Lecker-Land ist abgebrannt. Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur
Kathrin Burger: Foodamentalismus. Wie Essen unsere Religion wurde, Riva, München 2019, 272 Seiten, 16,99 Euro.
Manfred Kriener: Lecker-Land ist abgebrannt. Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur, Hirzel, Stuttgart 2020, 238 Seiten, 18,00 Euro.
Wer heute ein Diner geben will, tut gut daran, mit der Einladung nach Essensvorlieben, Unverträglichkeiten und sonstigen Warnhinweisen zu fragen. Anschließend gilt es, aus den Antworten einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu destillieren und daraus etwas Essbares zu zaubern.
Mit der Perspektive der Gastgeberin beginnt die Wissenschaftsjournalistin Kathrin Burger ihr Buch über die neue Esskultur. Längst nicht mehr ausreichend sind Lust am Kochen, ein überschaubarer Weinkeller und Menschenkenntnis bei der harmonischen Auswahl der Gäste. Denn viele meiden aus gesundheitlichen oder ethischen Gründen dieses oder bestehen auf jenem. Hinzu kommen die meist selbst diagnostizierten Allergien und Unverträglichkeiten. Je nach Strenge der jeweiligen Observanz meiden die Essensjünger verschiedener Schulen einander sogar, setzt sich etwa der Veganer mit keiner „Tiermörderin“ an einen Tisch. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Essen ist zur Weltanschauung geworden, an der sich die Geister scheiden.
Dass Ernährung zur Identitätsstiftung dient, ist eine Grundfunktion religiöser Speisegebote. „Meine Leute“ sind die, mit denen ich zusammen essen kann. Die gleiche tribale Funktion haben heutige säkulare Essenslehren. Ältere Leser erinnern sich noch, wie in den 1980er Jahren der Konsum eines sehr scharf gebrannten, kaffeeähnlichen Tranks namens „Sandino Dröhnung“ in bestimmten Studenten-WGs Pflicht war. Die öffentliche Parteinahme für die sozialistische Seite im nicaraguanischen Bürgerkrieg war eine Bekenntnisfrage, hinter der Genuss, Geldbeutel und Magenschonung zurückstehen mussten.
Seit zwei Jahrzehnten wächst die Zahl der Lehren und ihrer Anhänger stark. Vegetarisch, Clean-Eating, Bio-Dynamisch, Slow Food, Ayurveda-Essen, gluten- oder zuckerfrei wetteifern miteinander. Manches soll der Gesundheit dienen, anderes der Weltrettung. Einige Ansätze widersprechen sich diametral, verheißen aber das gleiche. Einige sind jahrhundertealt, andere wurden vorgestern lanciert.
Mit dem Wachstum aber mehren sich auch die skeptischen und fragenden Stimmen. Woher kommt dieser plötzliche Boom? Was hat es mit den sich widersprechenden Lehren auf sich? Woher der gelegentlich intolerante und ideologische Charakter der Debatten? Was bedeutet es und was soll ich erwidern, wenn jemand in der Familie oder im Freundeskreis plötzlich rigoros auf bestimmten Speisegewohnheiten besteht, womöglich sogar mich überzeugen will? Oder umgekehrt: Man möchte aus irgendeinem Grund seine Ernährungsgewohnheiten umstellen, weiß aber gar nicht, ob eine bestimmte Lehre wirklich den Zweck erfüllt, den man im Sinn hat. Angebrachte Skepsis, denn manches erfüllt nicht nur seinen Zweck nicht, sondern ist geradezu gefährlich.
„Foodamentalismus“ ist eine hervorragende Übersicht für alle, die sich auf dem Markt der Essenslehren orientieren wollen. Die Autorin schreibt populärwissenschaftlich unterhaltsam, teilweise humorvoll, nur selten polemisch und belegt alle Behauptungen und Zitate in Endnoten. Hier muss niemand etwas auf Glauben hin schlucken. Burger betrachtet verbreitete Ernährungsformen und untersucht ihr Potenzial als Religionsersatz. Dabei spricht die Autorin aus Erfahrung: Sie beschreibt einige Jahre makrobiotischer Ernährung als durchaus positiv für ihr Teenager-Ich. Sie ist keine grundsätzliche Gegnerin bewusster Ernährung, zeigt aber, dass die meisten Verheißungen übertrieben sind. Dabei werden nicht nur die Prediger alternativer Kostformen wo nötig kritisiert, sondern z. B. auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE). Auch diese vermittle oft zu starre und dogmatische Empfehlungen. So riet die DGE jahrelang aus Gesundheitsgründen von Eiern ab, verteufelte dann das Fett und jetzt plötzlich den Zucker. Und morgen?
Nach einem Überblick über historische Vorläufer ist fast die Hälfte des Buchs Einzeldarstellungen und Bewertungen verbreiteter Essenslehren gewidmet: Veganismus, Low Carb, Keto-Diät, Rohkost, Ayurveda … Am Ende hat man über zwei Dutzend Essensschulen kennengelernt. Praktisch sind die Kurzzusammenfassungen am Kapitelende, die die jeweilige Einschätzung auf den Punkt bringen.
Die Autorin hat mit Experten gesprochen, wissenschaftliche Studien und die Quellen der jeweiligen Essensschulen ausgewertet. Eine umfangreiche Fleißarbeit mit beeindruckendem Ergebnis. Sie kommt zu solide begründeten und nachvollziehbaren Einschätzungen. Fazit: Die meisten Ernährungslehren besitzen keine wissenschaftliche Basis für ihre Versprechen, nicht wenige schaden sogar. Andere hingegen bekommen ein gutes Zeugnis, in der Regel jene, die auf ausgewogene Vielfalt setzen. Wobei zu bedenken ist, dass seriöse Ernährungswissenschaftler zugeben, man wisse kaum etwas Solides darüber, welche Ernährung „gesund“ ist. Klar ist nur das Gegenteil: Einseitigkeit und Exzess schaden, selber kochen ist besser als Fast Food. Aber das alles haben unsere Großeltern immer schon gesagt.
Während die Einzeldarstellungen im ersten Teil besonders auf die Frage der Gesundheit und das Potenzial für absolutistische Übersteigerungen schauen, gilt Burgers wichtigste und interessanteste Frage und Sorge etwas anderem: Was bedeutet dies alles für die soziale Dimension des Essens? Wenn kulturelle Essensgewohnheiten und religiöse Speisevorschriften immer ein zentraler Pfeiler der Identität und Selbstvergewisserung menschlicher Gemeinschaften waren, dann ist zu fragen, ob die in „Foodamentalismus“ beschriebene Entwicklung nicht auch als Ausdruck eines sich auflösenden Gemeinwesens zu betrachten sei. Was bleibt von einer Gesellschaft übrig, wenn wir in lauter kleine Stämme von Essensjüngern zerfallen, die überwiegend nur noch mit ihresgleichen Umgang haben?
Diese Frage taucht ähnlich in Manfred Krieners Buch „Lecker-Land ist abgebrannt“ gleich am Anfang auf, wird aber nicht weiterverfolgt. Das Buch ist eine Mischung aus Analyse, Alarmschrei und Kampfschrift zu den politischen und weltanschaulichen Dimensionen der Ernährung, angereichert um Exkurse zur Vinologie und nostalgische Erinnerungen an Hausschlachtungen in der Kindheit.
Der „taz“-Journalist Manfred Kriener pflegt das, was man neudeutsch „eine flotte Schreibe“ nennt. Die liest sich ein paar Seiten lang amüsant, dann wirken die ständigen Hyperbeln („optimalste Nutzung“, 122), Beispielreihen und witzigen Bilder angestrengt. Irgendwann reicht es mit „Protein-Porno“ (78), der „blauen Murmel namens Erde“ (48) und dem Bordeaux, der „in der Kiste liegt wie die Prinzessin im Himmelbett“ (194). Ist wirklich im Schlachthof die „schrecklichste aller denkbaren Tätigkeiten“ (72) und die schlichte Kochzeitschrift „Beef“ „eine Art kulinarische AfD“ (78)?
Zu den Kennzeichen von Umweltliteratur gehört die schlechte Laune ihrer Verfasser, die sich hier schon im schadenfrohen Titel andeutet. Man fragt sich mit Mephisto: „Kommst du nur immer anzuklagen, ist auf der Erde ewig dir nichts recht?“ Die genervte Grundgestimmtheit über den katastrophalen Zustand der Welt und die Uneinsichtigkeit der Menschen prägen das Buch. Den Autor stören die anderen: die exaltierten Restaurantkritiker ebenso wie die einfallslosen Alltagsesser, „Billigheimer wie Aldi und Lidl“ (108) und „der Deutsche an der Fleisch- und Wursttheke“ (75). Überhaupt die Fleischesser: „fette weiße Männer“ (gleich zweimal: 81 und 215), prollige Typen, mit denen niemand mehr ins Bett will, weil sie Mundgeruch haben, aber auch die Dorf- und Kleinstadtbewohner mit unterdurchschnittlicher Bildung und geringem Sozialstatus. Hingegen die Fleischverweigerer: jung, weiblich, großstädtisch und gebildet!
Das ist schade, denn das Buch ist trotz politischer Einseitigkeit streckenweise informativ und kennt sogar Selbstkritik. Neben den üblichen Verdächtigen (Agrarindustrie und -konzerne) mahnt es auch die quasi-religiösen Essenseiferer zur Mäßigung. Der Bio-Branche rät Kriener, sie solle „aufhören, sich auf Kosten der konventionellen Landwirtschaft zu profilieren und sie noch schlechter zu reden, als sie ohnehin schon ist … Beide Branchen stehen … vor ähnlichen Problemen“ (107).
Vieles zur moralischen, gesundheitlichen und politischen Aufladung des Essens ist richtig beobachtet. Zum Ausmaß der Krisen wimmelt es an deprimierenden Beispielen und Zahlen. Wer weiß schon, dass Deutschland pro Stunde(!) 320 000 „Coffee to go“-Einwegbecher verbraucht? Und selbst wenn man künftig darauf verzichtete, so blieben Dutzende andere Punkte, wo es ähnlich aussieht. Denn Kriener analysiert, das ist eine Stärke, auch das kritisch, wofür eigentlich sein Herz schlägt. So stellt er zwar die Fortschritte bei allerlei neuen Nahrungsmitteln vor, preist sie aber nicht als Heilsbringer: aus Stammzellen gezüchtetes Laborfleisch, Nahrungsmittel aus Insekten und Bio-Produkte. Sie alle sind Hoffnungsträger, haben aber auch große Nachteile: Die Uniformität des Laborfleischs (würde es je wirtschaftlich) wäre eine kulturelle Verarmung gegenüber der Vielfalt natürlichen Fleischs, Insektennahrung ist auch in Großproduktion teurer als Fleisch, und Bio-Produkte sind angesichts systematischer Betrügereien, der kaum besseren Tierhaltung und vieler ökologischer Probleme, die sich nicht von denen konventioneller Landwirtschaft unterscheiden, allenfalls „das kleinere Übel“ (Kapitelüberschrift 91).
Befremdlich sind die sozialen Vorurteile des Autors. Passt das Plädoyer für die biedere Kartoffel, die pro Kalorie nur ein Drittel des Wassers braucht, das der Reisanbau benötigt (21), zu der verächtlichen Art, mit der sich der Autor ansonsten über das einfache Volk jenseits seines sozialen Milieus äußert? Sind es denn diese Schichten, für die Millionen Tonnen exotischer Nahrungsmittel von Chia bis Quinoa aus aller Welt eingeflogen werden müssen?
Das Buch zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft. Das Essen wird zur säkularen Ursünde. Egal wie man seine Ernährung angeht, wird man schuldig an Armen, Tieren und Umwelt. Ist also das Essen, das heißt mein pures Dasein, die Ursache der Probleme? Was hat sich so grundlegend verändert, dass das Natürlichste zum Sündigsten wurde? Hier drängt sich die heikle Frage des „beängstigenden Bevölkerungswachstums“ auf (53). Wir sind viele. Heute ernährt sich jeder Mensch statistisch von einem knapp 400 mal 500 Meter kleinen Stück Acker. Das ist wenig. Kriener umschifft das Thema 200 Seiten lang. Umso gespannter ist man auf das letzte Kapitel „Bevölkerungswachstum, Hunger und brennende Regenwälder“. Es ist ein Interview mit „NGO-Aktivist Benedikt Härlin“, einem „der klügsten Köpfe in Sachen Welternährung“ (201). Eine interessante Wahl: Härlin ist ein wegen Terrorismusunterstützung zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilter Journalist und ehemaliger Grünen-Abgeordneter ohne formale ökonomische, mathematische oder ernährungswissenschaftliche Qualifikation. Seine Antworten auf die Frage, ob nicht die Überbevölkerung das eigentliche Problem sei, bestehen im Verharmlosen und Ablenken. Die Zahl der Menschen sei unerheblich, wenn wir Zwei-Grad-Klimaschutz betrieben, den Armen mehr Einkommen verschafften (kann man Geld essen?) und der Westen bescheidener konsumierte. Probleme verursachten v. a. „Großagrarier, Handelskonzerne und Agrarindustrie“ (205). Die Nahrung sei ausreichend vorhanden, „nur“ ungerecht verteilt.
Das erscheint allzu simpel. Der englische Pfarrer und Ökonom Robert Malthus hatte schon 1798 gewarnt, wenn die Bevölkerung schneller wachse als die Nahrungsmittelproduktion, komme es zwangsläufig zu Hungersnöten. Dass er damals vorläufig Unrecht behielt, wird allgemein darauf zurückgeführt, dass er die Industrialisierung nicht vorhersah. In der Tat ist es vor allem der industriellen Nahrungsmittelproduktion zu verdanken, dass die Weltbevölkerung auch heute noch ernährbar ist. Aber die ökologischen Folgen genau dieser industriellen Nahrungsmittelherstellung hat das Buch auf den ersten 200 Seiten akribisch demonstriert. Kann man ernsthaft Stadtgärten und afrikanische Kleinbauern als Beispiele für alternative künftige Welternährung propagieren? Ist das nicht eher eine Neuauflage des alten Traums vom Edlen Wilden? Logische Widersprüche, derentwegen man das Buch am Ende ratlos weglegt.
Vielleicht ist „Lecker-Land ist abgebrannt“ am besten als Bußpredigt verstanden. Bußpredigt einer Umweltkirche, welche allen essenden Menschen ihre unabweisbare Schuldverflochtenheit vorführt, ihnen ein „schlechtes Einkaufsgewissen“ (171) machen will und mit apokalyptischen Szenarien von leergefischten Weltmeeren, zuckerverfetteten Leibern und abgebrannten Wäldern Angst verbreitet. Ob man damit eine Umkehr bewirken kann? Wahrscheinlicher scheint, dass das Werk vor allem jene Öko-Bourgeoisie erreicht, die sich im wohligen Zukunftsgrusel bestätigt fühlt, aber ebenso hemmungslos konsumiert wie jene, auf die sie mit dem Autor hinabblickt.
Kai Funkschmidt