Cui Liming

Leid und Erlösung

Vergleiche zwischen Christentum, Buddhismus und Daoismus

Cui Liming ist daoistischer Mönch und Professor an der Chinesischen Daoismus-Akademie im Kloster der Weißen Wolken (Baiyunguan) in Peking. Er hat sich in jungen Jahren auch mit christlichem und buddhistischem Gedankengut auseinandergesetzt und befasste sich anlässlich einer interreligiösen Weiterbildung Ende 2013 an der Renmin-Universität Peking mit dem Vergleich zu Gemeinsamkeiten im Christentum, Buddhismus und Daoismus. Wir dokumentieren mit dem folgenden Text seinen Versuch einer Zusammenfassung. Die Übersetzerin Eva Lüdi Kong lebt seit über zwanzig Jahren in China und steht mit dem Autor in einem fruchtbaren Austausch bezüglich ihrer Übersetzung des klassischen chinesischen Romans „Die Reise in den Westen“. Sie baut eine Brücke zum Verständnis, indem sie „den Spagat zwischen einer daoistischen Denkweise und einer deutschsprachigen Leserschaft“ übersetzerisch zu bewältigen versucht.

 

Worum geht es grundsätzlich bei einer Religion? Um Erlösung vom menschlichen Leid. Wie aber kommt dieses Leid in die Welt, und wie ist Erlösung möglich? Im Christentum ist von der Erbsünde die Rede, die durch den Verzehr der Früchte vom Baum der Erkenntnis durch Adam und Eva und das Erlangen des Ich-Bewusstseins entsteht. Im Buddhismus wird das menschliche Leid als Ansammlung all dessen betrachtet, was durch Unwissenheit, Begehren und Abneigung entsteht. Der Daoismus sieht den Ursprung im Übergang von der all-einen vorkosmischen Einheit in den nachkosmischen Zustand der Dualität, wenn das „Dao die zehntausend Dinge erzeugt“.1 Dementsprechend gibt es unterschiedliche Mittel der Erlösung: Der Glaube an Gott, in dem das Ich aufgeht; die Erkenntnis der Unbeständigkeit, aufgrund derer innere Anhaftung abgelegt wird; Verschmelzung nachkosmischer Dualität in die Leere der ursprünglichen Einheit. Trotz unterschiedlicher Darstellungen geht es also im Wesentlichen darum, das Selbst und die Welt zu überwinden – und nicht etwa darum, sie zu negieren. Im Folgenden versuche ich, die genannten drei Religionen bezüglich dieser Fragen vergleichend gegenüberzustellen. Die Erkenntnisse der alten Weisen bringen uns auch für die heutigen Probleme immer noch hilfreiche Anregungen.

Was ist das Wesen einer Religion?

Ich bin gläubiger Daoist, habe in jungen Jahren aber auch buddhistische Sutren, christliche Schriften und Bücher zur Religionsgeschichte gelesen. Anlässlich einer interreligiösen Weiterbildung an der Renmin-Universität in Peking konnte ich dank der wertvollen Anleitung der Lehrkräfte an neuen Überlegungen und Verständnis dazugewinnen und möchte in diesem Aufsatz den Versuch einer Zusammenfassung unternehmen. So sagte es ja Konfuzius: „Etwas lernen und von Zeit zu Zeit auffrischen, das ist doch auch eine Freude.“2

Über Religion gibt es verschiedene Ansichten. Was ist Religion überhaupt? Sind es die Hallen der Kirchen und Tempel? Die feierlichen Zeremonien? Die komplexen religiösen Verhaltensvorschriften? Gebetsformeln und Mantras? Mystische Praktiken? All dies hat zwar mit Religion zu tun, trifft jedoch nicht ihren Kern. Wesentlich an einer Religion sind deren Gedanken zum Wesen des Universums, des Lebens und des menschlichen Leids – und daraus hervorgehend die Suche nach Möglichkeiten der Erlösung und der Rückkehr in eine ewige Wahrheit.

Es ist das Mitgefühl für das Leid der Menschheit, das eine Religion ins Leben ruft, und ebendies ist auch der Sinn ihrer Existenz. Allerdings wurden Religionen im Laufe ihrer Entwicklung immer auch von weltlichen und eigennützigen Bestrebungen durchsetzt, sodass ursprünglich klare Ideen an Transparenz verloren, nicht selten sogar die eigentliche Botschaft in Vergessenheit geriet.

Im Folgenden versuche ich, in einer allgemeinen Gegenüberstellung christlicher, buddhistischer und daoistischer Blickwinkel deren Ideen zum Ursprung des Universums, des menschlichen Leids und zur Suche nach Erlösung zu vergleichen – und damit vielleicht der Wahrheit einen kleinen Schritt näherzukommen. Aufgrund der Kürze des Textes können die Themen nur ansatzweise behandelt werden.3

„Erbsünde“ und „Leid“ in Christentum und Daoismus

Zum Ursprung von Welt und Menschheit schreibt die Bibel im Buch Genesis (auszugsweise):

Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Gott sprach: „Es werde Licht“, und es ward Licht, daher gab es Tag und Nacht. Dann gab es die Luft und die Trennung in Wasser und Land, es gab die Pflanzen, die Gestirne, die Tiere. Anschließend schuf Gott nach seinem Bilde die Menschen, segnete sie und hieß sie über die Lebewesen auf der Erde, im Meer und in den Lüften herrschen. Damit war die Schöpfung von Himmel, Erde und allen Wesen vollendet.

Gott machte aus dem Staub der Erde den Menschen und blies ihm Odem des Lebens in die Nase; so wurde der Mensch ein beseeltes Wesen, und er hieß Adam. Und Gott machte in Eden gegen Osten hin einen Garten und setzte den Menschen hinein. Im Garten gab es einen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sowie einen Baum des Lebens. Gott setzte den Menschen in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und bewahre und sprach zu ihm: „Du darfst die Früchte aller Bäume nach Belieben essen, allein die Frucht vom Baum der Erkenntnis sollst du nicht essen, denn am Tag, an dem du sie gegessen hast, musst du sterben.“

Gott entnahm Adam eine Rippe und schuf daraus eine Frau. Die Schlange aber verführte die Frau, von den Früchten vom Baum der Erkenntnis zu kosten, und sagte: „Ihr werdet nicht unbedingt sterben müssen, denn Gott weiß, an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und so werdet ihr genau wie Gott wissen, was gut und böse ist.“ Die Frau und Adam aßen beide davon. Gott sprach: „Nun ist der Mensch geworden wie unsereiner, er weiß um Gut und Böse. Dass er nur nicht die Hand ausstrecke nach dem Baum des Lebens, dessen Früchte esse und ewig lebe!“ Da wies ihn Gott aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaue, der er entnommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ im Osten des Gartens Eden Cherubim lagern mit einem ringsum flammenden Schwert, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.

Im daoistischen Buch „Daodejing“ von Laozi finden wir bezüglich der Entstehung des Universums, der Welt und des Menschen folgende Beschreibungen:4

Es gibt ein Wesen, unbegreiflich, vollkommen, vor Himmel und Erde entstanden. So still! So gestaltlos! Allein verweilt es und wandelt sich nicht. Durch alles geht es und gefährdet sich nicht. Man kann es ansehen als der Welt Mutter. Ich kenne nicht seinen Namen. Bezeichne ich es, nenne ich es: Dao. Bemüht, ihm einen Namen zu geben, nenne ich es: groß. (Kap. 25)

Alle Wesen entstehen aus dem Sein. Das Sein entsteht aus dem Nichtsein. (Kap. 40)

Was zwischen Himmel und Erde liegt, wie gleicht es doch dem Blasebalg! Er ist leer und unerschöpflich; er regt sich, und umso mehr geht heraus. (Kap. 5)

Dao erzeugt Eins; Eins erzeugt Zwei; Zwei erzeugt Drei; Drei erzeugt alle Wesen. (Kap. 42)

Dao erzeugt sie, seine Tugend nährt sie, sein Wesen gestaltet sie, seine Kraft vollendet sie. Daher ist unter allen Wesen keines, das nicht Dao verehrt und seine Tugend wertschätzt. Daos Verehrung, seiner Tugend Wertschätzung ist niemandes Gebot und immerdar freiwillig. Denn Dao erzeugt sie, seine Tugend nährt sie, erhält sie, zieht sie auf, vollendet sie, macht sie reif, pflegt sie, schirmt sie. Es erzeugt, aber besitzt nicht; es wirkt, aber stützt sich nicht darauf ab; es führt, aber beherrscht nicht. Das heißt tiefe Tugend. (Kap. 51)

Das große Dao ist überströmend, es kann links sein wie auch rechts. Alle Wesen verlassen sich auf es, um zu leben, und es versagt nicht. Ist Verdienstvolles vollendet, nennt es dies nicht sein. Es pflegt und nährt alle Wesen und macht sich nicht zu deren Herrn. Ewig ohne Verlangen: So kann es klein genannt werden. Alle Wesen kehren zu ihm zurück, und es macht sich nicht zum Herrn: so kann es groß genannt werden. Gerade deshalb, weil es sich niemals selbst groß macht, kann es seine Größe vollenden. (Kap. 34)

Zur Entstehung von Universum und Menschheit spricht das Daodejing in sehr schlichter Weise; die Schilderungen in der Bibel hingegen sind dem Menschen näher und fühlbarer. Dennoch unterscheiden sie sich im tieferen Sinne kaum. Dazu sind einige Erläuterungen und Vergleiche notwendig.

Gemäß dem Daodejing vollzieht sich die Entstehung des Universums folgendermaßen: Ein gestaltloser Urzustand des „Nichtseins“ erzeugt das gestalthafte „Sein“ – „Dao erzeugt Eins“. Dieser ungeteilten Ur-Einheit entspringt die Grunddualität von Yin und Yang, auch als „Himmel und Erde“ bezeichnet – „Eins erzeugt Zwei“. In der Wechselwirkung von Himmel und Erde entsteht der Mensch, der die polaren Kräfte Yin und Yang vereint – „Zwei erzeugt Drei“. In wechselseitiger Erzeugung und Überwindung entfalten sich schließlich zahllose Möglichkeiten – „Drei erzeugt alle Wesen“. Obschon Dao alle Wesen erzeugt, besitzt es sie nicht. Die Wesen nehmen ihren eigenen Lauf, und dennoch kann sich kein Lebewesen dem Lauf des Dao widersetzen, denn am Ende kehrt alles zurück zu den Wurzeln, wo sich das Leben erneuert. Himmel, Erde und Mensch heißen die „drei Sphären“, und jede hat wiederum ihre eigene Dualität: Bezüglich des Himmels spricht man von Yin und Yang, bezüglich der Erde von hart und weich, bezüglich der Menschheit von Güte und Gerechtigkeit oder natürlich auch von Mann und Frau. So wie sich das Universum aus Himmel, Mensch und Erde zusammensetzt, besteht unser Körper aus Geist, Energie und Substanz – der Körper ist ein Universum im Kleinen.5

Wenn die Bibel Gott als gütigen und allmächtigen Herrn schildert, der die Schöpfung von Himmel und Erde, Tag und Nacht, Wasser und Land, Tieren und Pflanzen, Mann und Frau vollbrachte, ist dies eigentlich derselbe Prozess wie „Eins erzeugt Zwei, Zwei erzeugt Drei, Drei erzeugt alle Wesen“.

Weiter lesen wir in der Bibel, wie Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf: Er formte den Menschen aus Erdenstaub und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase, dass er ein beseelter Mensch wurde, und aus einer Rippe Adams schuf Gott eine Frau. Unser Leib trägt dieselbe Struktur wie das Universum und ist in diesem Sinne nach dem Ebenbild Gottes geformt. Im Mikrokosmos des Körpers entspricht der „Erdenstaub“ der stofflichen Substanz, im Makrokosmos des Universums der Erde; der „Odem“ entspricht im Körper der Energie, im Universum dem Menschen; das „Beseelte“ des Menschen entspricht dem Geist resp. dem Himmel. Substanz, Energie und Geist werden auch als „Wesenheit und Lebenskraft“6 zusammengefasst, was die innere Yin-Yang-Dualität bezeichnet – äußerlich zeigt sie sich in Form von Mann und Frau.

Nun mag für uns die Entstehung des Universums in weiter Ferne liegen, doch etwas ist uns sehr nahe, und darüber müssen wir uns Gedanken machen: das menschliche Leid – oder mit anderen Worten: die Erbsünde. Wie kam dieses Leid in die Welt? Die Erklärung der Bibel lautet: Weil Adam und Eva die Früchte vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen verzehrten, wurden sie von Gott aus dem Garten Eden verwiesen, wurden sterblich und mussten fortan harte Arbeit und Mühen ertragen. Wie ist dieser Abschnitt zu verstehen?

Im zwischenmenschlichen Zusammenleben ist es ja durchaus wichtig, Gut und Böse, Recht und Unrecht zu erkennen und auseinanderzuhalten, das Gute zu schätzen und Böses zu verurteilen. Jeder möchte gut sein, und das ist auch nicht das Problem. Warum also dürfen die Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht gegessen werden? Die eigentliche Bedeutung muss hier in der Entstehung des Ich-Bewusstseins liegen: Was einem selbst nützt, wird als gut erachtet, was einem selbst schadet, als schlecht. Die Folge sind konfliktträchtige Innen- und Außenwelten voller Zwietracht, Missbehagen und Leid. Gewiss, auch alle menschliche Aktivität, ja die ganze Kultur entspringt letztlich dieser Motivation – doch ebendies bewirkt auch, dass alles wieder vergeht.

Das Daodejing bezeichnet diesen Prozess als „Dao erzeugt Eins, Eins erzeugt Zwei“. „Dao“ und „Eins“ stehen für den vorkosmischen Urzustand, „Zwei“ bezeichnet die nachkosmische Welt der Dualität: Zum Leben gehört auch der Tod, zum Guten auch das Böse, zu Yin auch Yang. Darin sind alle Konflikte und somit auch Schmerz und Leid angelegt. So heißt es im 2. Kapitel des Daodejing:

Alle in der Welt wissen um das Schöne, und so gibt es auch das Hässliche; alle wissen um das Gute, und so gibt es auch das Ungute. Denn: Sein und Nichtsein erzeugen einander; Schwierig und Leicht vollenden einander; Lang und Kurz beziehen sich aufeinander, Hoch und Niedrig stehen gegeneinander, Ton und Stimme harmonieren miteinander, Vorher und Nachher folgen einander.

Die „Zwei“ ist stets dualer Natur; sie enthält Gegensätze und Widersprüche, doch dies allein muss noch kein Leid verursachen. Leid entsteht erst, wenn der Mensch sich einseitig an etwas festhält, wenn er die Gegensätze – oder auch die vielen Seiten – eines Konflikts nicht auszugleichen vermag. Daher weilt der Weise im Zustand der Einheit, wie es das Daodejing im 2. Kapitel weiter ausführt:

Daher weilt der Weise im Wirken des Nicht-Tuns; er lehrt nicht mit Worten, sondern durch seinen Wandel; so entfalten sich alle Wesen und entziehen sich ihm nicht. Er schafft, aber besitzt nicht; er wirkt, aber hält nicht fest; er vollbringt sein Verdienst und verweilt nicht darauf. Und gerade weil er nicht darauf verweilt, entgeht es ihm nicht.

Mit dem Verzehr der Früchte vom Baum der Erkenntnis werden dem Menschen die inneren und äußeren Widersprüche zwar bewusst, doch treten sie nicht erst dadurch in die Welt. Die Dualität besteht, seit Gott Himmel und Erde schuf, seit es Tag und Nacht, Wasser und Land, Mann und Frau gab. Nur war sich der Mensch zuvor seiner selbst noch nicht bewusst und lebte frei und natürlich zwischen Himmel und Erde.

Die Bibel berichtet, dass Gott Adam und Eva aus dem Garten Eden verwies. In diesem Punkt unterscheidet sich das daoistische Verständnis. Wenn im Daodejing das Dao beschrieben wird als „Es erzeugt, aber besitzt nicht; es wirkt, aber stützt sich nicht darauf ab; es führt, aber beherrscht nicht“ (Kap. 51), würde das hier heißen, dass Adam und Eva selbst und eigenverantwortlich in den Erdenstaub gefallen wären – niemand hat sie vertrieben; ihr Leid beginnt deshalb, weil sie sich ihres Selbst und der Dualität bewusst werden. Sicher gibt es auch Freude im Leben, doch irdische Freuden sind nie von Dauer.

Erlösung im Christentum und im Daoismus

Wenn wir die Ursachen von Erbsünde und Leid erkannt haben, zeigen sich bereits Möglichkeiten der Erlösung. Im Christentum ist Erlösung von der Erbsünde möglich durch den Glauben an Gott, in dem das Ich aufgeht, dem man alles anvertraut. Der Glaube wirkt auch maßgebend für alle als recht bezeichneten Verhaltensweisen, wie das Befolgen der Gebote oder Spenden von Mitgefühl und Liebe. Ein Gott, dem man alles anvertrauen kann, muss ein wirklich beseelter Gott sein, nicht eine entstellte, von weltlichem Begehren überschattete Gestalt.

Auch im Daoismus wird darauf hingewiesen, das Ich abzulegen und in das Große Dao einzukehren. Laozi sagt im Daodejing:

Bei Lob und bei Tadel aufschrecken; großes Übel so wichtig nehmen wie den eigenen Leib. Was ist gemeint mit „bei Lob und bei Tadel aufschrecken“? Lob ist etwas Niedriges; aufschrecken, sobald man es erhält, und aufschrecken sobald man es verliert, dies bedeutet „bei Lob und bei Tadel aufschrecken“. Was ist gemeint mit „großes Übel so wichtig nehmen wie den eigenen Leib“? Großes Übel kann mir nur deshalb widerfahren, weil ich einen Leib habe. Wäre ich ohne Leib, was gäbe es dann für ein Übel? (Kap. 13)

Zur höchsten Leerheit gelangen, in tiefster Ruhe weilen. Wenn sich alle Wesen entfalten, betrachte ich deren Wiederkehr. Denn von all den Dingen kehrt am Ende ein jedes zu seinen Wurzeln zurück. Zu den Wurzeln zurückkehren heißt: Ruhen. Ruhen heißt: das Leben erneuern, das Leben erneuern heißt: der ewige Lauf. Den ewigen Lauf zu kennen, bedeutet Klarsicht. Kennt man nicht den ewigen Lauf und wirkt ihm zuwider, dann folgt Unheil. Wer aber den ewigen Lauf erkennt, ist umfassend; umfassend, daher gerecht; gerecht, daher wie ein König; wie ein König, daher wie der Himmel; wie der Himmel, daher wie Dao; wie Dao, daher fortdauernd, und wenn auch sein Körper vergeht, so bleibt er doch ohne Gefahr. (Kap. 16)

In der meditativen Praxis der „Inneren Alchemie“, die sich im Daoismus entwickelte, wird die Rückkehr zum Dao auf zweierlei Weise vollzogen: einerseits im Bereich der „Wesenheit“, also in geistiger, psychischer Hinsicht, andererseits bezüglich der „Lebenskraft“, auf materieller, physischer Basis. Die Übung besteht darin, alle Emotionen und alles Verlangen vollständig abzulegen, bis der Geist völlig frei in Leerheit und Ruhe einkehrt. Damit wird die „Substanz“ zu „Energie“ sublimiert, sodass die Dreiheit (von Substanz, Energie und Geist) in die Zweiheit (von Energie und Geist) einkehrt. Anschließend werden Energie und Geist miteinander verschmolzen, sodass die Zweiheit in die Einheit eingeht. Wenn zuletzt auch die Einheit vollständig abgelegt werden kann, so wird auch der Geist sublimiert und kehrt zurück in die Leerheit des Dao. Nur indem Begrenztheit überwunden wird, ist eine Vereinigung mit dem grenzenlosen Dao möglich. Und vielleicht ist das grenzenlose Dao dasselbe wie im Christentum Gott. Denn kein begrenztes Geschöpf könnte Dao oder Gott sein.

Natürlich werden auch im Daoismus Götter verehrt, Regeln befolgt, Mitgefühl und Liebe erteilt – dies unterscheidet sich kaum von anderen Religionen. Dennoch bleiben solche konkreten und absichtsvollen Handlungen letztlich im Bereich des Begrenzten und dienen nur als Hilfsmittel auf dem Weg zur Einkehr ins Große Dao.

Wer ins Dao einzukehren vermag, wird ein „Unsterblicher“7 genannt. Unsterbliche, die zahlenmäßig unbeschränkt sind, gibt es von zweierlei Herkunft: Die einen sind Teil der Natur des Himmels und entstammen der Energie der Teilung des Dao, zum anderen sind es Menschen, die durch die Praxis innerer Sublimation in den Urgrund einkehrten. Ein Unsterblicher ist dem Dao gleich, doch gibt es einen Unterschied, denn während das Dao alle Dinge, die Welt und das Universum hervorbringt, bleiben die Möglichkeiten eines Unsterblichen diesbezüglich beschränkt.

In der Idee, dass ein Mensch tatsächlich das Dao erlangen und unsterblich werden könne, liegt ein weiterer Unterschied zum christlichen Glauben. Das Christentum betont die alleinige Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist; andere himmlische Wesen könnten sich nicht in deren Reihe stellen. Der Mensch aber steigt aufgrund seines Glaubens ins Paradies.

Leid und Erlösung im Buddhismus

Dass der Buddhismus hier getrennt behandelt wird, geschieht nicht aus Gründen der Abgrenzung, sondern weil der Buddhismus diese Fragen unter einem anderen Blickwinkel betrachtet. Nicht der Bezug zwischen Ursprung und Welt ist hier von
Belang, sondern die Unbeständigkeit, die Erleuchtung, das Ablegen und das Erlangen einer großen Freiheit. Die Vielfalt der irdischen Dinge wird im Buddhismus als „Form“ bezeichnet, ihre Unbeständigkeit als „Leere“; demgegenüber ist die Erleuchtung ein Zustand, in dem „Form“ und „Leere“ eins geworden sind. Dies bedeutet, der Welt und dem Ich mit einem transzendierenden Bewusstsein zu begegnen – nicht aber, sie zu negieren. Das Herz-Sutra schreibt:8

Bodhisattva Avalokiteshvara, tief im vollkommenen Gewahrsein der höchsten Weisheit, sah klar, dass alle fünf Skandhas9 ihrem Wesen nach leer sind.So überwand er alles Leiden. Oh Sariputra, Form ist nicht anders als Leere, Leere nicht anders als Form. Form ist Leere, Leere ist Form. Dasselbe gilt für die Empfindung, die Wahrnehmung, die Willenskräfte und das Bewusstsein.

Der Zustand nach der Erleuchtung mag dasselbe sein wie die Rückkehr ins große Dao oder die Erlösung in der Einkehr zu Gott. Doch sind im Buddhismus Ewigkeit und Ursprung nicht Gegenstand der Erörterung, und im Grunde sind diese auch nicht erörterbar, wie es auch Laozi im Daodejing ausdrückt:

Ich kenne seinen Namen nicht; bezeichne ich es, nenne ich es Dao; bemüht ihm einen Namen zu geben, nenne ich es: groß. (Kap. 25)

Das Dao, das ausgesprochen werden kann, ist nicht das ewige Dao. Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der ewige Name. Das Namenlose ist des Himmels und der Erde Urgrund; das Namen-Habende ist aller Wesen Mutter. Im beständigen Nichtsein will ich dessen Geistigkeit erschauen; im beständigen Sein will ich dessen Grenzen erschauen. Diese beiden sind gleichen Ausgangs und verschiedenen Namens. Zusammen heißen sie tief, des Tiefen abermals Tiefes, aller Geistigkeit Pforte. (Kap. 1)

Dao kann nicht definiert oder auf etwas festgelegt werden; es enthält sowohl Sein als auch Nichtsein, es ist die Einheit der Dualität. Der Daoismus beschäftigt sich mit dem Bezug der Dinge zu ihrem Urgrund, mit der Vereinigung von Sein und Nichtsein; der Buddhismus hingegen betrachtet das Verhältnis zwischen grundsätzlicher Unbeständigkeit und kurzfristiger Existenz, mit Blick auf die Einheit von Leere und Form. Es sind dies Betrachtungen der Welt aus verschiedenen Blickwinkeln.

Doch das Ziel liegt nicht in der Betrachtung und Erkenntnis, sondern darin, die Welt vom Leid zu erlösen – das erst macht das Wesen einer Religion aus, und das ist auch das große Gelöbnis des Buddha. Der historische Buddha war in seiner Jugend ein mitfühlender Königssohn, der offensichtlich auch die Früchte vom Baum der Erkenntnis gekostet hatte, das Leid in der irdischen Existenz zutiefst mitfühlte und sich Gedanken machte, wie Erlösung möglich sein könnte. Der Unterschied gewöhnlicher Menschen zu Buddha liegt darin, dass sie zwar im Leid leben, es jedoch nicht verstehen und sich auch nicht überlegen, wie sie sich wirklich erlösen könnten.

Leid zeigt sich in vielerlei Gestalt und wird im Buddhismus in acht Bereichen zusammengefasst: Geburt, Alter, Krankheit, Tod, Trennung von Geliebtem, Zusammensein mit Verhasstem, Nicht-Erlangen von Erstrebtem sowie das Brennen der Fünf Skandhas – all dies überdeckt unser wahres inneres Wesen. Sobald der Mensch ins Dasein tritt und ein Bewusstsein hat, existieren auch all diese physischen und psychischen Problemfelder – kein Mensch ist davon ausgenommen. Gewiss gibt es auch kurzzeitige Freuden, doch ist es nicht dies, was Buddha am Herzen lag.

Buddha unterschied nicht nur Gut und Böse, Leid und Freude, sondern suchte vor allem nach den Ursachen des Leidens. Er fand sie in der „Ansammlung“ aller Folgen von Gier, Hass und Verblendung sowie negativer Handlungen. Hier fand er auch die Lösung, nämlich im „Erlöschen“ dieser Ursachen, im vollständigen Ablegen jeglichen Karmas. So erlischt das Leid von Geburt und Tod, und man spricht von einem teilweisen Nirwana. Wenn schließlich auch die leibliche Existenz beendet ist, spricht man vom vollständigen Nirwana. Es geht also nicht darum, die Welt und das Ich zu verneinen, sondern sie zu überwinden. Ein Negieren käme einem Festhalten an Leerheit gleich, und dies ist nicht die Idee des Nirwana, auch nicht des Dao.

Den Dingen der Welt und dem eigenen Selbst mit vollkommen klarem und ruhigem Geist gegenüberzustehen, dies ist die „von Sein erfüllte, wahre Leerheit“, dies ist Dao, der Weg. Im Buddhismus werden „Leid“, „Ansammlung“, „Erlöschen“ und „Weg“ die Vier Edlen Wahrheiten genannt, so wie es im 3. Kapitel des Lotos-Sutra steht: „Als Buddha in Varanasi weilte, drehte er erstmals das Rad der Vier Wahrheiten.“ Oder im Nirwana-Sutra, Buch 15:

Ebenso wie ihr hatte ich früher die Vier Edlen Wahrheiten nicht erschaut und kreiste daher lange durch das Meer des Leids von Leben und Tod. Sind aber die Vier Wahrheiten erschaut, so kann der leidvolle Kreislauf der Wiedergeburten gebrochen werden.

Ist das Ablegen des Ich und der Welt nicht ganz ähnlich wie der Glaube an Gott, wenn alles Gott anvertraut wird? Ist die Überwindung des irdischen Daseins nicht eigentlich dasselbe wie die Rückkehr in das vorkosmische große Dao? Verschieden sind letztlich nur die Blickwinkel. Erleuchtung wäre im christlichen Sinne der Eingang ins Paradies, in daoistischer Hinsicht die Umkehr aus der Vielheit der Welt zur Dreiheit, Zweiheit und schließlich zur Einheit, in Dao. Erleuchtung stellt allerdings nur eine geistige Rückkehr dar; der Buddhismus betont zudem die Übung nach der Erleuchtung, in der es darum geht, den erwachten Geist in der Praxis unter Beweis zu stellen. Dies kann in vielerlei Hinsicht geschehen, sei es in Form buddhistischer Erlösungsangebote für alle Wesen, sei es in Form von christlicher Liebe und Wohltätigkeit oder in Form der daoistischen Vervollkommnung der Lebenskraft. Die Methoden unterscheiden sich, doch das Prinzip bleibt sich gleich.

Schlussbemerkungen

Nicht nur die Religionen erkunden das Universum und das Leben, sondern auch Wissenschaften wie Philosophie, Ethik, Psychologie, Biologie, Medizin, Astronomie oder Physik. Zahlreiche Ergebnisse liegen bereits vor und bereichern stetig unser Verständnis. Meine Hypothese ist, dass Wissenschaften und Religionen einst, wenn sie weit genug entwickelt sind, miteinander verschmelzen werden. Die Annahme rührt daher, dass sie derselben Mutter entstammen.

Ziel von Religionen und Wissenschaften ist es, unser Universum und unser Leben im Kern verstehen zu lernen, das Leid auf Erden zu überwinden und der Menschheit Glück und Freude zu ermöglichen. Solange dies nicht gelingt, müssen wir uns – sowohl im Bereich der Religionen als auch in dem der Wissenschaften – ernsthaft Gedanken machen, ob wir vielleicht grundsätzlich von der Wahrheit abgekommen sind oder uns nicht ausreichend an der Wahrheit orientiert haben.

Technische Errungenschaften machen unsere Erde immer kleiner – für weise Menschen sollte dies nicht Konflikte zur Folge haben, sondern gegenseitige Integration. Religionen legen ihre jeweiligen Schwerpunkte, der Glaube entspringt dem Gefühl, die Erleuchtung der Vernunft, und die Vervollkommnung zeigt sich in der Praxis. Doch im Grunde sind dies nur drei Seiten ein und desselben Ganzen, sie widersprechen sich nicht und sollten auch nicht voneinander abgegrenzt werden. Im konkreten Alltag zeigen sich Religionen mitunter von den Wirren des Denkens überschattet, durch Eigennutz pervertiert, bis hin zur blutigen Auseinandersetzung. Doch Menschen, die nur zu ihrem eigenen Nutzen handeln, deren Denken getrübt und festgefahren ist, werden innerlich nicht zur Ruhe finden, wie geschickt sie sich auch anstellen. Und wenn sie gar übernatürliche Fähigkeiten besitzen – sie bleiben so lange im Kreislauf des Leidens gefangen, bis sie Reue empfinden und zur Wahrheit zurückkehren. Mit Wissenschaft und Kultur verhält es sich nicht anders. Wenn Denken und Handeln auf Abwege geraten, erfahren wir die Folgen in Form von Leid. Im christlichen Sinne würde man von einer Strafe Gottes sprechen; im daoistischem Verständnis bestraft uns niemand anderes als wir selbst.


Cui Liming, Peking


Anmerkungen

  1. Die daoistischen Grundbegriffe „vorkosmisch“ (xiāntiān) und „nachkosmisch“ (hòutiān) stehen auch für den Zustand vor und nach unserem Eintritt in die Welt und finden ein annäherndes Äquivalent in der christlichen Idee von „Ewigkeit“ und „Zeitlichkeit“ [Anm. d. Übers.].
  2. Zitat aus Konfuzius, Gespräche, Kapitel I [Anm. d. Übers.].
  3. Es muss hier angemerkt werden, dass im vorliegenden Aufsatz der Begriff „Christentum“ sowohl das evangelische als auch das katholische Christentum einbezieht und dass nur auf grundsätzliche Fragen eingegangen wird, ohne die Unterschiede zwischen einzelnen Konfessionen und Gruppierungen zu diskutieren. Dasselbe gilt auch für Differenzen zwischen den verschiedenen daoistischen und buddhistischen Schulen.
  4. Die Übersetzung richtet sich nach der Ausgabe „Lao-Tse, Tao Tê King“ (Victor von Strauß), Manesse Bibliothek, Zürich 1959. Abweichungen stammen von der Übersetzerin dieses Textes [Anm. d. Übers.].
  5. Geist, Energie und Substanz (shén, qì, jīng): im Daoismus die Grundgegebenheiten des leiblichen Daseins; zusammengefasst geht es um die mit Lebensenergie (qì) erfüllte Dualität von Körper (jīng, feinstoffliche Körpersubstanz) und Geist (shén). Ebenso stehen auch die Begriffe „Himmel“ und „Erde“ für das Geistige und das Materielle des Universums, was sich im Menschen vereint [Anm. d. Übers.].
  6. Wesenheit und Lebenskraft (xìng, mìng) stehen im Daoismus für das Geistige und das Körperliche [Anm. d. Übers.].

  7. Unsterblicher (shénxiān): wörtlich eher „göttlich gewordener Eremit“; angestrebt wird nicht eine körperliche Unsterblichkeit [Anm. d. Übers.].
  8. Vgl. Thich Nhat Hanh, Mit dem Herzen verstehen. Kommentare zum Prajnaparamita-Herz-Sutra, Zürich u. a. 1996.
  9. Fünf Skandhas: „Fünf Ansammlungen“, im Buddhismus die Bezeichnung für das Konglomerat von Phänomenen, die eine selbstständige Persönlichkeit vortäuschen, d. h. alle Bereiche des Körpers, einschließlich Sinnesorgane, Gefühle, Wahrnehmung, Willensausrichtung und Bewusstsein.