Lob des Zweifels. Was ein überzeugender Glaube braucht
Peter L. Berger / Anton Zijderveld, Lob des Zweifels. Was ein überzeugender Glaube braucht, Kreuz Verlag, Freiburg 2010, 180 Seiten, 16,95 Euro.
In der Religionssoziologie ist der Streit um die „Säkularisierungstheorie“ nach wie vor in vollem Gang. Während Forscher wie Detlef Pollack (Münster) unverdrossen den Bedeutungsverlust von Religion in der Öffentlichkeit beschwören, setzen kirchlich orientierte Forscher wie der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner Hoffnung auf eine diffuse, aber vielfach wirksame Religiosität in der gegenwärtigen Gesellschaft. Der Autor des vorliegenden Buches, Peter L. Berger, war seit den späten 1960er Jahren soziologischer Beobachter und Begleiter nahezu aller kirchlich-religiöser Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, vom „social gospel“ bis zur „Wiederkehr der Engel“. Hier legt er gemeinsam mit dem Philosophen Anton Zijderveld ein sympathisches Verstehensmodell für den Glauben unter den Bedingungen einer historisch so bisher nicht gekannten Globalisierung vor.
Das erste Kapitel „Die vielen Götter der Moderne“ legt zunächst eine Erkenntnisgrundlage jenseits des Pro und Contra der Säkularisierungs-These: Die Moderne bewirkt nicht den Tod Gottes, sondern die Pluralisierung der Wege, ihn anzubeten. Was tatsächlich mit fortschreitender Moderne verschwindet, ist die alleinige Dominanz einzelner Religionen und Glaubenssysteme zugunsten einer umfassenden Pluralisierung und Individualisierung. Religion wird Gegenstand individueller Wahl, einschließlich der, sich aus bekannten Bestandteilen ein neues religiöses Menü selbst zusammenzustellen. „Pluralisierung muss nicht das ‚Was’ der Religion ändern, aber sie wird wahrscheinlich das ‚Wie’ ändern“ (28). Die „kognitive Kontamination“ durch andere Überzeugungen stellt fraglosen Glaubensgewissheiten alternative Glaubensweisen gegenüber – der Einzelne kann nicht nur wählen, er muss wählen; Berger hatte das früher schon als „Zwang zur Häresie“ gekennzeichnet. Hinzu kommt der Funktionswandel religiöser Institutionen, deren Monopol in modernen Gesellschaften nicht haltbar ist und die sich als Konkurrenten auf dem religiösen Markt anerkennen müssen. Das hat auch theologische Folgen wie z. B. die früher undenkbare Akzeptanz der Religionsfreiheit durch die katholische Kirche: „Im Nachhinein lieferte das starke Bekenntnis des II. Vatikanischen Konzils zur Religionsfreiheit dem empirischen Prozess, der bereits vor sich gegangen war, die theologische Legitimation“ (30).
Auf den Machtverlust der religiösen Institutionen und die Individualisierung der Glaubenswelten kann man unterschiedlich reagieren. Die Autoren benennen zunächst zwei Wege, die sie für Holzwege halten: Fundamentalismus und Relativismus. „Beide sind zutiefst moderne Phänomene, und beide sind Reaktionen auf die relativierende Dynamik der Modernität. Der Relativist bejaht diese Dynamik, der Fundamentalist lehnt sie ab“ (86). Der Fundamentalist versuche, vor Relativierung und Pluralisierung einen Damm zu ziehen – zum einen durch herrschaftlich von oben ausgeübte Kontrolle aller Kommunikationsmittel, um abweichende Perspektiven zu eliminieren und es gar nicht erst zur „kognitiven Kontamination“ kommen zu lassen: das Modell des Totalitarismus, sei er politisch oder religiös begründet. Die andere Variante ist der subkulturelle Fundamentalismus, der eine in sich geschlossene Subkultur nicht gewaltsam für die gesamte Gesellschaft verbindlich machen will, sondern sie inselhaft von der kognitiven Mehrheit zu isolieren sucht. Beispiele wären die Subkulturen der Amish People oder Shaker in den USA, in ihrer Frühgeschichte auch die Mormonen. Beide Varianten negieren letztlich die persönliche Freiheit und die persönliche Wahrheitssuche. Denn „Zweifel werden ausgeschaltet, indem man in eine umfassende Theorie eintaucht, die sowohl erklärt als auch leugnet“ (99). Dass diese Art Theoriebildung als „Apologetik“ bezeichnet wird, sollte in einer Zeitschrift wie dem „Materialdienst“ mindestens vermerkt werden.
Einen in gewisser Weise totalitären Charakter schreiben die Autoren aber auch dem Gegenpart des Fundamentalismus, dem Relativismus, zu und befinden sich dabei zeitweise in überraschender Nähe zu Papst Benedikt XVI., der gern die von ihm wahrgenommene „Diktatur des Relativismus“ geißelt. Die Kritik gilt einer Haltung, in der jegliche empirisch erfahrbare Faktizität geleugnet wird und jede Tatsachenfeststellung im Dunstkreis mehr oder minder beliebiger „Narrative“ verschwindet. Diese Art von Theorie sei zur Bewältigung des Alltags ebenso untauglich wie eine ganz und gar relativierende Moral für das Zusammenleben der Gesellschaft. „In einer Theorie, die der augenscheinlichen Erfahrung des Alltagslebens widerspricht, steckt der Wurm. Der Zweck einer Theorie ist, die Erfahrung zu erhellen und nicht, sie zu leugnen“ (79).
Was den Autoren stattdessen vorschwebt, ist eine wohltemperierte Mischung von Gewissheit und Zweifel; das titelgebende „Lob des Zweifels“ will nämlich keineswegs jede Gewissheit vertreiben, sondern sie mit vernünftigem und ideologiekritischem Zweifel ins Gleichgewicht bringen. „Zweifel“ meint hier nicht das radikale Bestreiten von allem, sondern das sokratische Hinterfragen, um „den Geist von falschen Überzeugungen, vorgefassten Vorstellungen und unzutreffenden Vorurteilen zu säubern“ (123). Erkenntnistheoretisch kommt dieser „konsistente und aufrichtige Zweifel“ (126) nicht etwa zur resignativen Bestreitung jeder Wahrheit, sondern – in einem langen Evolutionsprozess – zu einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit im Urteil, der für konsistentes Handeln im Alltag ausreicht.
Dies gelte nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch im Bereich der Ethik. Durch methodischen Zweifel an gesetzten Vorgaben hindurch sei es möglich, zu einer moralischen Gewissheit zu kommen, die ein gutes und verlässliches Zusammenleben ermögliche. Denn bei der Frage um Wahrheit und Zweifel gehe es um mehr als intellektuelle Richtigkeit; es gehe um das, was dem Leben – nicht nur dem Kopf – Halt gibt. „Man kann Zweifel über sich selbst, die Welt insgesamt oder Gott hegen. Der gemeinsame Nenner ist in allen Fällen, dass dabei die Frage gestellt wird, ob überhaupt etwas oder jemand verlässlich, vertrauenswürdig und sinngebend – das heißt ob etwas oder jemand ‚wahr’ – sei. Die Fragen um Zweifel und Wahrheit sind also genau genommen immer Beziehungsfragen“ (119). Genauer kann man nicht beschreiben, was die Wahrheit gerade des Glaubens ausmacht.
Gegenüber den als Holzwege entlarvten Extremen plädieren Berger und Zijderveld für einen goldenen Mittelweg. Im Kern besteht er aus einer Differenzierung zwischen den existenziellen und ethischen Kernaussagen einer Religion und eher marginalen, wandelbaren Elementen. „So könnten zum Beispiel christliche Theologen die Auferstehung Christi als Kern, aber die anderen Wunder im Neuen Testament als im Prinzip verhandelbar definieren“ (130). Voraussetzung dafür sei die Offenheit für den historisch-kritischen Umgang mit der eigenen Tradition. Dem Zweifel wird damit eine positive Rolle im Glauben gegeben, sozusagen die eingebaute Unruhe im Sinne einer ecclesia semper reformanda. Unerlässliche Rahmenbedingung für diese Glaubensweise seien Institutionen der Zivilgesellschaft, die friedliche Debatten und Konfliktlösungen ermöglichen: letztlich also der Rahmen einer liberalen Demokratie.
Das ist alles nicht neu, was hier vorgetragen wird, und es klingt sehr abendländisch und protestantisch, wie die Autoren freimütig einräumen: „Wenn man auf religiösem Gebiet eine mittlere Position definieren möchte, ist es hilfreich, Protestant zu sein. Aber um das tun zu können, muss man nicht Protestant sein“ (130). Aber die Autoren machen deutlich, dass diese „mittlere Position“ am ehesten die Chance bietet, ein verträgliches Miteinander der konkurrierenden Glaubenssysteme unter den Bedingungen einer nicht mehr umkehrbaren Pluralisierung zu gewährleisten.
Sie entwickeln keine dramatisch neue Theorie, sondern sie entfalten eine wissenssoziologisch gut begründete Position, wie Glaube und Religion in der modernen Welt verantwortlich gelebt werden können. Diese formulieren sie in einer klugen und verständlichen, manchmal humorvollen Sprache jenseits von allem Fachchinesisch und ohne eine einzige Fußnote. Damit geben sie ein Beispiel für das, was wir von der Wissenschaft jenseits intellektueller Spiegelfechtereien doch immer erhoffen: Einsicht und Weisheit.
Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.