Markolf H. Niemz

Lucys Vermächtnis. Der Schlüssel zur Ewigkeit

Markolf H. Niemz, Lucys Vermächtnis. Der Schlüssel zur Ewigkeit, Droemer Verlag, München 2009, 192 Seiten, 16,95 Euro.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Naturwissenschaftler über Fragen von Leben und Tod sowie von Zeit und Ewigkeit schreibt. Markolf Niemz ist habilitierter Physiker an der Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität und Ordinarius an der Medizinischen Fakultät Mannheim. Er legt nun mit „Lucys Vermächtnis“ den dritten Band einer Reihe vor, mit der er im Blick auf das Verständnis von Sterben und Tod den Dialog zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Religion beleben möchte. Niemz hat Physik und Bioengineering in Heidelberg und an der University of California in San Diego studiert. Er spezialisierte sich auf physikalische Messtechnik und wurde für seine Arbeiten zur Lasermedizin 1995 von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit dem Karl-Freudenberg-Preis ausgezeichnet. Auf eine Tätigkeit am Fraunhofer-Institut in Freiburg folgte die Berufung zum Direktor der Mannheim Biomedical Engineering Laboratories. Gegenwärtig hat er seine Berufstätigkeit zu Gunsten einer Elternzeit unterbrochen.

Mit seinem Wissenschaftsroman „Lucy mit c – Eine Reise durch Raum und Zeit“ wurde Niemz zuerst 2005 einem breiteren Publikum bekannt. Das Werk verkaufte sich bis heute mehrere zehntausend Mal und schaffte es sogar auf eine Bestsellerliste. Wie in den früheren Büchern ist es auch in dem neuen Band „Lucys Vermächtnis“ wieder die vom Autor gewählte Kunstfigur Lucy, die in dialogischer und auf größtmögliche Verständlichkeit bedachter Form in jene Grenzfragen von Leben und Tod einführt, die mit der Relativitätstheorie, der Quantenphysik und der Absolutheit der Lichtgeschwindigkeit verbunden sind. Dabei werden erneut jene für alle Glaubensvorstellungen grundlegenden natürlichen Vorgegebenheiten herausgearbeitet, die für rational denkende Menschen nachvollziehbar sind. Einzelne Aussagen auch des vorausgehenden Bandes „Lucy im Licht“ werden in dem neuen Werk präzisiert und verschiedentlich auch korrigiert. Die mit dem Begriff „Ewigkeit“ verbundene Zeitvorstellung wird verändert („frühere Fehler“ bittet der Autor „zu verzeihen“), und es wird unterstrichen, dass Sterben vor allem „Loslassen vom Ich“ bedeutet und es nach dem Tod kein „Leben“ mehr gibt.

An entscheidender Stelle unterscheidet sich Niemz markant von einer in der gegenwärtigen Theologie gültigen Übereinkunft. Er übernimmt nicht die verbreitete „Ganztodtheorie“, die unterstreicht, dass mit dem Tod alles aus sei und dass von allem, was darüber hinausgehe, gar nicht oder nur metaphorisch geredet werden könne. Die Auffassung, dass Tod als ein radikales Ende zu verstehen ist, setzte sich in der Theologie ab Mitte des 20. Jahrhunderts weithin durch. Sie trat an die Stelle der von der christlichen Tradition über Jahrhunderte vertretenen spezifischen Aussagen über den Glauben an ein himmlisches Jenseits. Der Kirchenvater Augustin hatte im 4. Jahrhundert – beeinflusst von Platons Philosophie – den Glauben an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod unterstützt und ihr einen Platz in der göttlichen Welt reserviert. Die mittelalterliche Scholastik und die Glaubensmystik vieler Jahrhunderte folgten ihm darin mit zum Teil überaus konkreten Bildern. Bis in die Neuzeit gehörte es zu den christlichen Populärvorstellungen, ein Jenseits als Fortsetzung des Diesseits zu denken. Erst in der jüngeren westeuropäischen Theologie wurde im Rahmen eines gewaltigen Paradigmenwechsel ein Wandel vollzogen und für die christliche Hoffnung kein jenseitiger Himmel mehr ausgemalt. Theologie darf nun nichts mehr über das Jenseits sagen. Solche Aussagen werden als Spekulation gebrandmarkt. Die Frage, was nach dem Tod passiert und ob überhaupt etwas passiert, lässt sich im Diesseits nicht beantworten.

Genau diese Vorstellungen aufgeklärter theologischer Lehre entsprechen nun aber nicht mehr den Erkenntnis- und Erfahrungsprozessen vieler Menschen der Gegenwart. Der Tod wird von ihnen nicht mehr „tabuisiert“, sondern – nicht zuletzt durch Berichte von Nahtoderfahrungen in den Medien – in vielfacher Weise „mystifiziert“. Es gibt so etwas wie eine neue Offenheit für das Jenseits. Gerade die Jungen glauben wieder, was die Alten skeptisch ablehnten. Wenn sie sich mit Gott und den letzten Dingen beschäftigen, schlägt die Sehnsucht nach Geborgenheit den Zweifel. Sie wollen doch an einen Himmel glauben.

Jörg Zink und ähnlich Heinz Zahrnt haben in diesem Zusammenhang zuletzt verdeutlicht, wie sehr die Erfahrungen der Gläubigen einer Zeit jeweils den Grund und Boden einer kontextuell verwurzelten Theologie bilden. Es erscheint gegenwärtig unumgänglich, dass wir auch für die kirchliche Lehre von Gott und den letzten Dingen eine neue Sprache finden. Niemz’ Überlegungen können der Theologie helfen, sich auf neue Weise den Erkenntnis- und Erfahrungsprozessen von Menschen der Gegenart zu öffnen. Ein dadurch geprägtes Denken wird sich vielleicht von geläufigen Vorstellungen des Christlichen verabschieden, nicht jedoch vom Christentum überhaupt.

In diesem Zusammenhang spielen die auch bei Niemz prominenten Berichte von sogenannten Nahtoderfahrungen eine wichtige Rolle. In „Lucys Vermächtnis“ stehen bekannte Repräsentanten der „Nahtodforschung“ wie zum Beispiel K. Ring, M. Schröter-Kunhardt, S. Parnia, D. G. Waller, R. Yeates, P. Fenwick, P. van Lommel im Hintergrund. Das Thema der „near death experiences“ spielt aber in dem neuen Band nicht mehr die Rolle, die ihm in den vorausgehenden Bänden zukam. Für den Niemz’schen Ansatz einer Zusammenschau verschiedener Wissenschaftsdisziplinen ist es jedoch ein wichtiger Baustein.

Insgesamt kann man es geradezu rasant nennen, wie die Leser mit Einsichten zu physikalischen Größen wie Raum, Zeit, Materie und Licht bekannt gemacht und diese mit Begriffen wie Körper, Seele, Ich, Jenseits und Ewigkeit verbunden werden. Am Ende stehen dann die existenziellen Fragen „Warum bin ich hier?“, „Warum lässt Gott es zu?“ und „Warum lasse ich Gott zu?“ sowie der Versuch einer Antwort auf der Basis der vorangehenden Überlegungen.

Das Buch ist in formaler Hinsicht vorbildlich gestaltet. Das mal links-, mal rechtsbündige Druckbild, luzide Graphiken und das genauestens eingehaltene Zusammenspiel von Fragen, Antworten und Zusammenfassungen vermitteln den Eindruck sorgfältiger Durchdringung des Stoffes und unterstreichen den im Titel bereits anklingenden Eindruck eines „Vermächtnisses“.

So wirft Niemz Fragen auf, die heute viele Menschen bewegen. Dennoch wird er sich in Zukunft deutlicher als bisher der Frage stellen müssen, ob sich die Betrachtungsweisen von Natur- und Geisteswissenschaften in der gewählten eher intuitiven Weise aufeinander beziehen lassen: Wo ist die Beziehung sinnvoll gestaltet, wo gibt es scharfe Trennungslinien, und wo ist von unangemessenen Vermengungen zu sprechen? Von Bedeutung ist aber, dass er auch die Physik in den Kreis theologisch und thanatologisch relevanter Disziplinen einbezieht und ihr Relevanz für Fragen religiöser Orientierung zumisst. Im Blick auf die Nahtodforschung steht im Gespräch mit Niemz wohl noch eine detailliertere Diskussion an. Dabei muss es um Fragen wie die folgenden gehen: Kann man die vermittelten Phänomene so summarisch rezipieren, ohne auf ihre spezifischen Probleme einzugehen? Ist das „klassische Nahtoderlebnis“ nicht ein Mythos, dem eine Fülle abweichender und keineswegs als „schön“ zu beschreibender Berichte an die Seite zu stellen ist? Müssen nicht auch kultur- und kontextbezogene Erlebnisformen stärker berücksichtigt werden?

Deutlich unterscheiden lassen sich die Ausführungen des Autors von populären esoterischen Betrachtungsweisen. Er vertritt nachdrücklich die Auffassung vom nachtodlichen Verschwinden eines individuellen Ichs, eine These, die seine Lesergemeinde – wie jüngste Reaktionen zeigen – keineswegs goutiert. Auch laufen seine Überlegungen nicht einfach auf eine Bestätigung traditioneller Aussagen des christlichen Glaubens hinaus. Es deuten sich Kompatibilitäten für zukünftige interreligiöse Dialoge an. Zunächst aber stellen gewisse Elemente seines Gedankengebäudes eine beträchtliche Herausforderung für den christlichen Glauben dar. So sind etwa die Vorstellung von einem Selbstgericht im Sterbeprozess oder die Aussagen über die Relativität aller Religionen keine Positionen, auf die sich Christen ohne Widerspruch einlassen können.

Leider wird Werner Thiede in seinen Rezensionen der beiden ersten Bände (MD 4/2007, 158f, und MD 5/2008, 196f) den Niemz’schen Intentionen nicht gerecht. Er bricht Brücken ab, wo diese gerade gebaut werden müssen. Allerdings sieht Thiede an anderer Stelle (MD 11/2009, 417) zu Recht, dass die Nahtodforschung der Gegenwart „eine noch kaum erkannte, geschweige denn angenommene Herausforderung für Theologie und Kirche“ darstellt. Was Theologen bisher auf diesem Gebiet äußern, nennt Thiede „bestenfalls Einleitungen“.

Markolf Niemz weiß um das Ungewöhnliche und zum Teil Unvollständige seiner Gedanken. Sie bilden nach seiner Auffassung jedoch das für unsere heutige Einsicht „schlüssigste Weltbild“ und besitzen „logische Eleganz und innere Harmonie“ (9). Wo die vor allem hermeneutisch bestimmten Aussagen traditioneller Kirche und Theologie verhallen, empfinden viele Menschen die von Niemz formulierten Perspektiven als bemerkens- und nachdenkenswert. Der Autor hat damit ein Gespräch angefangen, das von Seiten der Theologie dringend der Fortführung bedarf.


Dieter Becker, Neuendettelsau