Lobbykonkurrenz im säkularen Spektrum
Zur Gründung des „Zentralrats der Konfessionsfreien“
„Wir begleiten Deutschlands Weiterentwicklung zum säkularen Staat“1, so lautet die Verheißung eines neuen Players auf dem Feld der Religions- und Weltanschauungspolitik: Im Mai diesen Jahres hat sich der neue „Zentralrat der Konfessionsfreien“ der Öffentlichkeit mit einer Website2, einem Programmpapier3 und einer Pressekonferenz4 vorgestellt. Die neue Vereinigung ist indessen nicht wirklich neu, sondern ersetzt einen anderen Zusammenschluss, den „Koordinierungsrat säkularer Organisationen e.V.“ (KORSO), der sich mit der Neugründung auflöste. Es handelt sich also eigentlich um eine Umbenennung, allerdings verbunden mit einem neuen Selbstverständnis, Anspruch und Auftreten.5
Der Wandel im Selbstverständnis lässt sich schon am neuen Namen ablesen. Der „Koordinierungsrat“ wurde 2008 gegründet, um verschiedene säkulare Organisationen mit teils sehr unterschiedlichen Traditionen und Intentionen überhaupt miteinander ins Gespräch zu bringen und dabei gemeinsame Positionen (oder zumindest thematische Kompromisslinien) zu erarbeiten. Im Fokus stand also die interne Abstimmung innerhalb des säkularen Verbandsspektrums; die öffentlich-politische Vertretung gemeinsamer Anliegen nach außen war eher der mittel- oder langfristige Horizont des Vereins. Mit der Umwandlung in einen „Zentralrat“ – analog zum „Zentralrat der Juden“ oder dem „Zentralrat der Muslime“ – wird nun offensichtlich die externe Interessenvertretung zum Hauptzweck. Mit dem Namen wird unmissverständlich der Anspruch einer „zentralen“ gesellschaftlichen und politischen Repräsentanz „der Konfessionsfreien“ erhoben. Aus einer Verständigungsplattform säkularer oder humanistisch-atheistischer Verbände soll die maßgebliche politische Lobbyorganisation für alle „konfessionsfreien“ Bürgerinnen und Bürger Deutschlands werden.6
Der Konflikt mit dem Humanistischen Verband
Die programmatische Wendung nach außen erweckt den Anschein, als sei die jahrelange Koordinierungsarbeit zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen, sodass die vereinigte säkulare Szene nun in die Phase der kraftvollen politischen Einflussnahme eintreten könne. Tatsächlich hängt die Transformation aber auch mit einem Scheitern der Koordinationsbemühungen zusammen. So war im März 2021 mit dem „Humanistischen Verband Deutschlands“ (HVD) das mit Abstand mitgliederstärkste Mitglied aus dem KORSO ausgetreten. Der Grund: Man hatte sich auf zentralen Feldern gerade nicht auf gemeinsame Anliegen verständigen können.
Folgt man der Pressemitteilung des HVD7 und der Berichterstattung des „Humanistischen Pressedienstes“ (hpd)8, ging es dabei hauptsächlich um die Frage der Kooperation von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit dem Staat. Deren Möglichkeit ist im Grundgesetz mit dem Prinzip der „kooperativen Trennung“ festgeschrieben. Dem zufolge können staatliche Institutionen, unbeschadet ihrer grundsätzlichen weltanschaulichen Neutralität, mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zusammenarbeiten bzw. deren Arbeit fördern, wenn darin – vor allem auf den Gebieten Wertebildung und Sozialfürsorge – ein staatlich-gesellschaftliches Interesse erkannt wird, also etwa bei der frühkindlichen Erziehung, beim Religions- oder Weltanschauungsunterricht in der Schule, bei der Studierendenförderung, der Militär- und Gefängnisseelsorge oder der Sozial-, Senioren- und Hospizarbeit. Dies unterscheidet die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates gemäß dem deutschen Grundgesetz von einem strikt „säkularistischen“ oder „laizistischen“ Staatsverständnis, das derartige Kooperationen im Grundsatz ausschließt (wie beispielsweise in Frankreich)9.
Weil man sich in der prinzipiellen weltanschauungspolitischen Frage der Befürwortung oder Ablehnung jener – aus säkularistischer Perspektive allenfalls „halben“ – Trennung von Staat und Religions- / Weltanschauungsgemeinschaften nicht einigen konnte, entschloss sich der HVD zum Austritt aus dem KORSO. Im Koordinierungsrat dominierten die Kräfte, die für eine laizistische Trennung votieren und gegen die staatlichen „Privilegien“ von Kirchen und Religions-/Weltanschauungsgemeinschaften zu Felde ziehen. Der HVD hingegen verfolgt seit Jahren die Politik, mit dem Staat solche „kirchenanalogen“ Kooperationen einzugehen und entsprechende „Privilegien“ für sich selbst einzufordern. Denn selber in der kirchenanalogen Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verfasst, hat er es sich zum Ziel gesetzt, auf den Gebieten Bildung und Soziales mit eigenen säkular-humanistischen Angeboten präsent zu sein. Die HVD-Pressemeldung zum Austritt aus dem KORSO bringt die unüberbrückbare Differenz auf den Punkt:
„Während beispielsweise der HVD Berlin-Brandenburg allein in Berlin rund 70.000 Schüler*innen in Humanistischer Lebenskunde unterrichtet, verlangen manche säkularen Kräfte eine Abschaffung jeglichen Religions- und Weltanschauungsunterrichtes. Diese unterschiedlichen Positionen konnten in den vergangenen Jahren innerhalb des KORSO nicht in eine gemeinsame Strategie überführt werden. Der HVD Bundesverband hält es deswegen – inhaltlich und strategisch – für geboten, eigene Wege zu gehen. Die Unterschiedlichkeit der Organisationen und Standpunkte im KORSO münden immer wieder in eine ‚Vielfalt‘, die nicht mehr schlüssig darstellbar ist.“
Insbesondere sei die „Übereinstimmung in unseren Positionen … für den HVD nicht ausreichend substanziell, um eine Schwerpunktverschiebung des KORSO in Richtung Lobbyarbeit mitgehen zu können“.10
Säkulare Lobbykonkurrenz
Mit der Umbenennung in „Zentralrat der Konfessionsfreien“ hat der vormalige KORSO diese Schwerpunktverschiebung ein halbes Jahr später programmatisch zum Ausdruck gebracht. Deutlicher als zuvor ist damit innerhalb des säkularen Spektrums eine Konkurrenz weltanschauungspolitischer Lobbyorganisationen zutage getreten, die in wesentlichen Aspekten konträre Ziele und Strategien verfolgen:11 Auf der einen Seite steht eine säkularistische Lobby, die auf die Abschaffung jeglicher staatlichen Förderung religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften dringt, auf der anderen Seite eine „praktisch-humanistische“12 Interessenvertretung, die eine angemessene Berücksichtigung säkularer Bildungs- und Unterstützungsangebote bei der staatlichen Förderung anstrebt.13
Dabei haben die unterschiedlichen Zielsetzungen auch Auswirkungen für das Verhältnis zu den Kirchen: Während die säkularistische Seite ihr vornehmlich kritisches Anliegen gerne in scharf antireligiöser und namentlich antikirchlicher Polemik vorbringt – Artikel des hpd bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial –, erfahren die antikirchlichen Affekte auf der praktisch-humanistischen Seite durch die analogen (wenn auch konkurrierenden) Aufbauziele eine spürbare Mäßigung und Versachlichung. Hier haben die einschlägigen Äußerungen nicht mehr so sehr den Charakter kämpferischer Fundamentalkritik am gesellschaftlichen Status und Wirken der Kirchen, sondern sie zielen konkret auf eine überkommene, inzwischen aber für überproportional und unzeitgemäß erachtete Bevorzugung der Kirchen bei den staatlichen „Privilegien“. Die damit angedeuteten Differenzen im Stil des jeweiligen Auftretens scheinen bei den Verwerfungen zwischen den Flügeln auch eine Rolle gespielt zu haben.14
Anmaßungsvorwürfe
Nach der Trennung vom KORSO hat dessen neue Selbstbezeichnung als „Zentralrat der Konfessionsfreien“ aufseiten des HVD für großen Unmut gesorgt. Denn augenscheinlich ist der Anspruch des „Zentralrats“, die Konfessionslosen in toto „zentral“ zu vertreten, aus Sicht der rivalisierenden „Säkularlobby"15 deutlich überzogen, um nicht zu sagen: ein Affront. So hat denn auch der HVD-Bundesvorstand der Namensgebung postwendend widersprochen: „Säkulare Organisationen, die in einer religionskritischen Tradition stehen, haben schon immer gerne die Vertretung der Interessen konfessionsfreier Menschen für sich vereinnahmt. Auch der HVD hat diesen Anspruch in der Vergangenheit erhoben, hat aber in seiner letzten Satzungsreform diesen Vertretungsanspruch eingeschränkt“, und zwar dahingehend, dass er neben den HVD-Mitgliedern nur noch „jene konfessionsfreien Menschen in Deutschland“ miteinschließe, „die zentrale Prinzipien des humanistischen Bekenntnisses für sich anerkennen (Bekenntniszugehörige)“.16 Woran und wie diese Bekenntniszugehörigkeit erhoben werden soll, wird nicht gesagt. Aber es wird festgehalten, dass die pauschale Berufung des Zentralrats auf „riesige Zustimmungswerte zu unseren Überzeugungen, die weit über die 40 Prozent der Konfessionsfreien hinausgehen"17 einen weiter reichenden Allgemeinvertretungsanspruch sicher nicht begründen könne.
Daran anknüpfend hat der Vizepräsident des HVD Berlin-Brandenburg, Thomas Heinrichs, geltend gemacht, dass die Gruppe der „Konfessionsfreien“ „in weltanschaulicher und politischer Hinsicht völlig diffus“ sei:
„Die Konfessionsfreien sind über alle politischen und gesellschaftlichen Gruppen verteilt und reichen von AfD-Wählern bis zu Esoterikern. Eine Gruppe, die nur durch ein negatives Kriterium, das Desinteresse an Religiosität und weltanschaulicher Orientierung, definiert wird, lässt sich nicht organisieren und durch niemanden vertreten. Säkulare Gruppierungen können ihre Mitglieder und Anhänger vertreten, die ihre Ansichten und Ziele teilen, aber niemand sonst. Wenn die im Rest-KORSO verbliebenen säkularen Organisationen, deren Mitgliederzahl sich großzügig geschätzt im Bereich weniger Tausend bewegt, den Anspruch erheben, für circa 25 Millionen Menschen in Deutschland zu sprechen, die noch nie etwas von diesen Organisationen gehört haben, dann ist das anmaßend."18
Bekräftigung der Ansprüche
Darauf antworteten Rainer Rosenzweig und Philipp Möller vom „Zentralrat“ im Oktober 2021 in einem offenen Brief.19 Darin wird die Behauptung großer „weltanschauungspolitischer Übereinstimmungen“ innerhalb der Gruppe der formal Konfessionsfreien bekräftigt. Das ist bemerkenswert, gerade angesichts der näheren Bestimmung dieser Gruppe. Denn als „konfessionsfrei“ gilt nach Rosenzweig und Möller, „wer auf der Lohnsteuerkarte weder evangelisch noch katholisch noch irgendeine andere Konfession angegeben hat“ – anders gesagt: wer keiner Religionsgemeinschaft angehört, die eine Kirchen- oder Kultussteuer erhebt. In diesem Sinne sind etwa auch alle orthodoxen und freikirchlichen Christen sowie alle Muslime „konfessionsfrei“.20 Worin könnte die „weltanschauungspolitische Übereinstimmung“ all dieser kirchensteuerledigen Menschen liegen? Es bleibt nur der angeführte Umstand, dass sie sämtlich das „Recht auf ein konfessionsfreies Leben“ bejahen, genauer gesagt: auf ein Leben ohne Bindung an eine Kirchensteuer erhebende Religionsgemeinschaft. Das ist mehr als dürftig. Denn darin liegt tatsächlich keinerlei ideelle Übereinstimmung. Auch im anschließenden Fazit bleibt die behauptete Konvergenz hochgradig vage:
„Es lässt sich also sagen: Die Menschen in Deutschland haben keine Lust mehr, sich ihr Leben von autoritären Strukturen vorschreiben zu lassen, seien sie nun politisch oder religiös. Wer sich in dieser Beschreibung wiederfindet, ist herzlich eingeladen, sich von uns vertreten zu fühlen.“
Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft wird mit einem autoritär fremdbestimmten Leben gleichgesetzt, und wer solches für sich ablehnt, wird der Vertretung durch den „Zentralrat“ anbefohlen. In der Tat: Mit solchen Begriffen von Religion / Konfession und Konfessionsfreiheit lassen sich grandiose Zustimmungswerte generieren und fantastische Repräsentanzverhältnisse erdichten. Ideell dürfen sich nach diesen Kriterien am Ende wohl auch die große Mehrheit der Kirchenmitglieder vom „Zentralrat“ mitvertreten fühlen, katholischerseits mindestens die Anhänger des „Synodalen Wegs“ und von „Maria 2.0“ – ja eigentlich überhaupt die große Mehrheit der Deutschen. Der „Zentralrat der Konfessionsfreien“ entpuppt sich, folgt man seiner Selbstbeschreibung, als zentrales Vertretungsorgan für (fast) alle.
Sieht man sich das eingangs erwähnte Programmpapier an, so begegnet dort dieselbe Ignoranz gegenüber dem Religiösen und dieselbe Strategie der Vereinnahmung aller Menschen guten Willens. Man beruft sich auf „eine Bevölkerung …, die sich nicht von Mythen und Autoritäten leiten lässt, sondern von Tatsachen und Grundrechten“ – wer wollte sich da nicht selbst hinzuzählen (jedenfalls unter der vorausgesetzten Auffassung von Mythos und Autorität)? Und wer wäre nicht für eine „offene Gesellschaft“ und „gegen Sexismus und Rassismus, Hass und Gewalt, gegen die menschenfeindlichen Ideologien von Fundamentalisten und Patriarchen sowie gegen Verschwörungsmythen“?21 Ohne ernsthafte Argumente wird durchgängig suggeriert, all diese Ziele könnten am besten durch „Deutschlands Weiterentwicklung zu einem konsequent säkularen Staat“ erreicht werden. Daher sollten sich die Parteien der Ampelkoalition – offenbar die vorrangigen Adressaten des Papiers mit dem Titel „Die säkulare Ampel“ – schon aus Gründen des Erhalts der Demokratie für jene „Weiterentwicklung“ einsetzen.
Die politischen Forderungen
Die konkreten Forderungen sind im Einzelnen wenig überraschend (wenngleich überraschend unsortiert). Es finden sich geläufige Angriffe auf Kirche und kirchliche Privilegien (1: „Gleiches Arbeitsrecht für alle garantieren“; 3: „Historische Staatsleistungen ablösen“; 4: „Sexuelle Gewalt gegen Kinder lückenlos aufklären“; 5: „Finanzämter vom Einzug der Kirchensteuer befreien“); Forderungen zur rechtlichen Liberalisierung in ethischen Zentralfragen (2: „Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch reformieren“; 8: „Suizidhilfe weiterhin ermöglichen“), zur Verstärkung der öffentlichen Vertretung der Säkularen (9: „Konfessionsfreie in Rundfunkräten und im Deutschen Ethikrat repräsentieren“) und zur Einschränkung der Sichtbarkeit und Hörbarkeit des Religiösen im öffentlichen Raum (10: „Weltanschauliche Neutralität in staatlichen Einrichtungen wahren“; nicht ganz konsistent, dafür ungewollt komisch erläutert mit: „Kruzifixe, Kopftücher, Glockengeläut und Muezzinruf – im Privatleben kein Problem“). Daneben gibt es einen Punkt zur Eindämmung des „politischen Islam“ (7: „Weltanschauungsfreiheit auch in der Migrationsgesellschaft garantieren“) und zur säkularen Revision von Gesetzestexten (11: „Weltanschauliche Neutralität in Gesetzen beachten“; genannt werden die Frage der rituellen Knabenbeschneidung sowie der „Gotteslästerungsparagraf“ § 166 StGB).
Besonders interessant sind indes die beiden verbliebenen der zwölf Forderungen, weil sie noch einmal die oben beschriebene Spaltung innerhalb der säkularen Sphäre vor Augen führen. Denn sowohl Punkt 6 („Ethik als Lehrfach für alle einführen“) als auch der abschließende Punkt 12 („Religion als Privatsache behandeln“) sind der Sache nach für den „praktisch-humanistischen“ Flügel geradezu Kampfansagen. „Ethik als Lehrfach für alle“ bedeutete nämlich die Abschaffung nicht nur des „konfessionellen Religionsunterrichts“, wie es in der Erläuterung heißt, sondern auch des säkularen Weltanschauungsunterrichts, wie er vom HVD in Brandenburg betrieben wird. Und die Forderung, „Religion als Privatsache zu behandeln“, zielt auf nichts weniger als auf die Aufhebung des Körperschaftsstatus aller Weltanschauungsgemeinschaften22 – und damit auch auf die Aufhebung der rechtlichen Grundlage für die praktisch-humanistischen Angebote des HVD (und der „Humanistischen Vereinigung“).
Ausblick
Der künftige Einfluss des „Zentralrats“ ist nicht leicht zu prognostizieren. Dass durch seine Lobbyarbeit vorhandene laizistische Stimmungen innerhalb der Regierungsparteien (und innerhalb der LINKEN) verstärkt werden, lässt sich nicht ausschließen. Auch der Anspruch, Sprachrohr für alle Konfessionsfreien zu sein, könnte bei einigen Unkundigen verfangen. Aber der Versuch, durch die neue Selbstbezeichnung eine maximale Ausweitung der Reichweite zu erzielen, dürfte für den „Zentralrat“ auch mit einem Risiko behaftet sein. Denn gerade der sich aufdrängende Vergleich mit den Namensvorbildern, dem „Zentralrat der Juden“ und dem „Zentralrat der Muslime“, lässt ein gravierendes Problem überdeutlich hervortreten: eben die formal-negative, daher inhaltlich völlig unbestimmte Selbstdefinition durch die „Konfessionsfreiheit“.24 Was einen Juden und eine Jüdin, was eine Muslima und einen Muslim religiös-weltanschaulich verbindet (bei allen vorhandenen, mitunter auch gravierenden Richtungsunterschieden), davon hat ein jeder einen mehr oder weniger bestimmten Begriff. Ein „Konfessionsfreier“ hingegen kann moralischer Idealist oder gedankenloser Hedonist sein, eine „Konfessionsfreie“ freikirchliche Pfingstchristin oder naturfromme Pantheistin – und vieles mehr.25
Doch konkrete politische Forderungen mit einem positiven ideellen Gehalt erfordern wiederum eine mehr oder weniger klare positive Bestimmbarkeit derer, in deren Namen sie erhoben werden. Wenn es aber keine fraglose ideelle Übereinstimmung gibt, liegt es nahe, sich in der Repräsentanzfrage an andere, harte Faktoren zu halten. So wird man doch auf das Kriterium der Verbandsmitgliedschaft zurückgeworfen, die ja eine ideologische Übereinkunft deutlich artikuliert. Allerdings schrumpft die Zahl der Vertretenen dann mit einem Mal arg zusammen, und von den erhobenen Maximalbehauptungen bleibt nur ein sehr bescheidener Rest. Diese Kontrastwirkung aber dürfte der öffentlichen Anerkennung des „Zentralrats“ als gewichtiger politischer Stimme nicht zuträglich sein.
Martin Fritz, 23.08.2022
Anmerkungen
1 www.konfessionsfrei.de, im Titelslogan der Website (Abruf der Internetseiten: 6.8.2022).
2 www.konfessionsfrei.de.
3 Zentralrat der Konfessionsfreien: Die Säkulare Ampel. Zwölf Chancen für die offene Gesellschaft, https://konfessionsfrei.de/saekulare-ampel.
4 Die Pressekonferenz fand am 19.5.2022 im Haus der Bundespressekonferenz statt. Sie wurde auch online übertragen und ist noch bei YouTube anzusehen, https://youtu.be/ds1WPUSl_ac.
5 Die Umbenennung wurde mit der Verabschiedung der neuen Satzung des KORSO am 19.9.2021 beschlossen. Vgl. Stellungnahme des HVD-Bundesvorstandes zur Gründung des Zentralrats der Konfessionsfreien, humanismus.de, 15.11.2021, https://tinyurl.com/bddcfb5w.
6 Im „Zentralrat“ sind folgende Organisationen zusammengeschlossen: „Bund für Geistesfreiheit“ (bfg) Bayern, „Bund für Geistesfreiheit“ (bfg) München, „Bundesarbeitsgemeinschaft humanistischer Studierender“, „cum ratione. Gesellschaft für Aufklärung und Technik gGmbH“, „DA! Düsseldorfer Aufklärungsdienst e. V.“, „Giordano Bruno Stiftung“ (gbs), „Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten e. V.“, „Jugendweihe Deutschland e. V.“, „KORTIZES. Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs“, „roter baum“, „ARR. Säkulare Flüchtlingshilfe Berlin e. V.“, „Säkulare Flüchtlingshilfe Deutschland“, „Stiftung Geistesfreiheit“.
7 Presseerklärung des HVD-Bundesverbands vom 19.3.2021: Der Humanistische Verband Deutschlands beendet seine Mitgliedschaft im Koordinierungsrat säkularer Organisationen, humanismus.de, 29.3.2021, https://tinyurl.com/352tdjz7.
8 Daniela Wakonigg: HVD beendet Mitgliedschaft im KORSO, hpd, 19.3.2021, https://tinyurl.com/2p854b79.
9 Auch in Frankreich gibt es allerdings Formen der Kooperation, z. B. beim Erhalt der Kirchengebäude.
10 Presseerklärung des HVD-Bundesverbands vom 19.3.2021 (s. Fußnote 7).
11 Völlig neu ist eine derartige Konkurrenz natürlich nicht. Zuletzt wurde solches Ende 2019 mit der Trennung des Landesverbands Bayern vom HVD samt Umbenennung in „Humanistische Vereinigung“ sichtbar; siehe dazu die Pressemeldung des HVD-Bundesverbands vom 13.8.2020: Abspaltung des ehemaligen Landesverbands Bayern vom HVD, humanismus.de, https://tinyurl.com/3pjvz36z.
12 „Praktischer Humanismus“ ist ein Leitbegriff im Selbstverständnis des HVD (vgl. https://humanismus.de/ueber-uns/praktischer-humanismus), aber auch der „Humanistischen Vereinigung“ (vgl. https://tinyurl.com/yc2w62br).
13 Diese idealtypisch sehr klar zu unterscheidenden Flügel des säkularen Spektrums sind realiter nicht immer so klar zu scheiden, weil auch hier – wie vermutlich bei den meisten Bewegungen und Organisationen – die eigenen Prinzipien nicht immer konsequent durchgehalten werden. So kommt es etwa, dass die an sich entschieden säkularistisch ausgerichtete Giordano-Bruno-Stiftung als eine der Trägerinstitutionen des humanistischen Bertha von Suttner-Studienwerks durchaus staatliche Förderung für diese säkulare Institution fordern kann. Derartige Selbstwidersprüche versucht man meist durch einen zeitlichen Vorbehalt zu bereinigen: Nur so lange die „Kirchen“ u. a. noch staatliche Privilegien erhalten, will man die nämlichen Privilegien auch für sich in Anspruch nehmen – und gleichzeitig um nichts weniger scharfzüngig für die generelle Abschaffung solcher Privilegien kämpfen. Vgl. dazu Martin Fritz: Humanistische Begabtenförderung: Bertha von Suttner-Studienwerk gegründet, in: ZRW 84/3 (2021), 167 – 173.
14 Vgl. Frank Nicolai: Strategische Partnerschaft bleibt bestehen, Interview mit HVD-Bundesvorstandsmitglied Katrin Raczynski sowie dem KORSO-Vorsitzenden Rainer Rosenzweig, hpd, 29.3.2021, https://tinyurl.com/52f4mzyr.
15 So schon die Selbstbezeichnung des KORSO. Vgl. KORSO: Säkulare Interessen, säkulare Lobby und die Zukunft des KORSO, hpd, 23.3.2021, https://tinyurl.com/2z697mnb.
16 Stellungnahme des HVD-Bundesvorstandes (s. Fußnote 5).
17 Inge Hüsgen: Jetzt sind auch die Konfessionsfreien mit einem Zentralrat am Start, Interview mit Rainer Rosenzweig, hpd, 24.9.2021, https://tinyurl.com/vvc95aw8.
18 Thomas Heinrichs: Der KORSO auf dem Weg zu seiner Verkirchlichung?, hpd, 21.10.2022, https://tinyurl.com/4da8uwr4.
19 Rainer Rosenzweig / Philipp Möller: Von der Arena auf dem Marktplatz. Eine Einladung von Philipp Möller und Rainer Rosenzweig an Thomas Heinrichs, hpd, 22.10.2021, https://tinyurl.com/yvzfbn4y.
20 Vgl. dazu Martin Fritz: „Überwindung der Kirchensteuer“. Ein religionspolitischer Beschluss der „Säkularen Grünen“, in: ZRW 85/2 (2022), 92 – 99.
21 Zentralrat der Konfessionsfreien: Die Säkulare Ampel (s. Fußnote 3), 3.
22 Vgl. Zentralrat der Konfessionsfreien: Die Säkulare Ampel (s. Fußnote 3), 4: „Weltanschauungsgemeinschaften sollten keine ‚Staaten im Staate‘ sein – ihr Körperschaftsstatus muss aufgehoben werden!“
23 Siehe dazu die Fußnoten 11 und 12.
24 Die praktisch-humanistische Fraktion der Säkularen hat daraus die Konsequenz gezogen, sich durch die Definition bestimmter humanistischer Schlüsselwerte eine Art positives „Bekenntnis“ zu geben.
25 Es ist im Übrigen anzunehmen, dass unter den formal „Konfessionsfreien“ mehr als „fundamentalistisch“ einzuschätzende Christen zu finden sind als unter den Kirchenmitgliedern, weil sie infolge einer kirchenkritischen Grundeinstellung in der Regel Mitglieder von Freikirchen oder freien Gemeinden sind. Die großen Kirchen besitzen ja insgesamt eine – ihnen von entschiedeneren Frommen häufig vorgeworfene – Tendenz zur Liberalisierung des Christlichen. Vor diesem Hintergrund wäre das anti-fundamentalistische Argument gerade nicht gegen, sondern zugunsten der Kirchen zu wenden: Sie sind aus der Sicht des Staates als Horte eines demokratiekompatiblen Christentums nach Kräften zu fördern (was selbstverständlich nicht bedeutet, dass alle freikirchlichen oder gänzlich „freien“ Formen des Christentums demokratieinkompatibel wären). Siehe dazu Martin Fritz: Sozialformen des protestantischen Christentums, in: MdEZW 83/1 (2020), 66 – 73.