Daniel Cyranka

Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung

Daniel Cyranka, Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 522 Seiten 62,– Euro.


Daniel Cyranka legt mit diesem opulenten Buch die überarbeitete Fassung seiner Dissertation vor, die er im Fach Ökumenik und Religionswissenschaft bei Prof. Dr. Helmut Obst an der Theologischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg angefertigt hat. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Beobachtung: „Lessings Name findet sich fast überall dort, wo man sich mit dem Thema Reinkarnation auseinandersetzt, an prominenter Stelle“ (13). Cyranka will die immer wieder genannten Texte Lessings anhand ihrer Wirkungsgeschichte im Reinkarnationsdiskurs sichten und fragen, in welchem historischen Kontext sie zur Zeit ihrer Abfassung standen. Der Autor vermeidet (leider) eine Definition von „Reinkarnation“ – die derzeitigen Konzepte seien zu vielfältig: „Eine allgemeine Bestimmung dessen, was mit dem Begriff Reinkarnation gemeint sein soll, scheint angesichts dieser Lage nicht möglich zu sein. Nur konkrete Kontexte können konkreten Aufschluss über die jeweilige Art und Struktur der Vorstellung geben“ (15). Für ihn ist Reinkarnation ein „Sammelbegriff“ – jedoch zitiert er Helmut Obst: „Zu den Themen christlicher Theologie im dritten nachchristlichen Jahrtausend wird der Reinkarnationsglauben gehören“ (ebd.).

Das Buch ist klar gegliedert: I. Lessing im Seelenwanderungs- und Reinkarnationsdiskurs (19-203), II. Lessings Texte zur Seelenwanderung (205-455) und III. Auswertung (457-467). Zwei Anhänge, ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein Personenregister runden den Band ab.

Teil I widmet sich der Rezeptionsgeschichte in drei verschiedenen Strängen: im Zusammenhang von Esoterik und anderen alternativen Religions- und Weltanschauungsformen, im Diskurs von Religionsgeschichte und Theologie, im Zusammenhang der Lessingforschung.

Cyranka gräbt dabei viele historische Belege aus, die bislang nur wenigen Fachleuten bekannt gewesen sein dürften. Er zeigt, wie es im nichttheologischen Bereich neben Lessing eine ausgeprägte Diskussion der Seelenwanderung gegeben hat (u.a. Schlosser, Herder, Jean Paul, Allan Kardec), die Ähnlichkeiten zu Lessing aufweist, ohne sich aber auf ihn zu beziehen. Das ändert sich erst im späten 19. Jahrhundert mit den Arbeiten von Franz Hoffmann, dem Belgier de Rappard und Wilhelm Hübbe-Schleiden und den Antworten auf eine Ausschreibung der Zeitschrift „Sphinx“ (1887), die der Autor referiert. Hier wird die Erziehungsschrift „als Prototyp für eine Beschreibung der Reinkarnationslehre eingeführt“ (63). Von da an durchzieht der Name Lessing den Diskurs – verstärkt durch Rudolf Steiner und Friedrich Rittelmeyer bis in die Gegenwart hinein. Ein weitergehendes Interesse an Lessing selbst findet der Autor hier jedoch nicht.

In Theologie und Religionsgeschichte (88ff) ist das anders: Hier wird Lessing seit dem Erscheinen der Erziehungsschrift einer oftmals scharfen Kritik unterzogen, wie Cyranka an heute unbekannten Autoren wie Christoph Heinrich Schobelt oder dem Dresdener Garnisonsprediger Johann Traugott Müller zeigt, aber auch an Herder und Fichte, dem Indologen Schomerus, an Tillich, Hirsch, Benz und der gegenwärtigen Diskussion unter Einbeziehung der apologetischen Bestreitungen von Reinkarnation im Kontext der Auseinandersetzung um die moderne Esoterik.

Die Lessing-Forschung lässt der Autor mit der Edition durch den Bruder Karl Gotthelf Lessing beginnen, der in zuvor unedierten Fragmenten zeige, dass Lessing das Thema Seelenwanderung nicht zufällig aufgeworfen habe. „In den letzten Jahren seines Lebens war auch eine seiner Lieblingsideen die Seelenwanderung“ (150). Die neuere Lessingforschung berühre das Thema Seelenwanderung, gehe jedoch nur selten explizit auf diesen Komplex ein.

Als Fazit formuliert Cyranka, dass der esoterische Diskurs mit einem verschwommenen Reinkarnationsbegriff an Lessing herangeht, zwar gerne den Namen benutzt, aber keine weitergehende Interpretation seiner Texte anstrebt. Die theologische und religionsgeschichtliche Literatur reagiert nach dem 2. Weltkrieg auf Lessing in Steiners Interpretation und auf dem interreligiösen Hintergrund, teils mit apologetischer Abgrenzung, teils „mit einer gewissen pluralistischen Dialogbereitschaft“ (190). Die Lessingforschung dagegen nimmt bis heute kaum wahr, dass Lessings Name „im westlichen Reinkarnationsdiskurs eine herausragende Stellung hat“ (191) – wie auch ihre Ergebnisse seit dem Zweiten Weltkrieg keinen Eingang in die theologischen Auseinandersetzungen um Reinkarnation gefunden haben (193).

Cyranka untersucht im zweiten Hauptteil vier Texte Lessings, die im Reinkarnationsdiskurs zitiert werden: Briefäußerungen zu den philosophischen Aufsätzen Karl Wilhelm Jerusalems, (207-252), dokumentiert in Anhang 1 (469-473); die Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ samt zusätzlicher Äußerungen Lessings (253-405), im Anhang 2 beigegeben (475-492); Anmerkungen zu Campes „Philosophischen Gesprächen“ (407-421); Notizen zu Bonnets „Palingénésie philosophique im Zusatz zum „Fragment über die Sinne“(423-455).

Diese Texte prüft der Verfasser methodisch: Er beginnt jeweils mit dem „externen Kontext“, schließt Untersuchungen zum „internen Kontext“ an, um sich danach dem Text selbst zuzuwenden. Eine Ergebnissicherung schließt jedes Kapitel ab. Diese Untersuchungen enthalten viele Details und beabsichtigen, die weitgehend unverbunden nebeneinanderstehenden literaturwissenschaftlichen, theologiegeschichtlichen, historischen und philosophischen Diskurse zu verbinden.

Cyranka ordnet die kurzen Sätze Lessings in der Erziehungsschrift seinen zentralen Aussagen über „positive Religionen“ zu – als Notwendigkeit in der Geschichte, „mit deren Hilfe ,einzig und allein’ der ,menschliche Verstand jedes Orts’ sich entwickeln könne“ (397f). In der Erziehungsschrift findet er einen „dreistufigen Religionsbegriff“, in dem „Offenbarung als Erziehung“ erfahrbar wird: Auf einen vorgeschichtlichen Ur-Monotheismus folgt „die Geschichte der jüdisch-christlichen Offenbarung als Einführung der positiven Religion“ und danach die „Zukunft des neuen, ewigen Evangeliums als Ausblick auf vernünftige Religion“ – mit „vernünftiger Unsterblichkeitslehre“ (362). Lessings Fragen nach der Seelenwanderung sind „Thema der vernünftigen Religion“ (401), die als „geschichtliches Phänomen“ beschrieben wird und „vernünftig begründet“ sein muss (405). In der Auseinandersetzung mit Bonnet hebt Cyranka hervor, dass Lessing hier die Seelenwanderungshypothese als „psycho-physische Höherentwicklung“ (451ff) versteht, die keine Rückkehr auf die Erde mehr kennt.

In dem kurzen III. Teil (457ff) fasst der Autor seine Ergebnisse zusammen: Lessings Äußerungen seien nicht systematisch auf eine bestimmte Konstruktion von Seelenwanderung festzulegen. Er habe vielmehr auf unkonventionelle Art Theologie getrieben und könne nicht für eine bestimmte Form weltanschaulicher Formulierung des Reinkarnationsdiskurses vereinnahmt werden. Seine Popularität in diesem Rahmen stamme von seinem „Fortschritts- bzw. Evolutionskonzept“, in das er seine Aussagen über die Zukunft des Menschen nach dem Tod stelle. „Der unumkehrbare Fortschritt und die in der Unendlichkeitsvorstellung liegende Freiheit für das Individuum sind die Grundpfeiler aller … Konzepte, in denen Lessings Name auftaucht“ (466). Damit wird Lessing zum Vordenker eines Diskurses über Reinkarnation, der aus westlicher Perspektive geführt wird, auch wenn er außerchristliche Traditionen einbeziehen will: Er ist Teil „des westlichen, vom Evolutions- und Fortschrittsparadigma geprägten Denkens“.

Cyranka legt ein Buch vor, das viele Aspekte der Diskussion um Lessings Stellung im Reinkarnationsdiskurs erhellt und erstmals systematisch den Kontext der skizzenhaften Aussagen einbezieht, ohne den Aufklärer zu vereinnahmen. Sowohl in der detaillierten Diskussion der Rezeption als auch in der Untersuchung der Texte werden Maßstäbe für die weitere Behandlung des Themas gesetzt. Dabei ist der gute Stil des Autors hervorzuheben, es ist ein Vergnügen, ihm bei seinen Erkundungen zu folgen. Es bleibt zu hoffen, dass der große Umfang des Buches keine Leser abschreckt!


Jan Badewien, Karlsruhe