Tobias Vöge

Lateinischer Gesang in Berliner Hinterhof

Besuch der St. Afra-Gemeinde des St. Philipp-Neri-Instituts

Weltanschauungsarbeit befasst sich mit den Lehren und Lebensformen religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften. Eher selten wird beschrieben, wie die alltäglichen Kultvollzüge aussehen, die das religiöse Erleben einer Gemeinschaft ausmachen und die in der Mitgliederperspektive meist zentraler sind als die offiziellen Lehren. In einer losen Folge berichten wir daher von Besuchen im Kultus verschiedener Gemeinschaften. Es handelt sich dabei um Momentaufnahmen und persönliche Impressionen, die nicht den Anspruch erheben, die geistliche Praxis einer Gemeinschaft repräsentativ darzustellen.

Durch ein großes Holztor folge ich an diesem Sonntagmorgen (19.9.2021) im Berliner Stadtteil Wedding einer Familie in einen Kreuzgang, an dessen Ende eine Treppe hoch zu den Räumlichkeiten der St. Afra-Gemeinde führt. Die Größe der dreischiffigen Kirche in neugotischem Stil war von außen nicht zu erahnen, schließlich befindet sich der Eingang in einer unauffälligen geschlossenen Häuserfront, wie sie überall an den Hauptstraßen einer beliebigen deutschen Großstadt stehen könnte. Einzig ein Risalit hebt das Gebäude unter den umliegenden Mietshäusern leicht hervor. Eine Kirche, die einigen hundert Menschen Platz bieten könnte, vermutet der durchschnittliche Berlin-Tourist aber wohl trotzdem nicht. Die unauffällige Lage der Kirche hat historische Gründe und ist typisch für ältere katholische Kirchen in Berlin. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die preußische Hauptstadt nach wie vor stark protestantisch geprägt und die hohenzollerischen Herrscher sorgten dafür, dass nur Protestanten ihre Kirchen freistehend bauen durften. Katholische Einrichtungen wie das Heim „St. Afra“ von den „Grauen Schwestern der Heiligen Elisabeth“ waren stärker ins normale Stadtbild eingebaut. Das besagte Heim wurde 1897/98 als Zufluchtsort für gefährdete Frauen und Mädchen errichtet. Anfang des 21. Jahrhunderts fand dort die St. Afra-Gemeinde ihren Standort.2

Das gemeinsame Rosenkranzgebet der Gemeinde beginnt erst in zwanzig Minuten. Es bleibt also genug Zeit, um die sorgsam gestaltete Nische mit einer Marienstatue und den idyllischen Garten im Innenhof zu inspizieren. Die beiden Kinder einer Familie wuseln im Gang umher – ein erster Eindruck, den ich nicht unbedingt erwartet hatte. Das St. Philipp-Neri-Institut (SPNI), zu dem die Gemeinde gehört, feiert seine Gottesdienste traditionell auf Latein, das wirkt auf den ersten Blick nicht allzu kinderfreundlich.

In St. Afra wird die Alte oder „Tridentinische“ Messe nach dem Römischen Ritus aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil zelebriert. Sie unterscheidet sich von der Neuen Messe am augenscheinlichsten hinsichtlich der liturgischen Sprache und der Haltung des Priesters, der einen Teil der Liturgie zum Altar gewandt, mit dem Rücken zur Gemeinde vollzieht.3  Nach seinem Selbstverständnis ist das Institut eine „Antwort auf den offensichtlichen Verfall des Glaubens in Gesellschaft und Kirche“4. Mit dieser Grundauffassung von Traditionsgemäßheit und Überlegenheit der alten liturgischen Form wurde es 2003 gegründet. Es hat nach eigenen Angaben heute mehrere hundert Mitglieder. Außer in St. Afra hält das SPNI auch in Potsdam Messen im Römischen Ritus ab.

Dass der Gottesdienst (10.00 – 11.30 Uhr) trotz Corona scheinbar selbstverständlich in Präsenz stattfindet, lässt an die prominente Positionierung des SPNI im April 2020 denken: Es hat damals als erste Religionsgemeinschaft in Deutschland gegen ein Gottesdienstverbot geklagt. Als Körperschaft päpstlichen Rechts untersteht das Institut nicht dem Erzbistum Berlin, das sich von der Klage distanzierte.5

Rosenkranzgebet und Hochamt

Als ich die Kirche betrete, sitzen noch einige Teilnehmende aus der vorangegangenen Messe in den Bänken. Im Eingangsbereich gibt es einige Tische mit käuflich erwerbbaren Heften, Heiligenfiguren, Kerzen, diversen Flyern sowie einem Schälchen für Spenden. Ankommende nehmen sich ein Liedblatt für den Siebzehnten Sonntag nach Pfingsten und setzen sich nach jeweils einem Kniefall im Eingangsbereich und vor der Sitzreihe. Manche begeben sich sogleich auf die Kniebänke.

Das gemeinsame Rosenkranzgebet, das dem Hochamt vorausgeht, gestaltet sich recht unspektakulär. Unter der Anleitung einer Nonne wird – überraschenderweise auf Deutsch – in Textblöcken abwechselnd der Rosenkranz gebetet. Es sind etwa 15 bis 20 Gläubige anwesend, die meisten über 40 Jahre alt. Manche der Frauen tragen einen Schleier vor dem Gesicht. In der folgenden halben Stunde kommen immer mehr Menschen hinzu. Ein – freilich nirgends genauer definierter – Corona-Sicherheitsabstand wird allgemein eingehalten, bis auf ein älteres Paar trägt niemand eine Maske, was zu diesem Zeitpunkt in Deutschland auch nicht vorgeschrieben ist. Schließlich sind wir zwischen 80 und 90 Besucherinnen und Besucher, darunter viele Seniorenpaare sowie einige Personen unter 30 in Begleitung von Eltern. Nur wenige scheinen allein gekommen zu sein. Die Familie mit den beiden Kindern bildet eine Ausnahme. Nur zwei weitere Kleinkinder machen sich während des Gottesdienstes bemerkbar. Wie ich später erfahre, ist nach dem Hochamt der erste Erstkommunionsunterricht angesetzt. Eventuell ist dies der Grund für das Erscheinen der beiden älteren Kinder – oder aber für das Fehlen einer größeren Schar von Kindern, die evtl. nur eine Veranstaltung besuchen wollen. Wie groß die Gruppe der Erstfirmlinge wurde, weiß ich nicht.

Wer sehnsüchtig auf die Wiederbelebung seines Schullateins gewartet hat, wird mit dem Beginn der Messe belohnt. Auf dem Liedblatt stehen acht Stücke; bis auf ein deutsches und das „Kyrie eleison“ sind alle lateinisch. Eine Übersetzung steht jeweils dabei. Zwischen dem orgelbegleiteten Gesang werden immer wieder Bibelstellen vorgelesen oder gesungen.6  In der Predigt spricht Gerald Goesche, der Probst des Instituts, wiederum auf Deutsch und zur Gemeinde gewandt, über bevorstehende Veranstaltungen, kurz über die Geschichte der Gemeinde und über ein neu gemaltes Kirchenfenster. Er erwähnt dabei auch das Angewiesensein auf Spenden. Kurz darauf geht ein junger Mann mit Klingelbeutel rückwärts, das Gesicht zum Altar gewandt, durch die Reihen. Neben Gesang, Lesungen und Predigt kommen vorne im reichlich geschmückten Altarbereich auch – wie in katholischen Gottesdiensten üblich – Weihrauch und Kerzen zum Einsatz. Beteiligt sind neben dem Probst ein Priester und sechs Ministranten.

Abschluss und Fazit

Am Ende der abschließenden Eucharistiefeier bilden sich wortlos zwei Schlangen in Richtung Altarbereich. Vorne knien die Teilnehmenden nieder und empfangen die Hostien. Der Andrang ist groß, und es gibt außer mir kaum jemanden, der nicht kommuniziert. Der Aufbruch nach dem Gottesdienst ähnelt der Ankunft: Nach den Kniefällen an den erwähnten Orten verlässt man die Kirche.

Insgesamt war der Besuch in St. Afra eine eindrucksvolle Erfahrung. Auffällig waren die unerwartet große Zahl an Teilnehmenden und die Angebote der Gemeinde für die gemeinsame Freizeitgestaltung neben den liturgischen Veranstaltungen. Dieses lebendige Gemeindeleben war eine positive Überraschung. Als ein wenig störend empfand ich hingegen die Tatsache, dass sehr häufig die Notwendigkeit von Spenden thematisiert wurde. Auch auf der Internetseite wirken die Spendenaufrufe etwas aufdringlich. Derselbe platzgreifende Spendenaufruf befindet sich prominent am Ende jeder einzelnen Seite.

Die Frage nach dem Umgang mit modernen Trends und „Verweltlichungen“ des Gottesdienstes ist bei der Betrachtung des SPNI zentral. Wenn eine religiöse Gemeinschaft jüngere Generationen ansprechen und als Dialogpartner in einer pluralistischen Gesellschaft ernst genommen werden möchte, ist eine Beschäftigung mit den Wandlungen der modernen Lebenswelt notwendig. Die alte Form des Gottesdienstes deutet auf den ersten Blick auf eine diesbezügliche Verschlossenheit hin und wirkt lebensfern. Das Institut infolgedessen jedoch vollends als unzeitgemäß abzutun, wäre wohl zu einfach gedacht.

Die Gottesdienstform wendet sich unübersehbar gegen moderne Entwicklungen. Allerdings wird dies auf bewusste Weise getan, und die Lebenswelt der Gemeindemitglieder wird nicht zwangsläufig ignoriert. Durch die Vermeidung liturgischer Veränderungen und die Kultivierung vormoderner Formen entsteht etwas zeitlich Unbeschränktes, das wie ein Leuchtturm zur Identitätsfindung in einer komplexer werdenden Gesellschaft beitragen kann. Beispielsweise hat in diesem Sinne das „tote“ und damit unveränderliche Latein als sakrale Sprache etwas Geheimnisvolles und vor allem zeitlich und räumlich Universelles. Andererseits wird ohne Neuerungen eine Vielfalt von Optionen für ein lebendiges Christentum nicht ausgeschöpft. Das Christentum wird vor allem als „Gegenkultur“ erfahrbar. Das vielfältige Veranstaltungsangebot legt die Vermutung nahe, dass die hier übliche Gottesdienstform bei manchen nicht unbedingt der ausschlaggebende Grund für den Besuch der Gemeinde ist. Womöglich werden Unterschiede zu anderen katholischen Gottesdiensten von theologisch wenig vorgeprägten Gästen gar nicht unbedingt als maßgeblich wahrgenommen, und diese werden nur vom florierenden Gemeindeleben angezogen.


Tobias Vöge, 01.03.2022

 

Anmerkungen

1  Vgl. zur Heiligen Afra z. B. Joachim Schäfer: Afra von Augsburg, www.heiligenlexikon.de/BiographienA/Afra.htm (Abruf der Internetseiten: 9.12.2021).

2  Vgl. www.institut-philipp-neri.de/berlin-st_afra.html.

3  Am 16.7.2021 gab es durch das päpstliche Schreiben „Traditionis custodes“ Einschränkungen bezüglich der Alten Messe. Siehe zur Reaktion des Instituts: Berliner Institut will weiter vorkonziliare Messen feiern, katholisch.de, 20.7.2021, https://tinyurl.com/4ae8hrz8.

4  www.institut-philipp-neri.de/institut.html.

5  Vgl. Berliner Gemeinde klagt gegen Verbot von Gottesdienst, Tagesspiegel, 5.4.2020, https://tinyurl.com/2p9xubu5. Aufgrund seiner Papstunmittelbarkeit hat das Institut keinen Anspruch auf Kirchensteuern, sodass es auf Spenden angewiesen ist.

6  Der genaue Ablauf des Gottesdienstes am 17. Sonntag nach Pfingsten lässt sich beispielsweise auf der Seite der Abtei Mariawald finden, vgl. https://tinyurl.com/2p83j4fb.