Säkularisierung und Resakralisierung
Wie das Beispiel deutlich macht, können in Zeiten der generellen Emanzipation der Kunst von der Religion, die zur Praxis eines von religiös-weltanschaulichen Bezügen freien, eben „autonomen“ Kunstgenusses geführt hat, auch ursprünglich sakrale Kunstwerke nur als Kunstwerke, also „rein ästhetisch“, rezipiert werden. Solches gilt etwa auch von Kirchengebäuden, die beim Sightseeing als Zeugnisse der Baukunst aufgesucht werden, aber auch von den Kunstwerken in den Kirchen, den Altarbildern, Kruzifixen und Heiligenskulpturen, deren Beschreibungen die Reiseführer füllen. Gleich ob sie in der Kirche oder im Museum stehen – die Komposition einer Kreuzigungsgruppe oder die Anmut einer Marienstatue sind auch einer ästhetischen Betrachtung zugänglich, die sich für die religiösen Sujets als solche gar nicht interessiert. Ebenso bei Vertonungen geistlicher Texte, bei Motetten oder Oratorien: Auch sie können in ihrer lyrischen Expressivität, ergreifenden Wucht oder feierlichen Pracht ohne Rücksicht auf die darin gestalteten Glaubensgehalte genossen werden. Der (oftmals ohnehin schwer verständliche) Text wird dann beim Hören zum bloßen Vehikel der gesungenen Töne, der religiöse Gehalt tritt für die ästhetische Aufmerksamkeit zugunsten des musikalischen Geschehens zurück.
Ein solchermaßen „säkularisierender“ Umgang mit religiöser Kunst, etabliert im Zuge der allgemeinen Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens und der Autonomisierung der Kunst, ist im bürgerlichen Kulturleben sehr verbreitet; im Selbstverständnis der Kunstkonsumenten dürfte er vorherrschend sein. Dieser „ästhetischen Säkularisierung“ im Aufnahmeverhalten entspricht eine solche in der Präsentationspraxis: Die Ablösung vom vormaligen religiösen „Gebrauch“ wird sinnenfällig, wo sakrale Kunst im Museum ausgestellt oder wo geistliche Musik im Konzertsaal aufgeführt wird.
Es würde nun aber zu kurz greifen – dies ist die grundlegende religionsdiagnostische oder religionshermeneutische Pointe des Begriffs „Kunstreligion“ –, angesichts jener Säkularisierung bei der Alternative von „geistlich-sakralem“ und „bloß ästhetischem“ Zugang stehen zu bleiben. Vielmehr verweist der Begriff auf die Möglichkeit, dass es unter den Bedingungen der Säkularisierung und Autonomisierung der Kunst zu neuen Wechselwirkungen zwischen Kunst und Religion kommt, die einen weiteren Typus der Kunstrezeption hervorbringt. Kennzeichnend dafür ist gerade das Changieren zwischen ästhetischer Autonomie und religiöser Wirkung: Der ästhetische Vollzug hat sich zwar von den überkommenen Formen und Gehalten der institutionellen Religion frei gemacht. Er führt aber dennoch über den „rein ästhetischen“ Genuss hinaus in eine Gestalt religiöser Gestimmtheit, worin jene abgelegten Formen und Gehalte in eigentümlicher Weise nachklingen.
Die Geburt des Begriffs
Der Terminus „Kunstreligion“ entstammt der Epoche der Romantik, wobei er ältere Entwicklungen auf dem Feld von Religion und Kunst (bzw. Theologie und Ästhetik) aufnimmt. Der erste Beleg findet sich in einer epochalen theologischen Schrift, in den (eingangs bereits zitierten) „Reden über die Religion“ (1799) von Friedrich Schleiermacher. Von Kunstreligion ist demnach zu reden, wo „der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion“ (166f), wenn ein Kunstwerk den Betrachter, Hörer oder Leser gleichsam aus eigener ästhetischer Kraft dazu bringt, „sich über das Endliche zu erheben“ (167). Obwohl er freimütig bekennt, dass ihm selbst dieser „Weg zur Religion“ (166) verschlossen sei, hält Schleiermacher ihn doch für legitim – und er verheißt ihm eine große Zukunft.
Wie eine Anspielung verrät, wurde der Theologe wesentlich von einem Schlüsselwerk der literarischen Frühromantik zu dieser Einschätzung bewogen: von den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797). Das Gemeinschaftsprodukt von Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) und Ludwig Tieck (1773–1853) kann als die erste und wichtigste Programmschrift der Kunstreligion gelten (wenngleich der Ausdruck selbst noch fehlt). In Aufsätzen eines fiktiven Mönchs wird darin geschildert, wie verschiedene Protagonisten von Werken der Musik oder der bildenden Kunst (namentlich von den Renaissancekünstlern Dürer, Michelangelo, Raffael und Leonardo) in einen Zustand der Erhebung versetzt werden, der unverkennbar Züge religiöser Kontemplation trägt, auch wenn dabei bestimmte christliche Glaubensinhalte keine konstitutive Rolle spielen. So berichtet der Mönch von einem gewissen „Tonkünstler“ namens „Joseph Berglinger“:
„Vornehmlich besuchte er die Kirchen und hörte die heiligen Oratorien, Kantilenen und Chöre mit vollem Posaunen- und Trompetenschall unter den hohen Gewölben ertönen, wobei er oft aus innerer Andacht demütig auf den Knien lag. […] Ehe die Musik anbrach, […] harrte er auf den ersten Ton der Instrumente; – und indem er nun aus der dumpfen Stille, mächtig und langgezogen, gleich dem Wehen eines Windes vom Himmel hervorbrach […] – da war es ihm, als wenn auf einmal seiner Seele große Flügel ausgespannt, als wenn er von einer dürren Heide aufgehoben würde, der trübe Wolkenvorhang vor den sterblichen Augen verschwände und er zum lichten Himmel emporschwebte“ (105f).
Aber es ist keineswegs nur geistliche Vokalmusik, die bei Berglinger solche intensiven Andachtsgefühle erwecken, sondern ebenso Instrumentalmusik:
„Wenn Joseph in einem großen Konzerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Winkel und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre – ebenso still und unbeweglich und mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen. Der geringste Ton entschlüpfte ihm nicht, und er war von der angespannten Aufmerksamkeit am Ende ganz schlaff und ermüdet“ (107).
Wie die großen Oratorien so versetzt den idealtypischen Hörer „Joseph“ auch die Instrumentalmusik in eine kontemplative Verfassung, die mit dem religiös konnotierten Ausdruck der „Andacht“ in die Nähe religiöser Gestimmtheit gerückt wird. Es deutet sich darin jene doppelte Charakteristik von „Kunstreligion“ an, die bereits herausgestellt wurde: Dass sie sich an textloser Musik entzünden kann, zeigt ihre Ablösung von der institutionell und konfessionell definierten Religion. Dass sie sich indessen – und zwar nach Wackenroder/Tieck vornehmlich – an den Werken christlicher Kunst entzündet, zeigt das Nachwirken des Christlich-Religiösen in der betreffenden Resonanz. Die religionsartige „Neuaufladung“ oder „Resakralisierung“ der Kunstrezeption setzt eine Säkularisierung von Religion und religiöser Kunst voraus, sie lebt aber offenkundig von religiösen Potenzialen, die von der nämlichen „Verweltlichung“ unbetroffen blieben.
Ältere Programme zur Ästhetisierung des Christentums
Können die „Herzensergießungen“ als die Gründungsurkunde der modernen Kunstreligion angesehen werden, darf die fragliche Zäsur doch auch nicht überzeichnet werden. Die neue Idee eines sich in der ästhetischen Kontemplation aufbauenden religiösen Bewusstseins wurde im 18. Jahrhundert gründlich vorbereitet. So hat Friedrich Gottlieb Klopstock, der Dichter des christlichen Epos „Der Messias“ (1748–1773), in seinem Essay „Von der heiligen Poesie“ (1755) das Ideal einer Frömmigkeit gezeichnet, die durch den Schwung christlicher Dichtung aus der Erstarrung des lehrhaft-dogmatischen Christentums gerissen und mit neuer Lebendigkeit und Herzensinnigkeit erfüllt wird. In diesem Sinne ist denn auch „Der Messias“ von vielen als eine Art poetisches Erbauungsbuch zur Befeuerung der privaten Andacht gelesen worden. In den 1770er Jahren wird Klopstocks Programm dann von Theologen (August Hermann Niemeyer) und Musikern (Johann Friedrich Reichardt) auf die Tonkunst übertragen. Das Ergebnis ist das Konzept einer „heiligen Musik“, erklingend in der Kirche, aber auch am häuslichen Klavier oder im weltlichen Konzertsaal. Sie soll ebenfalls der Erweckung frommer Empfindungen dienen – bei all denen, deren Herz vom öffentlichen Gottesdienst mit der lehrhaften Predigt im Zentrum nicht angesprochen wird. Die Kunst wird als Medium zur Kompensation der affektiven Resonanzarmut der altprotestantischen Gelehrtenreligion begriffen, und sie wird dabei zum Vehikel einer außerkirchlichen bürgerlichen, teils privaten, teils öffentlichen Andachtskultur.
Indessen ist auch Klopstocks wirkmächtige Idee der heiligen Poesie nicht im luftleeren Raum entstanden. Es wirkt darin das pietistische Ideal lebendiger Frömmigkeit mit Strömungen in der Poetik und Ästhetik der Aufklärung zusammen, wo die Problematik der poetischen bzw. ästhetischen Verlebendigung religiöser (und moralischer) Inhalte ein treibendes Motiv darstellt. So kommen eine ganze Reihe von Zeitgenossen Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts zu der Auffassung, das überkommene Christentum benötige dringend die Hilfe ästhetischer Versinnlichungs- und Emotionalisierungsmittel, um gegen die Tendenzen zur „Vertrocknung“ der Frömmigkeit durch protestantisch-orthodoxe Theologie und aufklärerische Verständigkeit zu neuer Vitalität zu gelangen.
Wie diese Schlaglichter zeigen, gibt es spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland die Theorie und Praxis einer engen Synthese von Kunst und Religion, wo die Kunst nicht mehr wie früher im Dienst des kirchlichen Christentums steht, sondern als freies religiöses Medium fungiert. In mehr oder weniger entschiedener Distanz gegenüber der Kirche bildet sich eine Gestalt von Religion, die auf die besondere Erlebnistiefe der Kunst setzt und sich daher im Medium des Ästhetischen vollzieht. Man kann die fraglichen Prozesse als „Ästhetisierung“ des Christentums bezeichnen, unmittelbar verflochten mit einer „Sakralisierung“ der freien bürgerlichen Kunstpraxis, die in dieser Zeit entsteht. Es handelt sich dabei aber nicht etwa um eine Entmächtigung des Religiösen, wie ein verbreitetes Vorurteil meint, sei es zugunsten eines oberflächlichen Vergnügens am Schönen, sei es zugunsten eines ästhetischen Sinnerlebens, das als Religionsersatz fungiert. Zumindest ursprünglich zielt die Ästhetisierung vielmehr dezidiert auf die Wiedergewinnung einer erlebnisintensiven Herzensreligion. Sie ist Teil der modernen Individualisierung des Christentums und seiner Emanzipation von der Kirche.
Die Problematik der Unbestimmtheit
Blickt man auf spätere Konzeptionen von Kunstreligion, verwundert es freilich nicht, dass die fraglichen Erscheinungen heute häufig im Sinne eines Religionssurrogats gedeutet werden. Denn mit Arthur Schopenhauer (1788-1860) und Friedrich Nietzsche (1844-1900) haben zwei Philosophen großer populärer Reichweite der ästhetischen Kontemplation religionsanaloge Funktionen wie Weltflucht, Selbstentlastung und Sinnstiftung zugeschrieben, sie dabei aber ausdrücklich als Ersatz der abgelebten Religion ausgewiesen. Und auch Richard Wagners (1813-1883) Idee des „Bühnenweihspiels“ verheißt eine „Erlösung“, von der nicht leicht zu sagen ist, ob sie auf einer religiösen Erfahrung von Transzendenz beruht oder bloß auf einer Entrückung in die imaginären Reiche der Phantasie.
Ein Hauptgrund für das Schwanken der Deutungen ist jenes Charakteristikum der betreffenden Phänomene, das besonders in den einschlägigen musikästhetischen Äußerungen um 1800 hervortritt, weshalb das romantische Modell von Kunstreligion gegenüber den Vorläuferkonzeptionen tatsächlich ein neues religionskulturelles Stadium markiert: Indem wie bei Wackenroder/Tieck auch der Instrumentalmusik potenziell religiöse Resonanz zugeschrieben wird, werden unbestimmte religiöse Gefühle zum Zentralmerkmal der Kunstreligion. Das berühmteste Beispiel für diese religiöse Aufwertung der Instrumentalmusik ist die Rezension der Fünften Symphonie Beethovens von E. T. A. Hoffmann aus dem Jahre 1810. Ihr zufolge „erweckt“ Beethovens Musik „unendliche Sehnsucht“, ein „ahnungsvolles“, „unbestimmtes Sehnen“, das die Seele des Hörers emporhebt „in das wundervolle Geisterreich des Unendlichen“ (zit. n. Fritz 2014b, 43f).
Bei dieser kunstreligiösen Inanspruchnahme textloser Musik ist eine theologische bzw. religionsphilosophische Einsicht vorausgesetzt, für die hier wiederum stellvertretend der Name Schleiermacher stehen kann. Nur wer davon ausgeht, dass Religion nicht allein von bestimmten Lehren oder Anschauungen lebt, sondern ebenso von unbestimmten Transzendenzsehnsüchten und -ahnungen – Schleiermacher spricht vom „Gefühl des Unendlichen“ (54) –, kann der Instrumentalmusik in ihrer bedeutungshaften Unbestimmtheit derartige religiöse Qualitäten beimessen. Wer hingegen eine solche Religionstheologie bereits als Abfall vom wesenhaft konfessionell verfassten, an bestimmten Glaubensgehalten haftenden Christentum betrachtet, wird auch die Kunstreligion überhaupt als Signum einer allgemeinen Entchristlichung beurteilen. Und auch wer das Wesen der Religion bewusst oder unbewusst an einem solchen dogmatischen Begriff christlicher Religion orientiert (wenn auch nicht aus dogmatisch-normativen Gründen), wird an den für die Kunstreligion ins Feld geführten Regungen nichts Religiöses entdecken können und sie der Sphäre des „bloß Ästhetischen“ zuweisen. Die Wahrnehmung und das Ernstnehmen der kunstreligiösen Resonanzen hängen demnach maßgeblich von der zugrunde liegenden Auffassung von Religion oder Glauben ab.
Die Bandbreite des religiösen Lebens
Es ist nun freilich bei aller religionsästhetischen Offenheit nicht zu leugnen, dass den ins Auge gefassten religiösen Gemütszuständen eine Unschärfe eignet, die zur Verflüchtigung neigt. Sollen sie dennoch theologisch wertgeschätzt werden, müssen sie mit den bestimmteren Formen christlichen Glaubens in Beziehung gesetzt werden. Dazu bedarf es einer Korrektur im herkömmlichen Bild des christlichen Glaubens. Wie ausgeführt verdanken wir der Romantik (und vorlaufenden Tendenzen im Pietismus) einen Sensus dafür, dass zur Religion auch Empfindungen gehören, die aller aussagen- und vorstellungshaften Glaubensbestimmtheit vorausliegen – und dass der Verlust dieser Erlebnisdimension einer dogmatischen Rationalisierung gleichkommt, die religiöse Verarmung bedeutet. Das subjektive Frömmigkeitsleben ist demzufolge nicht statisch als fixer Zustand von Glaubensgewissheit zu fassen; vielmehr bewegt es sich auf einer breiten Skala von Bestimmtheits- und Gewissheitsgraden, die von dunkler Transzendenzsehnsucht bis zu Momenten klarer Heilsgewissheit reicht.
Folgt man dieser Beschreibung, so steht der Begriff der Kunstreligion für die Fähigkeit der Kunst, in Ergänzung zu allen dogmatisch oder symbolisch bestimmteren Formen christlicher Religion jene mehr oder weniger vagen religiösen Gefühle zu kultivieren, die für die Spiritualität konstitutiv sind, die aber innerhalb der institutionellen Christentumspraxis wenig Raum finden. Unter der Voraussetzung einer entsprechend variablen Auffassung christlicher Religiosität kann die Kirche mit ihren sprachlich-symbolischen Ausdrucks- und Reflexionspotenzialen an die betreffende Erlebnissphäre anknüpfen. Ihr kommt es dann zu, die flüchtigen Anklänge des Übersinnlichen in der Kunst aufzunehmen und sie mithilfe der christlichen Anschauungen und Symbole zu deuten, auf dass sie durch einen derartigen Bestimmtheitszuwachs an Stetigkeit und lebensbestimmender Kraft gewinnen. Zugleich bleibt das kirchliche Christentum aber selbst dauerhaft auf die nichtsprachliche Erlebnisschicht der Kunst angewiesen, um sich einen elementaren Sinn für das institutionell und konfessionell unverrechenbare Geheimnis des Göttlichen zu bewahren.
Fazit
Im vorliegenden Artikel wurden die historischen und sachlichen Konturen des Begriffs „Kunstreligion“ skizziert. Die Fülle von Phänomenen, die dafür heute als potenzielle Erscheinungsformen infrage kommen, konnte dabei nicht einmal ansatzweise in den Blick genommen werden: Konzert und Museum, Architektur, Literatur und Theater, Film und Hörspiel, daneben der gesamte Überschneidungsbereich von Kunst und Kirche, und all dies analog zum „hochkulturellen“ auch für den „popkulturellen“ Bereich – die möglichen Orte religiöser oder spiritueller Resonanzen von Kunst sind unüberschaubar.
Ungeachtet dessen kann abschließend ein doppeltes Resultat festgehalten werden. Zum einen liegt die religionsdiagnostische Leistung des Begriffs „Kunstreligion“ darin, dass er eine Sphäre ästhetisch evozierter Spiritualität wahrzunehmen erlaubt, die für das gewöhnliche Instrumentarium religiöser Zeitdiagnose unsichtbar bleibt. Der Terminus weist auf eine spirituelle Ansprechbarkeit kunstsinniger Menschen hin, ohne deren Beachtung das Bild der Gegenwartsreligiosität unvollständig wäre. Wie jene Spiritualität religionsdiagnostisch zu erheben ist, versteht sich indes nicht von selbst. Aber ein Anfang wäre gemacht, würden beispielsweise die zahllosen Akteure und Besucher von Kirchenkonzerten auf ihre Motivation und ihr Erleben beim Musizieren und Musikhören hin befragt. Lagen die Theoretiker der Aufklärung und Romantik mit ihren Beschreibungen seinerzeit richtig, so ist jedenfalls auch heute davon auszugehen: Menschen suchen und finden in der Kunst eine emotionale religiöse Innerlichkeit, die ihnen die hergebrachten Formen der öffentlichen Religion oftmals nicht vermitteln – die ihnen aber mitunter einen neuen Zugang zu jenen Formen vermitteln kann.
Damit ist auch schon die kirchliche Relevanz des Konzepts benannt. In der Kunstreligion liegt für die Kirche eine in ihrer Bedeutung kaum zu unterschätzende Kontaktfläche mit einer freien, fluiden Spiritualität, die ihre Repräsentanten wahr- und ernstnehmen sollten. Es versteht sich freilich nicht von selbst, wie kirchlicherseits an diese Spiritualität anzuknüpfen ist, und als Form von Spiritualität mit einer langen Geschichte der Emanzipation von der Kirche dürfte sie allergisch gegen plumpe Vereinnahmungsversuche sein. Aber immerhin verfügen die Kirchen über ein großes Reservoir an geistlicher Kunst und Musik, worin der Übergang zu den christlichen Gehalten und Symbolen gewissermaßen vorgezeichnet ist. Mit diesen Schätzen haben die Kirchen zu „wuchern“, um kirchenfernen, aber ästhetisch ansprechbaren Zeitgenossen durch eine feinfühlige Auslegung ihrer „unendlichen Sehnsucht“ die Symbolwelt des Christentums wieder nahe zu bringen.
Martin Fritz, 05.04.2023
Literatur:
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Fritz, Martin (2014a): Hallische Avantgarde. Die Erfindung der Ästhetik und die Ästhetisierung des Christentums, in: ZNThG 21, 1–27
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Fritz, Martin (2011): Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen
Meier, Albert/Costazza, Alessandro/Laudin Gérard (2011/12/14): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung, 3 Bde., Berlin/Boston
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Schleiermacher, Friedrich (1799): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Studienausgabe, hg. von G. Meckenstock, Berlin 2001 (zitiert nach Originalpaginierung)
Wackenroder, Wilhelm Heinrich/Tieck, Ludwig (1797): Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Stuttgart 2001.
Anmerkungen
- Zit. n. Eckart Kleßmann: Über Bach: Von Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie, Stuttgart 1992, 91.